Freitag, 21. Februar 2020

Der Mann ohne Eigenschaften

[ seicht | gefällig | fragwürdig ]

Dass Changes dieser Tage das erste Album von Justin Bieber ist, das innerhalb der letzten fünf Jahre erschienen ist, macht vor allem anderen eine Sache sehr deutlich: Für den Kanadier ist es schon lange nicht mehr die Musik, die ihm im wesentlichen seine Brötchen bezahlt, ganz besonders nicht die eigene. Als Instagram-Ikone, Model, Person des öffentlichen Interesses und gelegentlicher Feature-Gast ist der einstige Teeniestar inzwischen zum popkulturellen Generalisten geworden, die sich im boulevardesken Tagesgeschehen einfach relevant anfühlen, und sei es nur als abschreckende Beispiele. Zehn Jahre nach seinem Durchbruch als Bravo-Schreck ist es immer noch erstaunlich salonfähig, Privat- und Beziehungsleben des Celebritys großzügig durch den Kakao zu ziehen, was für einen ehemaligen Kinderstar, der langsam aber sicher auf die 30 zugeht, schon beeindruckend ist. Wenn man Biebs eines zugute halten kann, dann ist es seine unerbittliche Präsenz in der Medienlandschaft der letzten Dekade und dass er, nachdem er die Hälfte davon keine selbst iniziierte Musik mehr gemacht hat, mit einem neuen Album immer noch mächtig viel Buzz erzeugt. Was mich vor die etwas seltsame Frage stellt, was ich 2020 eigentlich für Erwartungen an diesen Typen habe. Dass ich seine letzte Platte Purpose anscheinend ein bisschen mochte, sagt mir der Artikel, den ich 2015 darüber schrieb und ja, aus diese Zeit gab es seine bisher besten Songs. Doch fühlt sich das alles mittlerweile so weit weg an, dass ich daraus keinerlei Aussage ziehen kann und wenn ich an die letzten Jahre denke, gab es praktisch keine (musikalische!) Aktion des Kanadiers, an die ich mich wirklich lebhaft erinnere. Wo er in seiner Frühphase wenigstens noch nervige Ohrwürmer hatte, sind seine Songs ab der letzten LP in meiner Erinnerung quasi nicht mehr vorhanden. Und am Ende ist das vielleicht auch das treffendste, was ich über seinen Output seitdem sagen kann: Künstlerisch ist Justin Bieber ein Mann ohne Eigenschaften geworden. Features mit ihm lohnen sich deshalb, weil man mit seinem Namen im Track mehr Streams generieren lassen, sodass es egal ist, was er darauf eigentlich macht und, weshalb er am besten garnicht so viel macht. Und für Changes scheint in vielerlei Hinsicht das gleiche zu gelten. Zwar vermarktete sich die Platte im Vornherein als eine Art von persönlichem R'n'B-Seelenstriptease, auf dem der Künstler sich emotional nackt und ehrlich zeigt, doch wenn dem wirklich so ist, hat der arme Typ allem Anschein nach tatsächlich nicht den Hauch von Charakter. Denn was man auf diesen 51 Minuten hört, sind nicht mehr als vorsichtige Allgemeinplätze darüber, wie viel besser und angekommen er sich inzwischen in seinem Leben fühlt (viele davon in Bezug auf seine Ehe) und die Light-Version der musiktherapeuthischen Aufarbeitung, die im Moment so ziemlich jeder Popstar einmal machen muss. Die große Farce dabei ist, dass es sich hier tatsächlich anfühlt, als würde Bieber das nicht aus ernsthaften Motiven tun, sondern weil es gerade so cool ist. Und die "Beichten" und "Zugeständnisse" die er hier tätigt, sind dann auch nicht selten eher cringy, bisweilen sogar ein bisschen gruselig-Fuckboy-mäßig. Musikalisch ist das ganze ebenfalls maximal dröge und stinkt in Sachen kompositorischer Action sogar gegen das schon sehr schläfrige Purpose ab. Einige Songs sind akustische Balladen, auf anderen gibt es R'n'B-Trap oder soften Soul, so gut wie alle klingen aber sehr gleichförmig und monoton. Mit Leuten wie Post Malone, Kehlani, Quavo und Travis Scott trägt auch die Feature-Liste so gut wie nichts zur Vielschichtigkeit der Platte bei, bis auf den Gastpart in Running Over, wo ausgerechnet Lil Dicky den besten Part rappt, den ich von ihm je gehört habe. Zu allem übel kommt hinzu, dass Bieber mit jedem Album ein mieserer Sänger wird und hier nicht mal mehr versucht, dynamisch oder gar emotional zu performen. Addiert man das alles zusammen, ist Changes unterm Strich eine gute Stunde völlig lahmarschiger, zäher, zahnloser Songs, die absolut nichts zum musikalischen Charakter Justin Bieber hinzufügen und den Einprägsamkeits- und Unterhaltungsfaktor eines Telefonbuchs haben. Für die Marketing-Abteilung ist das gut, denn die Platte stößt künstlerisch nicht an und die Streams kriegt sie am Ende trotzdem. Und wenn nicht ist es auch halb so wild, weil die Musik für diesen Kerl eh nur noch eine Art Alibi-Funktion erfüllt. Kreativ gesehen ist sowas aber ziemlich ekelhaft und es macht mich traurig über die Art und Weise, wie das Business mittlerweile funktioniert. Und dass es das für Justin Bieber wahrscheinlich noch eine Weile tun wird.



Klingt ein bisschen wie
the Weeknd
My Dear Melancholy

Ariana Grande
Sweetener

Persönliche Höhepunkte
Running Over | Second Emotion | Get Me

Nicht mein Fall
Intentions | Yummy | Take It Out On Me | E.T.A. | That's What Love Is

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