Sonntag, 23. Februar 2020

Retro-Review: Substanzielle Zerstörung

[ postmodern | kalt | entmenschlicht | kaputt ]

Es ist seit Ewigkeiten eine unabstreitbare Tatsache, dass die Beschäftigung mit Drogen in der Musik eine der wichtigsten inhaltlichen Säulen darstellt. Schon seitdem die Idee des Archetyps Rockstar (das Rock ist dabei beliebig austauschbar) in die Welt gesetzt wurde, wird diese auch unmittelbar mit rauschbezwecktem Substanzkonsum in Verbindung gebracht, und das auf tausend verschiedene Arten. Angefangen beim Blues und beim psychedelischen Lucy in the Sky with Diamonds-Tingeltangel der späten British Invasion über Rasta-Reggae und die koksversifften Achtziger bishin zur Techno-Bewegung und den Hustensaft-Rappern von heute ist das gleiche Klischee über die Jahre in immer neuen Formen aufgetreten und neben Sex und Rock'n'Roll nicht umsonst Teil der heiligen Dreifaltigkeit des Pop. Und natürlich ist so ein Thema bei mir am Ende vor allem als Inspirationspunkt für viele musikalische Unternehmungen diverser Ausprägung interessant, mitunter sogar als Impulsgeber ganzer Alben. Ich rede hier aber nicht von den Kreativitätsschüben, die ein David Bowie durch die Einnahme rauher Mengen Kokain angeblich verspürte, sondern tatsächlich über Projekte, die sich auf konzeptuelle Weise mit dem Thema Drogen auseinandersetzen. Platten wie Dopesmoker von Sleep, Atrocity Exhibition von Danny Brown oder indirekt auch Sachen wie Niandra LaDes & Usually Just A T-Shirt von John Frusciante. Musik eben, die ein Gefühl kommuniziert, das mit der Substanz in Verbindung steht und im besten Fall auch das Drumherum einfängt. Dass der Großteil solcher Alben dann eher wenig blumig ausfällt und mir manche davon sogar echt Angst machen können, macht sie dabei als künstlerisches Dokument meistens noch wertvoller. Und eines der besten Beispiele für so ein Dokument ist in meinen Augen die dritte LP von den Einstürzenden Neubauten, die auch 35 Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch ein ziemlich krasses Statement in diese Richtung ist. Vor allem, weil sie sehr effektiv die hässlichen Seiten der rock'n'rolligen Rauscherfahrung beschreibt. Nominell befasst sie sich dabei vor allem mit der Droge Speed, die quasi sämtliche Mitglieder der Band in den frühen Achtzigern exzessiv konsumierten, praktisch gesehen könnte es hier aber um so gut wie jede Substanz gehen. Denn was in den Songs so treffend beschrieben wird, ist vor allem die grausige Spirale von Kicks, Abhängigkeit und Verfall, die mit dem grenzgängerischen Lifestyle einhergehen, den die Band damals lebte. Wobei eine solche Auseinandersetzung immer auch ein bisschen autobiografisch ist. Dass jemand wie Blixa Bargeld nicht zur harmonischen Verklärung von Zuständen neigt, sollte ja eigentlich kein Geheimnis sein, dennoch ist die kränkelnde, expressive Poesie, die er hier findet ganz besonders passend, um sein Innenleben im Rausch zu beschreiben. Und das sowohl in metaphorischer als auch in wahrhaftiger Hinsicht, denn viele Texte hier sind tatsächlich sehr physisch. Äußerst bildhaft wird in den acht Tracks der Verfall des eigenen Organismus, das Delirium der ewigen Wachphasen sowie die Anspannung des Entzugs dargestellt, sodass man sich teilweise fühlt wie im Körper des Protagonisten selbst, der im Laufe des Albums mehr oder weniger stringent die Stationen eines Trips durchläuft. Yü-Gung (Fütter mein Ego) beginnt dabei mit der vereinnahmenden Hybris des Rauschs und ist musikalisch das Neubauten-Äquivalent eines Partysongs, der in Z.N.S. und Trinklied zum höllischen Exzess wird. Sehnsucht kippt diese Stimmung in die depressive Betaphase und den Schmerz des Entzugs, bevor Der Tod ist ein Dandy später den Zusammenbruch des Organismus anreißt und mit Letztes Biest (am Himmel) am Ende doch noch die Rückkehr in die verkaterte Restrealität kommt. Die Ästhetik der Texte ist dabei fast vollständig entmenschlicht und vom Wahnsinn durchwirkt, was sich natürlich auch in der Musik wiederspiegelt. Nach den komplett formlosen ersten beiden Neubauten-Platten Kollaps und Zeichnungen des Patienten O.T. ist Halber Mensch mit seinem zumindest erkennbaren Songwriting zwar sowas wie die "Pop-Variante" des Kollektivs, doch natürlich ist auch das noch weit entfernt von Konventionalität. Das Instrumentarium der Berliner besteht im wesentlichen weiterhin aus Dingen, die man im eher bei Hornbach als bei Thomann findet und die stilistische Bezeichung Industrial ist hier im Sinne von Maschinenmusik durchaus wörtlich zu nehmen. Neu ist hier der umfassende Einsatz von Synthesizern sowie einiger Sampling-Techniken, die Mitte der Achtziger tatsächlich noch zur Hardware der Avantgarde gehörten. Mit Gareth Jones produzierte die Platte außerdem der spätere Haus- und Hofproduzent von Depeche Mode, der hier für einen ziemlich sauberen und fetten Sound sorgt. Durch sein zutun klingt Halber Mensch so großartig detailliert und ordentlich, trotz aller Stilbrüche und wilden Experimente und hebt die Einstürzenden Neubauten klanglich tatsächlich aus ihrem Dasein als Band heraus, die einfach nur Lärm macht. Im Nachhinein betrachtet ist diese LP damit eine unglaublich wichtige für die Berliner, da sie nicht nur den Zeitgeist und die Biografien der Mitglieder einfängt, sondern sie auch die große künstlerische Kraft aufzeigt, die sie in ihrer späteren Karriere massieren sollten. Auf Halber Mensch zeigt sich, dass diese Formation eben nicht nur zur archaischen Provokation gut ist, sondern ebenso gut ein lyrischen Konzept tragen, halbwegs strukturierte Songs schreiben und sich stilistisch erweitern kann. Tatsächlich ist das hier auch eine der wenigen Platten, bei der ich ausdrücklich zur Anschaffung einer Deluxe-Version rate, da es darauf außerdem noch den großartigen Noise-Neunminüter Das Schaben sowie ein Cover von Lee Hazlewoods Sand gibt, die nochmal zusätzliche Vielfalt in das Album bringen und es klanglich ziemlich stimmig abrunden. Sowohl mit als auch ohne Bonustracks ist das hier aber ein musikalisches Statement, das für mich ein sehr besonderes ist und mich seit Jahren immer wieder beeindruckt. Ich bin manchmal noch vorsichtig, es als eines meiner absoluten ewigen Lieblingsalben zu bezeichnen, weil es mich manchmal doch überfordert oder mich künstlerisch noch immer vor Rätsel stellt. Ganz zu schweigen davon, dass das hier ganz sicher keine Platte ist, die sich gut zum nebenbei dudeln eignet, weswegen ich sie doch eher selten höre. Wenn ich aber wirklich mal in der Materie bin und mir damit Zeit gebe, begeistert mich Halber Mensch jedes Mal mehr und gibt mir unglaublich viel zum erforschen. Weshalb ich auch unbedingt mal diesen Artikel schreiben wollte. Weil das hier ein Album ist, das mich sehr beschäftigt. Und es ganz sicher auch noch eine Weile tun wird.



Klingt ein bisschen wie
Suicide
Suicide

Scott Walker
Bish Bosch

Persönliche Höhepunkte
Halber Mensch | Yü-Gung (Fütter mein Ego) | Z.N.S. | Seele brennt | Sehnsucht (Zitternd) | Der Tod ist ein Dandy | Letztes Biest (am Himmel) | Das Schaben | Sand

Nicht mein Fall
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