Samstag, 1. Februar 2020

Meine Lieblingsplatten 1962


1962 gilt musikhistorisch sehr gerne als das Jahr, in dem es für die moderne Popmusik das erste Mal so richtig spannend wurde: Das legendäre Debüt von Bob Dylan sowie die Folk Songs von Woody Guthrie (zu sehen im oberen Bild) werden von den Generationen der Zukunft zur kompositorischen Revolution ausgerufen und so getan, als wäre das alles damals omnipräsent gewesen. Die Wahrheit sieht aber so aus, dass es sich bei diesen aufkeimenden Strömungen um nicht mehr als Nischenbewegungen handelte, die ihre Blüte noch vor sich hatten. Wer 1962 ernst genommen werden wollte, spielte am besten nach wie vor Jazz oder Blues, alles andere war reines Entertainment und nicht selten sogar sehr klamaukig. Selbst im Soul erlebt man hier spätere emanzipatorische Größen wie Nina Simone oder Aretha Franklin noch als brave Popstars, die Schunkelmusik übers Verliebtsein singen und wenige Alleinstellungsmerkmale haben. Die große Revolution Rockmusik brodelt hier nicht unter der Oberfläche, sie muss sich selbst erst noch finden. Der King Elvis Presley verdient sich eine goldene Nase in billugen Strandparty-Filmen, die Beach Boys sind noch nicht mal grün hinter den Ohren und Johnny Cash macht Kirchenmusik. Von der Revolte der British Invasion und der Anti-Vietnam-Bewegung ist man 1962 gefühlt noch Meilenweit entfernt. Was währenddessen an den anderen Pop-Baustellen passiert, ist aber allerdings auch nicht unspannend: Aus den letzten Atemzügen der Do-Wop-Bewegung treten einige große Talente wie Roy Orbison oder Ben E. King hervor, die fantastische Pop-Platten schreiben, Blues erlebt seine kommerziell vielleicht wichtigste Phase, an der Westküste Amerikas entwickelt sich Surf als erstes veritables Teenie-Phänomen der Sechziger und auch im Jazz werden nach wie vor große Gewichte gehoben: Produktiv wie eh und je veröffentlichen Künstler wie John Coltrane, Miles Davis und Bill Evans einen modernen Klassiker nach dem anderen und mit den Samba- und Bossa Nova-Trends aus Südamerika schwappt eine ungeahnte Welle an Einflüssen in die Staaten, die in den folgenden Jahren noch richtig interessant wird. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, in der alles nochmal den Höhepunkt des konservativen erreicht, bevor es wenig später aufbricht und Platz für neues Macht. Und auch das kann mitunter spannend klingen. Hier sind zehn Alben aus jener Saison, die das meiner Meinung nach ganz besonders tun:



10. AHMAD JAMAL
All of You
Für Miles Davis war der Pianist Ahmad Jamal eines der größten Idole überhaupt und auf einer Platte wie All of You zeigt sich eindrucksvoll, wieso. Wie kaum jemand sonst beherrscht dieser Musiker sein Instrument und schafft es mit Leichtigkeit, den Tasten unzählige Nuancen zu entlocken und binnen Sekunden von einer Stimmung in die andere zu wechseln. Es ist unfassbar, dass er auf All of You lediglich mit Schlagzeug- und Bassbegleitung zu hören ist, denn von den Klangfarben her könnte das hier locker die Arbeit eines Quintetts sein. Was nur eine Sache ist, die er mit Davis gemeinsam hat.




09. MILT JACKSON & WES MONTGOMERY
Bags Meets Wes!
Mit Milt Jackson am Vibraphon und Wes Montgomery an der Gitarre kommen auf Bags Meets Wes! zwei eher exotische Instrumentalisten des Modern Jazz zusammen, die hier aber gerade deswegen eine sehr spannende Platte aufnehmen. Dem aufgedunsenen Klischee der damals üblichen Quintett-Besetzung fügen die beiden hier einen sehr erfrischenden und leichten Twist bei, der am Ende zwar auch durch Drums, Piano und Bass zum Fünf-Mann-Projekt erweitert wird, durch die eigenwilligen Instrumentals aber nicht die klangliche Schwere der meisten Alben dieser Zeit besitzt.



08. BEN E. KING
Don't Play That Song!
Gerne wird das dritte und einzige weithin bekannte Album von Ben E. King auf seinen darauf enthaltenen Mega-Klassiker Stand By Me reduziert, der weiß Gott auch einer der besten Songs aller Zeiten ist. Was hier allerdings drumherum passiert, ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen und eines der schönsten Exemplare für den frischen Wind an Popmusik, die damals zwischen Do-Wop, Rock'n'Roll und Soul ihren Platz fand. Ein Album voller wunderbar komponierter Riesenhits, die zwar nicht alle Stand By Me hätten sein können, aber in dessen Gesellschaft zumindest nicht verblassen und ihren Interpreten als One Hit-Wonder bestätigen, das eigentlich keins hätte sein dürfen.



07. JOHN LEE HOOKER
Burnin'
Burnin' von John Lee Hooker ist heute einer der wesentlichen Klassiker des dick aufgetragenen Mainstream-Blues aus den frühen Sechzigern und das definitiv nicht ohne Grund. Der tiefe, seelenvolle Klang des Albums ist hier so fett wie selten irgendwo und gibt dem rohen Talent dieses Künstlers die opulente Aufmachung eines Pop-Projekts mit mächtig Zinnober und guter Produktion. Zwar bleibt der kleine Bruder Travelin' für mich die kompositorisch bessere LP, doch das hier fühlt sich einfach irgendwie größer an. Nach einem Klassiker eben.





06. THE BILL EVANS TRIO
Moon Beams
Eine der zartesten, impressivsten und behutsamsten Jazz-Platten, die ich je gehört habe und klanglich so minimalistisch, dass sie fast schon Ähnlichkeit mit klassischen Klaviersonaten hat. Mit nicht mehr als Schlagzeug, Bass und einem unglaublich klangvollen Piano im kompositorischen Zentrum zaubert Bill Evans hier eine instrumentale Träumerei zusammen, die zu den besten Klavier-Alben gehören dürfte, die ich je gehört habe und definitiv ein Highlight in der Diskografie dises Songwriters ist.






05. WES MONTGOMERY
Full House
Das volle Haus ist hier wahrscheinlich wörtlich zu nehmen, denn diese LP gehört zur Reihe von wunderbaren Live-Aufnahmen aus legendären Jazzclubs der damaligen Zeit, die ich an dieser Stelle schon häufiger hofiert habe. Und gerade jemand wie Wes Montgomery ist in dieser Hinsicht äußerst spannend, weil er sich spätestens hier als einer der ganz großen Jazz-Gitarristen outet, der vor Publikum nochmal extra viel zaubert und gniedelt. Auch deshalb ein persönlicher Liebling, weil diese LP auch 60 Jahre später mit einer grandiosen Aufnahmequalität glänzt.





04. ROY ORBISON
Crying
Unter den bekannten Vertreter*innen des populären Konsenspop der frühen Sechziger ist Roy Orbison noch immer eine äußerst spannende Anomalie, da seine Musik eigentlich so gar nicht ins damalige Entertainment-Schema passt. Statt tanzbarer Teenie-Hits machte er mehr oder weniger das, was man heute als Emo-Musik bezeichnen würde und legte sich als Popstar das Image der notorischen Heulsuse zu. Was er in dieser Funktion jedoch schafft, ist eine Form von eigenwilligem Soul, die sich auch heute noch immer sehr ehrlich empfunden anhört und im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen kein bisschen aufgesetzt klingt. Was anscheinend dafür spricht, dass Sad Boys und -Girls* schon immer eine relevante Zielgruppe waren.


03. ART BLAKEY & THE JAZZ MESSENGERS
Mosaic
Wahrscheinlich eines der actionreichsten Jazz-Alben der frühen Sechziger, was auch kein Wunder ist, wenn man sich mal das Personal darauf ansieht. Neben Bandleader Art Blakey spielen hier mit Curtis Fuller, Freddie Hubbard und Wayne Shorter einige meiner Lieblings-Jazzmusiker überhaupt mit, die sich auf dieser LP in einem Affentempo die großartigsten Motive zuwerfen und eine jener Platten machen, auf denen die viele Technik echt mal spaßig ist und nicht in endloser Gniedelei ausartet. Womöglich die beste Platte, die die Jazz Messengers je gemacht haben und mit Sicherheit die allerbeste Besetzung, die die Gruppe je hatte.


02. BOBBY BLAND
Here's the Man!!!
Unter den 1962 teils noch sehr zahmen Soul-Musiker*innen der Prä-Motown-Generation war Bobby Bland einer von denen, die sich trauten, performativ gerne mal etwas derber zu werden und der stilistischen Bezeichnung tatsächlich eine gewisse Rechtfertigung verliehen. Sein zweites Album Here's the Man!!! ist dafür exemplarisch und zeigt eindrucksvoll, wieso Bland damals der programmatische Beiname "Dynamic Bobby" verpasst wurde. Eine großartige Palette genialer Blues- und Soul-Stimmungen, die mindestens mit dem besten Output eines Ray Charles und James Brown zu dieser Zeit mithalten. Leider nur musikalisch und eher nicht in Bezug auf Bekanntheit.



01. MONICA ZETTERLUND
Ahh! Monica!
Mein Lieblingsalbum des Jahres 1962 ist am Ende mal wieder eine Wildcard und für die meisten wahrscheinlich eine Platte, die mehr als ein bisschen nerdig rüberkommt. Eine schwedische Swing-Diva, die in Landenssprache Big Band-Versionen von Ray Charles und Dave Brubeck spielt und die wahrscheinlich selbst in ihrer Heimat keine Sau mehr kennt? Klingt, komisch, ist es auch ein bisschen. Die Wahrheit ist aber, dass mir von keinem der Alben, die ich für diese Liste gehört habe, eines mit mehr Charakter, mit besseren Arrangements und mit mehr stimmlicher Virtuosität begegnet ist. Zetterlunds rauchiges Timbre ist ein echtes Kleinod und gerade die Tatsache, dass sie dieses mit einer zunächst so unpoetisch wirkenden Sprache wie Schwedisch verbindet, macht das hier auf eine Art speziell und wunderschön. Es ist eine Mutation des Klischees von der großen Diva, und gerade wenn hier Songs wie Take Five oder Hit the Road Jack bearbeitet werden, ist das auf den ersten Blick witzig, aber auch ebenso faszinierend. Und es ist die Platte, zu der ich in dieser Liste am häufigsten zurückgekehrt bin und die ich immer wieder hören wollte. Zum Teil, weil ich es mir selber nicht so richtig glauben wollte, wie sehr ich diese LP mag, zum anderen, weil es auch definitiv so war. Ein ungewöhnliches Lieblingsalbum, aber gerade deshalb ein umso schöneres.

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