Dienstag, 11. Februar 2020

Möwen, MJ, mein Bruder und ich

[ langatmig | textfokussiert | ätherisch ]

Dass Mark Kozelek einer meiner absoluten Lieblingskünstler der vergangenen Dekade ist, brauche ich an dieser Stelle sicherlich nicht nochmal zu betonen. Die Fakten sprechen ja für sich: Seit inzwischen 2017 ist er jedes Jahr mit mindestens einer Platte unter meinen saisonalen Favoriten vertreten, zwei davon landeten vor kurzem auch in meiner Liste der Lieblingsalben des Jahrzehnts und auch mit inzwischen gefühlt 200 Veröffentlichungen innerhalb seiner jüngsten stilistischen Phase (Sprich die Songs, auf denen er Stream-of-Consciousness-mäßig minutenlang über spärliche Begleitung monologisiert, that kinda stuff) werde ich nicht müde, ihn dafür immer wieder zu hofieren. Und auch wenn die besagte Dekade vor zwei Monaten endete, wird sich daran bei mir und bei ihm vorraussichtlich nichts ändern. So wie es im Moment aussieht, könnte Kozelek ruhig das komplette nächste Jahrhundert genau diese Art von Songs schreiben, ich wäre trotzdem begeistert und fände das alles ziemlich sicher nicht langweilig. Im Gegenteil: Ich bin mittlerweile sogar an einem Punkt angekommen, wo es mich nicht mehr verschreckt, dass der Songwriter in seinen Ausführungen immer kleinlicher und meta-fixierter wird, sondern meine Begeisterung sogar noch anregt. Weswegen auch diese neue LP, seine erste im neuen Jahrzehnt, für mich natürlich wieder von großem Interesse ist. Wie der Name schon sagt handelt es sich dabei um eine der fortlaufenden Kollaborationen, die Kozelek seit einigen Jahren mit diversen Künstler*innen führt. Ben Boye und Jim White, beide Mitglieder der großartigen Instrumentalrockband Dirty Three, sind dabei das zweite Mal dabei (auch das eigentlich selbsterklärend). Ihre erste, ebenfalls selbstbetitelte Zusammenarbeit erschien 2017 und war eine durchaus anregende Platte, die damals aber in der buchstäblichen Flut neuer Kozelek- und Sun Kil Moon-Platten ein bisschen unterging. Ähnlich wie bei Sun Kil Moon trat der Künstler hier als eine Art Bandleader auf, der einen für seine Verhältnisse sehr rockigen Sound kuratierte, zu denen er dann seine gewohnten Lamenti verfasste. Doch ähnlich wie bereits bei seinen Kollaborationen mit Jesu waren diese keine festgelegten stilistischen Grenzen, sondern eher momentane Stimmungen, die nicht unbedingt viel über die Ästhetik der nächsten Platte aussagen müssen. Und ähnlich wie bei Jesu brauchte es auch hier erst ein zweites Album, um die Chemie zwischen den Musikern in die optimale Balance zu bringen. Musikalisch ist das, was Ben Boye und Jim White hier fabrizieren, wahrscheinlich das beste klangliche Grundgerüst, das Kozelek seit langem bearbeitet hat und nach einer Reihe von Platten, in denen die Begleitung sukzessive immer bedeutungsloser wurde, macht sie hier erstmals wieder einen wesentlichen Teil aus. Klar liegt der songwriterische Fokus des ganzen weiterhin auf den Texten und ein bombastisches Sound-Feuerwerk braucht man hier nicht zu erwarten, doch im Rahmen der Möglichkeiten sind die drei diesmal sehr kreativ. An vielen Stellen ist dieses Album verhältnismäßig melodisch, instrumental vielfältig und insbesondere in Sachen Backing Vocals einigermaßen kreativ. Dass manche Songs auf Klavier- statt Gitarrenmotiven basieren, macht das ganze zusätzlich spannend. Sie sind letztendlich der Faktor, der auf diesem Album den Unterschied macht, der Rest besteht im wesentlichen aus den gewohnten Stärken des Hosts. Mit gerade Mal sieben Songs kommt auch diese LP wieder auf eine Länge von knapp 80 Minuten, wobei hier unter zehn Minuten pro Song fast gar nichts mehr läuft. Die Themen sind dabei wie gewohnt sehr willkürlich. Es geht um Tourtermine in Neuseeland, Taxifahrten in New York, Krankenhausaufenthalte, Diskussionen mit Hotelpersonal, ein weiteres Mal um Michael Jackson und auch ungewöhnlich viel um Essen. Individuelle Highlights sind dabei unter anderem die ergreifende Geschichte, die Kozelek über das Verhältnis zu seinem Bruder in My Brother Loves Seagulls erzählt, sowie der Song Chard Enchiladas, einer Ode an das selbstgewählte Leid, angelegt an den Beispielen eines schottischen Hundes, eines Fagottspielers und den titelgebenden Mangold-Enchiladas. Glaubt mir, im Kontext des Stücks macht das alles Sinn. Stimmungsmäßig tendieren die Tracks dabei zwischen weird, komisch, melancholisch, herzergreifend und einfach nur erzählerisch und auch innerhalb von Songs springt Kozelek immer wieder zwischen Begebenheiten. Solche Sachen kennt man aber mittlerweile von ihm und sie sind der Punkt, an dem sich prinzipiell die Geister scheiden. Dass ich zu den Personen gehöre, die genau diese lyrische Pedanterie, Willkür und Einfachheit sehr schätzt, könnte man sich an dieser Stelle aber schon gedacht haben. Und so ist das hier in meinen Augen einfach nur ein weiteres sehr solides Projekt dieses fantastischen Songwriters, mit dem er sein unglaubliches Talent zum zigsten Mal in den letzten Jahren zementiert. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass 2020 noch ein besseres oder schöneres Album von ihm erscheint, doch ist das hier ein durchaus nicht zu verachtender Einstieg in eine weitere Dekade mit Märchenonkel Mark.



Klingt ein bisschen wie
Jesu & Sun Kil Moon
30 Seconds to the Decline of Planet Earth

Mount Eerie
Now Only

Persönliche Höhepunkte
LaGuardia | the Artist | Chard Enchilada | My Brother Loves Seagulls | Where's Gilroy? | August Night

Nicht mein Fall
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