Donnerstag, 30. Juli 2020

Meine Gang hat Energie


Die Orsons - Tourlife4life
[ schrill | hedonistisch | komisch ]

Wenn Orsons Island im letzten Sommer eines war, dann das Album, mit dem die Orsons sich endgültig als musikalische Einheit mit fester stilistischer Marschrichtung manifestierten. Wo sie vorher zwar auch schon mal besser waren, fühlten sie sich auf ihren ersten vier Platten doch eher an wie ein wüster Haufen von vier individuell sehr unterschiedlichen Rappern, was sich mit dieser letzten LP plötzlich änderte. Auf Orsons Island klangen die vier Stuttgarter das erste Mal wirklich wie eine Band, die die vielseitigen Talente ihrer einzelnen Mitglieder ineinander verschmelzen lässt, um das fusionierte Gesamtergebnis zu erhalten. Was unter anderem auch zur Folge hatte, dass sie auf diesen Songs erstmals eine unverwechselbare klangliche Ästhetik aufbauten, die ganz eindeutig ihre eigene war. Dass damit unter anderem ein mächtiger Kreativschub einhergeht, ist daher nur logisch. Zumindest verwundert es mich gerade nach einer Platte wie Orsons Island nicht besonders, dass kein Jahr später schon die nächste in den Startlöchern steht, noch dazu mit ähnlichem Packaging und musikalischem Grundaufbau. TourLife4Life ist der verspätete Zwilling seines Vorgängers, das war ziemlich schnell klar. Was in erster Linie natürlich eine gute Nachricht ist, denn es bedeutet, dass die kollektivistische Energie, die die Orsons gerade haben, hier nochmal richtig ausgemolken wurde. Wobei man sich nicht zu früh freuen sollte: So viel Saft wie letztes Jahr ist hier dann doch nicht mehr im Sack. Die vorliegenden 14 Titel bilden ein durchaus ganz okayes Album, das auf jeden Fall seine Stärken hat, aber eben auch ordentliche Defizite. Und dazu gehört auf jeden Fall, dass die intensive Dauerspannung, die Orsons Island hatte, hier nicht mehr da ist. TourLife4Life ist eine lose Sammlung von Songs, die qualitativ eher die zweite Wahl dieser Band darstellen. So gibt es hier zum Beispiel anders als sonst keinen Track, der wirklich als monströse Leadsingle funktioniert. Energie erfüllte diese Aufgabe vor ein paar Wochen mäßig gut, trotzdem ist es noch der fetteste Brocken auf der LP. Abgesehen davon gibt es noch Schüttel dein Skelett oder eher Skit-mäßige Ulknummern wie Schuhwurf3000 oder Mitternachtssnack, die wenigstens ein bisschen brettern, aber Signature-Hits wie ein Grille oder Schwung in die Kiste fehlen diesmal. Ob das Absicht ist oder nicht lässt sich nicht hinreichend klären, schade ist es aber auf jeden Fall. Zumal die Orsons auch nichts wirklich in der Hand haben, das diese Lücke füllt. Verschiedene Ansätze funktionieren mehr oder weniger gut, wobei viele Themen von Orsons Island nochmal etwas verändert aufgegriffen werden. So sind Lovelocks und Staub großartige romantische Songs und am Ende vielleicht die wahren Hits dieser LP, Leb schnell, Große Freiheit und das Intro greifen die im Titel angeteaserte Tour-Thematik auf und in Oioioiropa wird leider etwas krampfig versucht, einen Song über Reichtum und Privilegien in Europa zu schreiben. Die wenigsten Stücke sind dabei komplette Totalausfälle und selbst die beiden Tracks, die hier bei "Nicht mein Fall" gelistet sind, haben ihre Momente, doch sind fast alle sehr durchwachsen. In so gut wie jedem davon gibt es Rap-technisch sowohl eine geniale Strophe (meistens von Maeckes) und eine ziemlich dämliche (meistens von Tua). Und zwischen all diesen Tendenzen und Ausdividierungen ist TourLife4Life als ganzes am Ende einfach nur ein bisschen mittelmäßig. Es hat genauso seine Bedeutsamkeit wie der Vorgänger und es ist keines dieser Alben, die sich anfühlen, als würde die Band hier nur ihre Restposten abladen, ich könnte mir aber auch kaum vorstellen, dass jemand diese Platte lieber mag als Orsons Island oder What's Goes. Denn wo diese sich durch ihre tollen Spitzen auszeichneten, gibt es hier einfach viel Material, das man schweigend wegnickt. Ein großes Whatever. Und damit vielleicht ein Signal, dass die Luft bei den Orsons erst mal wieder raus ist und sie ein paar Soloprojekte brauchen, um Energie zu sammeln. Was ja zumindest auch nicht die allerschlechteste Aussicht wäre...



Hat was von
Deichkind
Wer sagt denn das?

Bilderbuch
Magic Life

Persönliche Höhepunkte
Energie | Mitternachtssnack | Lovelocks | Staub | Schuhwurf3000 | Schüttel den Skelett

Nicht mein Fall
Freier Fall | Show muss weitergehen

Mittwoch, 29. Juli 2020

Blurred Lines


Bladee - 333
[ sediert | seicht | überzogen ]

Der Punkt, an dem ich mich um einen Artikel über Bladee hätte herumdrücken können, ist eigentlich schon seit dem Ende des letzten Jahres vorbei und dass ich irgendwann mal über die Musik dieses Typen würde schreiben müssen, ist mir in den letzten Monaten unangenehm klarer geworden. Stand 2020 ist der Musiker aus Berlin, der vor einigen Jahren noch als ulkiges Spinoff auf Yung Leans YEAR0001-Label startete, nicht nur wesentlich bekannter als sein Boss geworden, sondern tatsächlich so etwas wie die Stilikone einer ganz neuen Ästhetik von Cloudrap, die nicht nur in Europa gut ankommt. Diese zu beschreiben, ist eigentlich gar nicht so schwer: Was Bladee musikalisch macht, nimmt die klassische Formel des europäischen Sad Boy-Raps, kombiniert diese mit ein paar Elementen aus Bubblegum Bass und R'n'B, um am Ende dann wie die eine Art billige 4Chan-Version von the Weeknd und Dorian Electra zu klingen. Und wenn man ein bisschen weiß, was ich von den einzelnen Ingridentien dieser Subgenres halte, kann man sich vorstellen, dass diese Art von stilistischer Aufhäufung bei mir nicht unbedingt Freudensprünge auslöst. Im Gegenteil: Lange Zeit empfand ich Bladee als einen ziemlich nervigen Post-Cloud-Hampelmann, den man um Gottes Willen nicht zu ernst nehmen durfte, weil er sonst noch Fans bekäme. Unglücklicherweise ist genau das passiert und der Schwede jetzt einer der Musiker, über die man irgendwie reden muss. Zum Glück fange ich damit zu einem Zeitpunkt an, an dem er sich anscheinend entschieden hat, halbwegs ernsthafte Musik zu machen. Oder zumindest ist das der Eindruck, den ich von seiner neuesten LP 333 bekomme. Die bisherigen Platten, die ich mir von Bladee angehört habe (viele waren es nicht) wirkten auf mich einfach nur so, als ob jemand versuchen würde, kommerzielle Musik mit dem wenigsten Maß an Aufwand, Selbstbeherrschung und Attitüde zu machen und zum Teil fühlte sich vieles davon schon wie Trolling an, so dermaßen affig klang es. Und natürlich begreife ich, dass dies zu einem großen Teil zum Zweck einer psychedelischen Ästhetik passierte, doch schaffte es dabei keines seiner Alben, auch nur ein Mindestmaß an Spannung aufzubauen. Alles schlabberte und schlurfte nur vor sich hin, was ihn von Leuten wie 070 Shake oder Porches unterschied, die mit einer ähnlichen Attitüde tolle Musik machen. Und obwohl auch 333 an diesem Punkt noch lange nicht angekommen ist, ist es doch zumindest der Schritt in die richtige Richtung. Vordergründig die Entscheidung dazu, es vielleicht mal mit etwas Songwriting oder mit ansprechender Produktion zu versuchen. Die Ergebnisse sprechen auf jeden Fall für sich. Es macht schon einen gewaltigen Unterschied, dass man im Intro von Wings in Motion eine Akustikgitarre hört, die direkt ein bisschen die unterirdischen Erwartungen subversiert oder sich in Keys to the City oder Valerie etwas anbahnt, das entfernt an eine Hook erinnert. Etwas, das es den Songs möglich macht, sich auch mal ein kleines bisschen vom jeweils nächsten abzuheben und einen Fünkchen Persönlichkeit zulässt. Dass sich vieles hier dann wieder davon absetzt, hat dann gleich eine viel größere Wirkung. Das ist ja auch irgendwie der Punkt: Bladee muss bei seiner Musik definitiv keine Angst haben, dass er vielleicht zu definiert wirken könnte. Selbst die Tracks hier, die einige seiner Superfans im Netz schon als ambitionierte Prog-Oper abfeiern, sind gerade Mal Kreidestriche in der Welt der verwischten Kanten und verschwurbelt und drogig genug ist der ganze Rest am Ende sowieso noch. Was hier passiert, ist also das Mindestmaß an Struktur und ein Anfang, nicht das Maximum. Trotzdem ist es am Ende erstaunlich, was so ein bisschen Grobschliff alles ausmachen kann. Besonders im Mixing tun sich viele kleine Momente auf, in denen ein Stück durch ein wenig mehr Bass und dynamische Lautstärkeregelung ziemlich viel gewinnt. Ein High-End-Produkt ist 333 deshalb nicht gleich, aber es passt zur Ästhetik. In den besten Momenten fühle ich mich dabei an die ganz alten Mixtape-Sachen von Leuten wie LGoony oder Yung Hurn erinnert, manchmal auch an die Pionierarbeit von Yung Lean. Allerdings meistens im positiven Sinne und immer in Bezug auf die entsprechenden Entwicklungen außerhalb der Coludrap-Bubble. Was heißt, dass hier genauso auch ein bisschen Aaron Maine und 100 Gecs drinsteckt. Insofern ist es auf jeden Fall zeitgemäß, aber das war Bladee schon immer. Die Neuigkeit ist, dass es inzwischen langsam hörbar wird.


Hat was von
A.G. Cook
Nu Jack Swung

Porches
Ricky Music

Persönliche Höhepunkte
Wings in Motion | Keys to the City | Hero of My Story 3style3 | 100s | Noblest Strive | Finder | Extasia | Only One | Swan Lake

Nicht mein Fall
Innocent of All Things | Oh Well

Dienstag, 28. Juli 2020

Ein stiller Stern


[ ätherisch | getragen | mächtig ]

Ganz heimlich ist in den letzten zehn Jahren aus Julianna Barwick, einer recht unscheinbaren Newcomerin im Bereich des Ambient Pop, eine der Künstlerinnen mit dem besten Ruf in der gesamten Szene geworden. Nicht, dass es im Bereich der ewigen Leisetreterei und der verhuschten Figuren jemals große Shooting Stars gegeben hätte (außer Brian Eno), doch im Gegensatz zu Leuten wie Tim Hecker, Liz Harris oder Nicolas Jaar, die in den richtigen Kreisen wenigstens noch geläufige Namen sind, ist Barwick immer diejenige gewesen, die alle mögen, aber über die niemand redet. Mit the Magic Place von 2011 und Nephente von 2013 hat die New Yorkerin während der letzten Dekade gleich zwei echte Fanfavoriten veröffentlicht, bei denen die Bezeichung "Geheimtipp" nur relativ zählt und die ihre Lorbeeren absolut verdienen. Nur machte sich die Künstlerin danach plötzlich sehr rar und abgesehen vom 2016 veröffentlichten Will gab es für eine Weile erstmal nichts von ihr. Was Healing is A Miracle jetzt irgendwie wie eine kleine Rückkehr erscheinen lässt, denn zumindest ich hatte in den vergangenen Jahren trotz meiner Verehrung ein bisschen vergessen, dass Barwick überhaupt noch Musik macht. Aber keine Sorge: Bei wenigen Platten ist es dieses Jahr so einfach gewesen, sich wieder komplett in die Ästhetik einer etwas entfremdeten Künstlerin fallen zu lassen. Der Vorteil an Barwicks Musik war ja schon immer, dass diese zwar eindeutig experimentell und verkunstet war, aber deswegen nie schwer zugänglich. Ihre Platten waren die Sorte Ambient Pop, die sich wie warme Kissen um die Ohren legen und in denen man einlullendes Meeresrauschen hört. Und Healing is A Miracle kehrt an vielen Stellen an diesen magischen Sehnsuchtsort zurück. Die acht Stücke hier klingen nach Natur, nach Wildnis, nach Ruhe und auch ein bisschen nach Geborgenheit und ja, auch hier ist dafür wieder ein gewisser Hang Barwicks zu den Stilelementen des New Age verantwortlich. Das wesentlichste Mittel hier ist aber diesmal vor allem die Stimme der Künstlerin, mit der sie fast die kompletten Aufbauten dieser mitunter doch recht gewaltigen Songs stämmt. Mit den vielen Hall- und Echo-Effekten und eventuell sogar mit Autotune spannt sie dabei eine imposante Atmosphärik auf, die ein bisschen klingt wie Justin Vernon, wenn er keine Texte mehr schreiben würde. Dazu gibt es dann minimalistische Motive von Klavier oder Synthesizer, als ganz kleine Nuancen sogar Harfen und Flöten. Und wenn das noch nicht reicht, sind mit Mary Lattimore, Jónsi und Nosaj Thing auch drei weitere begnadete VokalistInnen mit am Start. Der Selling Point des Albums ist dabei am Ende denkbar einfach: Es klingt in jeder Sekunde wunderschön. Selbst wenn man die Musik von Julianna Barwick schon kennt und ihre alten Platten liebt, ist das hier nicht selten nochmal einen Ticken größer und wunderlicher als ihr bisherigen Output, wobei es sich von selbst versteht, dass diese LP natürlich am besten mit ein paar guten Kopfhörern zu konsumieren ist. Womit ich schlussendlich an dem Punkt wäre, der spätestens jetzt nochmal angesprochen gehört: Dieses Album ist sehr gut und das ist bei dieser Künstlerin nicht das erste Mal der Fall. Es wird wahrscheinlich wieder von vielen Menschen gemocht werden. Und wenn das so ist: Bitte, bitte lasst es diesmal die Menschen wissen. Denn diese Musikerin könnte schon lange eine der ganz großen im Business der stillen Schönheit sein, aus irgendeinem Grund ist sie aber immer noch ferner liefen. Es wäre dieser Platte angebracht, wenn sich das ändert. Auch wenn ich selbst erst jetzt damit anfange.


Hat was von
Sarah Neufeld
the Ridge

Bon Iver
i,i

Persönliche Höhepunkte
Inspirit | Healing is A Miracle | In Light | Safe | Flowers | Wishing Well | Nod

Nicht mein Fall
-

Montag, 27. Juli 2020

Hegel auf dem Schlagzeug

[ freiförmig | philosophisch | experimentell ]

Unter allen Gattungen der Jazzmusik ist Free Jazz nicht gerade diejenige, die sich des Rufes erfreut, besondern einfach zugänglich zu sein, und man könnte meinen, vom musikalischen her seien solche Sachen allein schon nerdig genug. Die Musikgeschichte lehrt uns auch, dass es nicht immer unbedingt von Vorteil ist, zwei unterschiedliche Komponenten von Geek-Attitüde miteinander zu verbinden. Aber wenn es danach geht, dann hat Asher Gamedze diesbezüglich wohl einfach das Memo nicht bekommen. Denn mit Dialectic Soul macht er hier mir nichts dir nichts eine der wahrscheinlich verkopftesten und unzugänglichsten Platten der gesamten Saison - klanglich wie konzeptuell. Dabei ist das hier gerade mal sein Debüt als Solokünstler und der Drummer aus Kapstadt Szene-technisch gesehen noch ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt. Letzteres könnte dabei vor allem daran liegen, dass sein Werdegang als Musiker weniger Teil einer Szene war, sondern er vor allem akademisch geschult wurde und er nie zu den coolen Kids gehörte, die in der Band mitspielen, sondern die im Schulorchester sind. Was er dort allerdings gelernt hat, ist nicht nur ein vorzügliches nuanciertes Schlagzeugspiel, sondern auch das Erschaffen theoretischer Überbauten zu seiner Musik. Und Dialectic Soul ist in dieser Hinsicht quasi buchstäblich sein Gesellenstück. Die vorliegenden acht Stücke sind im wahrsten Sinne des Wortes Teil der Masterarbeit von Gamedze, in der er sich vor allem mit der südafrikanischen Jazz-Bewegung auseinandersetzt und damit vor allem den klanglichen Part dieser LP definiert. Weil das Streber-technisch aber bestenfalls Einsteigerniveau ist, baut er um dieses Konzept herum noch eine zweite theoretische Ebene, in der er sich vor allem mit der Dialektik-Theorie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel auseinandersetzt und wie die auf Postkolonialismus, Sklavenhandel und die panafrikanische Widerstandsbewegung anzuwenden ist. Wobei spätestens hier wahrscheinlich alle außer der Maestro selbst ausgestiegen sind. Denn die wesentlichen Mittel, mit denen Gamedze seine Ideen hier kommuniziert, sind erwartbar unlyrisch und kommunizieren sich fast ausschließlich über die Expression der Instrumente. Zwar gibt es ab und zu ein bisschen Gesang und in Interregnum sogar einen gesprochenen Monolog, doch kann ich nicht sagen, dass diese Aspekte für mich irgendwas zum besseren Verständnis beitragen. Und ehrlich gesagt müssen sie das auch gar nicht. Denn Dialectic Soul ist auch dann ein sehr gutes Album, wenn man alle konzeptuellen Elemente von seiner Musik abstreift. Wenn Free Jazz mit der Intensität seiner Performances steht und fällt, dann ist das hier ein sehr gutes Beiepiel für ein sehr treffsicheres Projekt dieser Spielart. Mittelpunkt ist dabei natürlich das immer wieder brechende und holpernde Schlagzeug-Rückenmark des Bandleaders, das spielerisch absolut grandios ist, aber auch der Rest der Gruppe macht einen mehr als guten Job. Ganz im Stil der südafrikanischen Jazz-Tradition ist diese vor allem auf Bläser reduziert und klingt sehr rustikal und breit, doch im Gegensatz zu den artverwandten Konzepten von Shabaka Hutchings oder Melt Yourself Down ist vieles hier wesentlich zurückhaltender und verspielter. Statt dicker Riffs gibt es hier immer wieder kleine Farbtupfer, bei denen man herrlich jede Nuance des Instruments heraushört, was als alternativer klanglicher Ansatz definitiv auch mal interessant ist. Ich will nicht behaupten, dass ich mich mit südafrikanischem Jazz besonders gut auskenne, aber er begegnet mir seit einigen Jahren doch immer häufiger. Und aus der handvoll guten Platten, die ich aus dieser Nische bisher gehört habe, ist das hier nicht nur eines der besten Alben, sondern auch eines, das mal ein bisschen anders an die Sache herangeht. Und da reden wir in diesem Moment gerade nur von der eigentlichen Musik.


Hat was von
Matana Roberts
Coin Coin Chapter Four: Memphis

Max Roach
We Insist! Max Roachs Freedom Now Suite

Persönliche Höhepunkte
State of Emergence Suite | Siyabulela | Interregnum | Eternality

Nicht mein Fall
-

Donnerstag, 23. Juli 2020

Mama braucht Zucker

The Beths - Jump Rope Gazers
[ frisch | schneidig | raffiniert ]

Ich finde das ja inzwischen selber schon ein bisschen ätzend. Immer wieder diese euphorischen Artikel über schnufflige Pseudo-Neunzigerrock-Bands zwischen Garagenrock, Retro-Indie und Emorock zu schreiben, die in den meisten Fällen diese melancholisch-definierten Frontsängerinnen haben und Musik machen, die sommerlich und adoleszent klingt, aber auch irgendwie traurig oder zumindest so quirky-nachdenklich. Denn Musik wie diese ist auf diesem Format nicht erst seit gestern die zuckersüße Seuche. In den Top 20 meiner liebsten Alben der letzten Dekade waren gleich zwei Alben von Alvvays, umfassende Probs bekommen hier regelmäßig Platten von Frankie Cosmos, Press Club oder Snail Mail und was die erste Hälfte von 2020 angeht, hat sich auf meiner Sympathien-Liste das neue Album von Soccer Mommy als echter Aufsteiger erwiesen. Und mittlerweile bekomme ich, was Platten dieser Machart angeht, langsam mehr als ein bisschen das Gefühl, das es zu viel wird. Nicht, weil ich davon genervt bin oder diese Künstler*innen ihren Reiz verlieren, im Gegenteil: Sie werden immer besser. Und ich habe dabei vor allem ein bisschen die Angst, vorhersehbar zu werden. Weshalb ich anfangs so sehr gehofft hatte, diese neue LP von the Beths zu hassen. Oder zumindest, sie nur so mittel zu finden. Aber ich hätte besser wissen sollen, dass diese Hoffnung lächerlich war. Natürlich ist Jump Rope Gazers überdurchschnittlich gut und natürlich hat das hier gute Chancen, in meiner Jahresendliste aufzutauchen. Schließlich triggert es genau jene Rezeptoren, die bei mir inzwischen eine neurale Kurzwahl zu dem Teil meines Gehirns haben, der für Lieblingsalben verantwortlich ist, und wahrscheinlich auch ein bisschen dem Teil, der Suchtverhalten aufbaut. Wobei das alles auch nicht ausschließlich meine Schuld ist, sondern zum großen Teil natürlich die der Beths, die hier einfach mal eine kriminell geniale Platte aufnehmen und mir damit ja keine andere Wahl lassen, als sie dafür zu hofieren. Vor allem, weil sie dem ganzen Rezept des spritzigen College-Powerpop hier nochmal eine Extradosis Adrenalin und Hochglanzpolitur verpassen. Im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen fürchten sich diese vier MusikerInnen aus Auckland nicht davor, die dicke klangliche Fondantglasur großzügig auf ihrer Rock'n'Roll-Torte zu verkleckern und auch mal nach Avril Lavigne oder der bösen, poppigen Version von Weezer zu klingen. Zusammen mit ihrem sowieso schon gefährlich eingängigen Songwriting (I'm Not Getting Excited habe ich seit Tagen im Ohr) und dem teilweise sehr gefälligen Timbre von Elizabeth Stokes ergibt das hier eine nicht weniger als hochexplosive Mischung an Hit-Potenzial, bei der jeder Song so klingt, als könnte er das Intro einer fiktiven Sitcom sein. Und viel mehr Hexenwerk ist an dieser Platte am Ende auch nicht dabei. Verdammt gutes Songwriting, verdammt gute Produktion, verdammt gut geschrieben Texte und ein pawlow'scher Reflex meinerseits, der bei solcher Musik direkt den Dopaminhahn aufdreht. Deshalb wird Jump Rope Gazers weder die erste noch die letzte LP dieser Machart sein, die bei mir funkeln in den Augen auslöst. Scheint sich nicht ändern zu lassen. Also können wir uns alle auch genauso gut dran gewöhnen.


Hat was von
Weezer
Pacific Daydream

Soccer Mommy
Color Theory

Persönliche Höhepunkte
I'm Not Getting Excited | Dying to Believe | Jump Rope Gazers | Acrid | Do You Want Me Now | Out of Sight | Mars, the God of War | You Are A Beam of Light | Just Shy of Sure

Nicht mein Fall
-

Mittwoch, 22. Juli 2020

Jazz ist anders (Den Titel hatte ich schon mal, aber er passt hier echt gut also was solls)

Sharhabil Ahmed - The King of Sudanese Jazz
[ funky | flott | vintage ]

Ich habe es mir in den letzten Monaten immer wieder zur Gewohnheit gemacht, die Vorgehensweise westlicher Labels zu kritisieren, die sich in der jüngeren Vergangenheit an den Vermächtnissen diverser afrikanischer Rockmusik-Phänomene gütlich tun und von denen in den letzten Jahren immer wieder jene Rerelease-Serien erscheinen, in denen inzwischen von Discopop aus Somalia bis zu Blues aus Nigeria schon die wildesten Szene-Exporte in die Plattenregale Europas und Amerikas gespült wurden. Und obwohl ich die Aneignung dieser subkulturellen Gewächse durch den modernen Musikmarkt an sich äußerst bedenklich finde, bin ich selbst doch auch mehr und mehr Teil der Zielgruppe solcher Veröffentlichungen geworden. Spätestens seit dem letzten Jahr hat Popmusik aus diversen Gegenden Afrikas in meiner Heavy Rotation doch einen deutlichen Zuwachs erlebt und auch in meinen Artikeln nehmen diese Entdeckungen zunehmend Platz ein. Was natürlich dafür spricht, dass ich an sich froh bin, dass diese Musik existiert und ich sie auch hören kann, ohne dafür selbst nach Lagos oder Nairobi fliegen zu müssen. Und wenn es ein Label gibt, das ich an dieser Stelle für seine - rein musikalische - Aufarbeitung sehr loben möchte, dann ist das Habibi Funk aus Berlin. Seit Ende des letzten Jahres höre ich inzwischen schon ihre Platten, die ausschließlich aus Editionen von Rereleases aus dem arabischen Sprachraum bestehen und die mich bisher die meiste Zeit über begeistert haben. Und wo es 2020 bisher nur ein kleines Projekt in Form einer EP des lybischen Künstlers Ahmed Ben Ali gab, ist bei ihnen mit the King of Sudanese Jazz nun endlich das erste Album dieser Saison erschienen. Dabei handelt es sich um eine Art Greatest Hits-Compilation von Songs des sudanesischen Musikers Sharhabil Ahmed und seiner Band, die in den Sechzigern und Siebzigern aufgenommen wurden. Und wo der Titel sonst eigentlich sehr selbsterklärend ist, ist es das entscheidende Wort "Jazz", das hier vielleicht ein bisschen in die Irre führen könnte. Denn Jazz im herkömmlichen Sinne spielen Ahmed und seine Crew hier definitiv nicht. Zwar ist das ewig solierende Leadsaxofon in den sieben Tracks dieser LP ein durchaus elementarer Bestandteil, die Substanz der Musik jedoch eine deutlich andere, nämlich eine Mischung aus frühem westafrikanischem Funk, Beat- und Surfmusik, Rock'n'Roll und vielleicht ein bisschen Ska und Rocksteady. Im Sinne der mittleren Sechziger also ein ganz klassischer Versuch, so wie die Beatles zu klingen und dabei die eigene musikalische Grundschule mit einzubringen. Wobei der Ergebnis hier zumindest von Gitarrenmotiven und Rhythmusgruppe her auch ziemlich nach British Invasion (Bittere Ironie: Der Sudan war bis in die Fünfziger britisch besetzt) klingt. Als Ergänzungen finden bei Ahmed dann lockere Bläsersätze statt, die seltsame Parallelen zur karibischen Rockmusik zu dieser Zeit haben, sowie arabische Texte, ein etwas traditionellerer Gesangsduktus und Songlängen von ruhig mal bis zu zehn Minuten. Und das ist dann nicht nur in gewisser Weise ziemlich einzigartig, sondern auch viel fetziger als schöder Jazz. Wobei diese sieben Tracks als kleine Essenz seines Schaffens ziemlich gut funktioneren. Das Album ergbibt ein kohärentes Ganzes, bei dem nie so richtig der Zug nachlässt und das stetig jenen verhaltenen und entspannten Groove hat, der so vielen Afrobeat-Richtungen eigen ist. Gleichzeitig hat die Platte aber auch dieses gewisse garagige Gefühl und ist trotz Sprachbarriere und verkalktem Schmalspur-Analog-Sound recht eingängig. Die Hit-After-Hit-Attitüde ist außerdem ähnlich derer von Beatles und Stones in ihren Anfangsjahren. Und obwohl ich die Enegie der LP prinzipiell sehr mag und sie eine wunderbar eigene Dynamik hat, muss ich doch ehrlich sagen, dass sie mich nicht unbedingt neugierig auf mehr macht. Das stilistische Fenster, in das sie einen blicken lässt, ist ziemlich faszinierend, doch grenzt schon hier an eine gewisse Monotonie. Weshalb ich hier nicht gerade angehalten werde, noch weiter nach Deep Cuts von Sharhabil Ahmed oder artverwandten Künstler*innen zu graben. Diese Compilation ist eine gute Portion dessen, was man von diesem Typen interessant finden kann, mehr wäre aber schon wieder zu viel. Also ist es letztlich vor allem die Filterarbeit und die Aufbereitung, für die ich Habibi Funk hier zu danken habe und die sie hier echt gut machen. Da ist es dann halt doch wieder toll, dass es solche Labels gibt, die dieses Material sichten und stilsicher das herauspicken, was dann auch definitiv interessant ist. Und interessant ist es ja im allermindesten. Zumidest auf die Weise, dass ich froh bin, davon jetzt mal gehört zu haben.


Hat was von
Dur Dur Band
Vol. 5

Prince Buster
I Feel the Spirit

Persönliche Höhepunkte
Argos Farfish | El Bambi | Kamar Dawa | Zulum Aldunya

Nicht mein Fall
-

Dienstag, 21. Juli 2020

Der ewige Prototyp

 

[ klobig | erzählerisch | unbequem ]

Wenn man mich fragt, dann hätte es für ein Comeback von the Streets kein besseres Jahr geben können als 2020, das Jahr nach dem bisher größten Jahr der britischen Rapmusik. Das Jahr, nach dem nun wirklich alle zumindest in irgendeiner Weise mal über die musikalischen Exporte von der Insel gestolpert sein könnten, sei es über Sleaford Mods, Slowthai, Skepta, Stormzy, Little Simz oder meinetwegen auch Kate Tempest. Ein Haufen Künstler*innen, die in der jüngeren Vergangenheit Hiphop aus dem Vereinigten Königreich ein weiteres Mal in die internationalen Radare gepusht haben und die wahrscheinlich eines alle gemeinsam haben: Sie waren in den frühen Zwotausendern mit ziemlicher Sicherheit alle Fans von Mike Skinner. Dem definierenden MC aus Barnet, der für den Rest Europas mit Platten wie Original Pirate Material und A Grand Don't Come for Free einer der ersten war, der britischen Rap auch außerhalb seiner Heimat bekannt machte. Für seine Landsleute selbst und vor allem für die Leute, die zu dieser Zeit Teenager waren, ist Skinner darüber hinaus nicht weniger als das Sprachrohr einer Generation, das die Realität junger Leute im UK abbildete und dessen frühe Platten spätestens zu Klassikern wurden, als die Jugendlichen, die er mit selbigen so begeistere, selber anfingen mit Musikmachen. Leute, die gerade in den letzten Jahren wieder die Playlisten der ganzen Welt erobern, was den Zeitpunkt für eine Rückkehr des Meisters natürlich perfekt macht. Abgesehen davon ist dieses Comeback aber auch aus Sicht von Skinner sehr interessant, denn mit neun Jahren seit seiner letzten LP ist die große Frage auch, wie sich das Narrativ des Rappers verändert hat. Schon immer waren the Streets dafür bekannt, in ihren Songs und Alben komplexe Story-Verflechtungen zu verhandeln, die das Schicksal eines Otto Normalverbrauchenden schilderten, inklusive alltäglicher Hindernisse und Situationskomik, aber eben auch mit gesellschaftskritischer Satire und starken Kommentaren zwischen den Zeilen. Und nachdem ein äußerst turbulentes Jahrzehnt der britischen Geschichte zu Ende gegangen ist und Skinner selbst seine Dreißiger vollendete, fragt man sich zu recht, was das mit seinen Geschichten gemacht hat. Wobei die erste wichtige Feststellung ist, dass die Jugendlichkeit doch sehr aus seiner Musik gewichen ist. Früher war er immer ein bisschen einer der Typen, von denen es in jedem Film von Guy Ritchie mindestens einen gibt und der zwar die Traktion des Lebens spürt, aber dabei wenigstes zwanghaft locker bleibt. Dieser Typ ist der Mike Skinner von 2020 nicht mehr. Dessen Humor ist stattdessen sehr finster-hintergründig geworden und in gewisser Weise resigniert und abgespannt. Es geht viel um kommunkative Verfehlungen, die Schikanen moderner Technologie, schwierige Freundschaften und die enttäuschten Hoffungen der Jugend. Insofern ist das hier schon die gleiche Attitüde, nur ist das eher das düstere Reboot des Films von 2002 mit Charakteren, die alle älter und kaputter sind. Und so traurig es klingt, an diesem Album ist diese Eigenschaft das beste. Die Sache, die the Streets immer noch sehr gut können, ist es nach wie vor, Charaktere in ihren Song zum Leben zu erwecken und Geschichten zu erzählen, die schmerzhaft realistisch und unglamourös sind. Und wer für diese Art von Musik gekommen ist, wird sicher nicht enttäuscht. Musikalisch hingegen ist vieles hier nicht ganz so super. Zugegeben, auf kompositorischer Ebene war ich noch nie besonders großer Fan von Skinners Output und selbst seine Klassiker finde ich in dieser Hinsicht gerade Mal ganz okay, doch ist diese LP nochmal extra verwirrend. Gerade was die Features angeht, die es hier in so gut wie jedem Track gibt, frage ich mich oft, was diese eigentlich beitragen. Die meisten von ihnen sind andere Rapper, die außerhalb von England wahrscheinlich keine Sau kennt und von denen mich keiner wirklich begeistert, aber beispielsweise auch Idles und Tame Impala, die hier so überhaupt nicht ins Konzept passen. Und Leute wie Slowthai oder James Williamson, die zu denjenigen gehören, die am wesentlichsten von ihm beeinflusst wurden, tauchen hier leider gar nicht auf. Übehaupt ist None of Us... immer dann schwierig, wenn Skinner versucht, aus seinem bekannten und bewährten 2 Step-UK Garage-Muster auszubrechen, was auch gar nichts damit zu tun hat, dass ich prinzipiell ein Problem mit seinen Experimenten hätte. Nur sind die meisten hier einfach super unnötig und ganz schön billig an ein paar unausgereifte Songideen angeflickt. Die besten Songs hingegen sind jene, in denen den Lyrics viel Platz gelassen wird und die eher minimalistisch sind, wobei das gerne auch etwas flotter zugehen kann, wie in Eskimo Ice oder Take Me As I Am demonstriert wird. Ein besonders gelungenes Album macht Mike Skinner hier am Ende nicht, was aber auch ein bisschen damit zu tun hat, in welche Welt er hier zurückkehrt. Als großer Veteran des englischen Rap und Vorbild total vieler Musiker*innen, die seinen Style inzwischen raffiniert haben, kommt dieser inzwischen etwas rudimentär und klobig rüber. In unmittelbarer Gesellschaft der Brit-Award gewinnenden Popstars und kosmopoliten Crossover-Talente ist er ein bisschen der Trampel, der einfach nur erzählen will, was er mal wieder für einen miesen Tag hatte. Und wo ihn das in der Theorie irgendwie sympathisch und unverbraucht macht, ist es gerade nicht das beste, was britischer Rap zu bieten hat, sondern sogar weit davon entfernt. Das Resultat nach neun Jahren Pause ist also, dass die Szene Mike Skinner gerade nicht mehr braucht, was auf jeden Fall für eine gesunde Szene spricht. Nur wäre es schade, diesen Typen darüber zu vergessen, denn ohne ihn wären wir ja nicht hier. Das nächste Mal könnte man ihn also wenigsten featuren.


Hat was von
Sleaford Mods
Eton Alive

Slowthai
Nothing Great About Britain

Persönliche Höhepunkte
I Wish You Loved You As Much As You Loved Him | You Can't Afford Me | Eskimo Ice | Phone is Always in My Hand | the Poison I Take Hoping You Will Suffer | Take Me As I Am

Nicht mein Fall
None of Us Are Getting Out of This Life Alive | I Know Something You Did | Conspiracy Theory Freestyle

Montag, 20. Juli 2020

Too Soon

Juice WRLD - Legends Never Die
[ posthum | emo-trappig | deprimiert ]

Ungefähr zweieinhalb Jahre sind gerade Mal vergangen, seit im November 2017 mit Lil Peep der erste wichtige Vertreter der Emotrap-Szene starb und bereits in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit hat sich die Community um ihn herum zu einer sehr tragischen Angelegenheit entwickelt. Stand 2020 ist nach dem traurigen Ableben ihres vielleicht größten stilistischen Pioniers kein Jahr vergangen, in denen nicht ein weiterer integraler Charakter der Bewegung sein Leben ließ, wobei die Gründe dafür fast immer ein allzu gefährlicher Lebensstil und/oder Drogen gewesen sind. Der letzte in der Reihe ist zu diesem Zeitpunkt Jarad Anthony Higgins, besser bekannt als Juice WRLD, der im vergangenen Dezember an einem epileptischen Anfall starb, vermutlich ausgelöst durch eine medikamentöse Überdosis. Mit gerade Mal 21 Jahren. Und so traurig und finster allein schon dieser Umstand ist, wird das alles dadurch nicht besser, dass die besagten Todesfälle der jüngsten Zeit fast immer eine ziemlich ekelhafte Spur von schnellem Ausverkauf seitens ihrer Labels hinter sich herziehen. Lil Peep, Mac Miller und erst letzte Woche Pop Smoke hatten dabei im ersten Moment Glück und noch unveröffentlichte Alben in der Pipeline, die noch zu Lebzeiten angefangen wurden und damit zumindest ein Mindestmaß an Würde aufwiesen. Aber gerade bei Peep war das nur ein Jahr später auch schon vorbei und seine Rechteinhaber begannen, langsam aber sich die Reste seines Archivs auszuweiden. Von jemandem wie XXXtentacion, der zu diesem Zeitpunkt Release-mäßig schon ausgemolken zu sein scheint, will ich hier gar nicht erst anfangen. Dass es Juice WRLD mit Legends Never Die, seinem ersten posthumen Release, ähnlich gehen würde, war also zu befürchten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen hatte er zum Zeitpunkt seines Ablebens keine angefangene Platte mehr in Produktion, weshalb diese LP mehr oder weniger komplett von seinem Label zusammengestellt wurde. Mit 21 Tracks in 55 Minuten ist diese relativ umfangreich und macht auch von Anfang an keinen Hehl daraus, dass ihr Fokus die Tränendrüse seiner Fans ist. Das fängt mit einem dermaßen sperrigen Titel an und zieht sich bis zu strategisch platzierten Spoken Word-Interludes, in denen Momente des emotionalen Lamentos von Juice WRLD eingefangen wurden. Und an dieser Stelle entfaltet sich vielleicht gleich mein Hauptproblem mit dieser LP: Es stilisiert den Musiker zu einer Figur, die er zu Lebzeiten eigentlich nie so richtig war. Das folgende dabei bitte nicht falsch verstehen, ich selbst hielt diesen Typen für einen Künstler mit großem Potenzial und weiß, was er für die Strahlkraft von Emotrap getan hat, doch kann ich es leider nicht wirklich ernst nehmen, wenn ein 21-jähriger Crooner mit zwei Longplayern im Katalog hier als Legende bezeichnet wird. Zumindest noch nicht jetzt. Weder kann man auf so kurze Distanz den künstlerischen Fußabdruck von Juice WRLD abschätzen, noch ist er ein Musiker wie Elliott Smith oder Mac Miller, die Botschaften von lebensverändernder Geltung in ihrem Material verhandeln. Wenn er etwas war, dann sowas wie der toxische Exfreund des Traprap, der etwas fragwürdige, aber gute Jammerpopmusik macht. Was dieses Album noch seltsamer macht, denn natürlich macht er hier nicht plötzlich etwas ganz anderes. Obwohl für diese LP extra die denkbar tragischsten und emotional potentesten Songs des Rappers ausgesucht wurden, ist das narrativ noch immer ganz offensichtlich das eines jungen Typen, der seine ernsthaften Probleme unreif kompensiert und mit fiesen Substanzen bekämpft. Und diesen dann als eine Art weisen spirituellen Wegweiser darzustellen, ist ganz einfach nicht der Weg, ihn zu würdigen. Was auch ein bisschen dadurch verschlimmert wird, dass das hier Juice WRLDs bisher schwächste Sammlung an Songs ist. Abgesehen von ein paar ganz coolen Überraschungen wie Come & Go oder Life's A Mess ist das Problem einfach, dass hier zu sehr der übliche Standard seines Sounds gepusht wird, der über so eine Länge ganz einfach nicht trägt. Hört man sich Platten wie Goodbye & Good Riddance oder Death Race for Love an, gibt es den zwar auch, doch wird immer dafür gesorgt, dass musikalisch wenigstens ein bisschen Abwechslung in die Sache kommt. Legends Never Die tut das nicht, sondern schichtet nur Song um Song, was trotz der moderaten Länge darin resultiert, dass die LP nach der Hälfte ziemlich öde wird. Und obwohl das auch ziemlich doof ist, ist das gar nicht mal mein Problem mit diesem Album. Mein Problem ist viel eher, was diese Platte schon so früh nach Juice WRLDs Tod sein will. Es kann durchaus sein, dass Legends Never Die in fünf oder zehn Jahren einen Status wie Life After Death von Biggie haben wird, und ich bin ebenfalls der Meinung, dass mit diesem Künstler ein ziemlich talentierter junger Mann mit wenig ahnbarem Potenzial zu früh die Welt verließ. Doch ist das hier nicht das Album dieses Typen, sondern einer Illusion von Juice WRLD, in der er Jimi Hendrix ist. Und ob das der Wahrheit entspricht, das kann leider erst die Zeit entscheiden.


Hat was von
Trippie Redd
!

Lil Peep
Everybody's Everything

Persönliche Höhepunkte
Righteous | Come & Go | Stay High | Man of the Year

Nicht mein Fall
Anxiety (Intro) | Tell Me U Luv Me | Hate the Other Side | Up Up & Away

Samstag, 18. Juli 2020

Zehn Jahre später: Romantik der Erinnerung

[ romantisch | wildwüchsig | minimalistisch ]

Es war der Freitagabend des Sun Flower Festivals 2010, als ich mich ein für alle Mal in die Musik von Cornelius Ochs verliebte und man kann dabei durchaus sagen, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Auf der Bühne steht er an diesem Tag mit seinem jüngsten Bandprojekt the Baby Universal, das eigentlich auch nur seine zwei letzten Bands mit neuem Namen und neuem Konzept ist. Doch für den 13-jährigen Typen, der gleich eines der ersten lebensverändernden Konzerte seiner Biografie erleben wird, ist das erstmal genauso irrelevant wie die Tatsache, dass diese Gruppe unter dem Namen Zombie Joe bereits 2005 eines seiner späteren Lieblingsalben herausgebracht hat oder dass der Frontmann dieser Band, der gerade so erotisch und androgyn das Publikum für sich einnimmt, gerade auch an seinem ersten Soloalbum arbeitet. Für diesen Abend steht erstmal der bleibende Eindruck, den seine Band bei ihm hinterlassen hat und die Begeisterung für ihre mystische Rockmusik. Eine Basis, auf der sich nicht wenig später ein einigermaßen akribisch betriebenes Fandom aufbauen lässt, dessen Nachwehen auch zehn Jahre später noch nicht verhallt sind. Erst letztes Jahr war ich nach langer Zeit mal wieder bei einem Konzert von Conny Ochs, dessen Solokarriere inzwischen sein wesentliches Standbein geworden ist und der sich aus seiner Szene-Heimat Halle an der Saale inzwischen nach Norditalien abgesetzt hat. Als Dichter, Maler und Musiker lebt er dort irgendwie seinen persönlichen Klischee-Traum eines Rockstars, ohne wirklich einer zu sein. Doch kann er sich mit seiner Kunst als mittlerweile Frühvierziger anscheinend trotzdem ganz gut seine Brötchen verdienen und bringt auch ohne Bandzugehörigkeit recht regelmäßig neues Material heraus. Als Fan seiner Musik muss ich dabei jedoch leider sagen, dass diese während der letzten zehn Jahre immer stärker nachgelassen hat und von okayen Sachen wie Black Happy oder seiner ersten Kollaboration mit Obsessed-Frontmann Scott 'Wino' Weinrich mittlerweile in ziemliche Katastrophen wie Future Fables oder das grauenvolle Doom Folk übergegangen ist, in denen Ochs nur noch billigen Kitsch zu fabrizieren scheint. Mit Songs, die mitunter so stumpf sind, dass man sich schon manchmal fragt, ob die eigene Liebe für seinen frühen Output vielleicht doch nur nostalgische Verklärung war. Die Antwort darauf ist dann tatsächlich gar nicht so einfach und davon abhängig, von welchem Projekt man spricht. Wo beispielsweise die beiden Zombie Joe-Platten noch immer großartig sind und ihnen das Alter nichts anhaben kann, ist der Output von Baby Universal rückblickend schon deutlich durchwachsener. Das größte Fragezeichen war für mich in der Erinnerung aber immer das 2010 erschienene Raw Love Songs, das als Connys Solodebüt ja immerhin der Anfang seines unsäglichen Abwärtstrends als Alleinunterhalter markierte, als solches aber immer zu meinen Favoriten zählte. Hätte ich über die letzte Dekade ein Ranking aller Platten des Hallensers geführt, wäre diese hier in vielen Momenten sicherlich an zweiter Stelle gestanden, direkt nach dem offensichtlichen Topfavoriten Schlachthaus, Baby! von Zombie Joe. Doch war ich nach so vielen Jahren irgendwie gespannt, ob Raw Love Songs im Kontext von Ochs' Solo-Verfall diesen Anspruch halten konnte, oder ob ich es inzwischen mit anderen Augen sehe. Und das Ergebnis hat mich am Ende tatsächlich ein bisschen selbst überrascht, insofern ich es jetzt gerade sogar ein bisschen besser finde als beim letzten Mal. Dabei ist ein wesentlicher Faktor die offensichtliche Leidenschaft, die dieses Album in jeder Faser in sich trägt und die in wunderbarer Weise einem reißerischen Titel wie Raw Love Songs gerecht wird. Auf so gut wie allen Stücken hier hört man nur Ochs selbst mit einer Gitarre - manchmal akustisch, manchmal elektrisch - sowie vielleicht mal zwei pointierte Schläge auf einem Drumset, sonst nichts. Das wäre an sich auch nichts besonderes, wäre dieser Typ nicht so ein wahnsinnig talentierter Sänger, der sich hier in jede seiner Zeilen förmlich hineinlegt und mit herrlich viel Inbrunst und Emotionalität singt. Ästhetischer Ansatzpunkt ist dabei am ehesten seine Jahre zuvor veröffentlichte Serie von Woodie Guthrie-Covern mit einer Inkarnation von Zombie Joe, bei der er sehr viel Folk und Blues absorbierte. Diesen schwitzt er auf diesen zehn Songs nicht zum ersten Mal aus, doch bisher am wirkungsvollsten. Auf den ersten Blick ist dabei vieles sehr gewöhnliches Singer-Songwriter-Material, doch hat es alles - auch durch die sehr minimalistische Performance - etwas sehr uriges und archaisches, das an alte amerikanische Volksmusik erinnert. Der Begriff Kitsch ist dabei wie bei allem von Conny Ochs Teil der Formel, doch habe ich im Vergleich zu seinen späteren Platten hier das Gefühl, dass diese ein echtes romantisches Wesen in sich trägt. Wenn Ochs in Burn Burn Burn von nächtlicher Lagerfeuerromantik oder in Lily of the Valley über herzzereißende Sehnsucht singt, ist das kitschig, aber mit Methode. Und ich fühle dabei etwas, im Gegensatz zu den leeren Song-Hüllen seiner letzten LP. Es ist erstaunlich, wie viel Charakter hier so gut wie jeder der Tracks mit sich bringt, ob nun brachial-mystisch wie in Angels & Demons oder folksy-balladesk wie in Good House. Wobei ich hier auch das einzige Mal nicht das Problem habe, dass Ochs sich mit seinen eigenen Lyrics im Weg steht, was sonst eines der großen Probleme seiner Musik ist. Schon bei Baby Universal war es immer wieder der lästige Elefant im Raum, dass der Hallenser - zumindest wenn er auf englisch schreibt - schlicht und einfach kein guter Texter ist. Da sind die Reime billig, die narrative Kontinuität zerpflückt und die behandelten Themen oberflächlich. Und obwohl ich weiß Gott nicht argumentieren will, dass sein Stil auf Raw Love Songs plötzlich total genial ist, stört er hier zumindest nicht den Genuss des Gesamtwerkes. Die Lyrics dieser Platte sind simpel, ja, aber nicht schlecht. Und gerade in Verbindung mit der minimalistischen Musik, die oft etwas von Volkswaisen hat, trägt das auf irgendeine Weise sogar zur Ästhetik des ganzen bei. Was im Endeffekt vielleicht der Spirit ist, der diese Platte für mich so toll macht: Conny Ochs tut hier etwas, das er gut kann. Mit seiner Wahnsinnsstimme und seinem Faible für entrückte, folkige Gitarrenmotive vereint er hier seine zwei vielleicht größten Talente und lässt darüber hinaus alles weg, was diese stören könnte. Mit dem Ergebnis, dass sich hier der wirklich großartige Songwriter entpuppt, der dieser Typ sein kann, wenn er will. Und Raw Love Songs ist deshalb relevant, weil es mir das immer wieder ins Gedächnis ruft, wenn er wieder eine richtig miese LP gemacht hat und ich mich frage, warum ich so einen dämlichen Ville Vallo-Verschnitt eigentlich so geil finde. Das hier ist der Grund. Dieses kleine Meisterwerk zwischen den Stühlen, das mich immer wieder packt und zumindest die Möglichkeit eröffnet, dass er so ein Ding vielleicht irgendwann nochmal macht. Die Vorraussetzungen sind schließlich alle da.


Hat was von
Eddie Vedder
Into the Wild

Elliott Smith
Either/Or

Persönliche Höhepunkte
Stampede, Stampede | Lily of the Valley | Angels & Demons | Good House | Don't Know Her Name | Pawnshop | Burn Burn Burn | Waiting for the Monster | Traces & Traps

Nicht mein Fall
-

Freitag, 17. Juli 2020

Geredet wurde viel

Massive Attack - Eutopia
[ politisch | dokumentarisch | multimedial ]

Trotz der Tatsache, dass es von Massive Attack nunmehr seit einer ganzen schon Dekade kein vollwertiges neues Album mehr gab, kann ich mich als Fan von von ihnen über die letzten Jahre eigentlich in keinster Weise beschweren. War gerade diese Phase doch eine der besten, um die Diskografie der Briten neu und umfassend zu erleben. Dank des glücklichen Umstands, dass ihre drei großen Klassiker aus den Neunzigern allesamt runde Jubiläen feierten, gab es von fast jedem davon umfassende Rereleases mit allem möglichen Schnickschnack, darüber hinaus ein weiteres Remix-Album mit Mad Professor und nicht zuletzt umfangreiche Touren, auf denen fast immer die prominente Originalbesetzung an hochkrätigen Gaststars anwesend war. Und auch wenn wirklich neues Material eher selten erschien, so war dieses doch stets von bewährter Qualität. Mehr als ein 'man nimmt was man kriegt' war mein Verhältnis zu Massive Attack während der Zwotausendzehner viel eher von dem Vertrauen geprägt, dass diese Band sehr gut weiß, was sie tut und deshalb auch sorgfältih abwägt, wann sie es tut. Weshalb ich auch äußerst zuversichtlich war, als letzte Woche aus heiterem Himmel diese neue EP und mit ihr das erste Lebenszeichen der Triphop-Pioniere seit Ritual Spirit von 2016 erschien. Mit nur drei unbetitelten Songs war das Ding zwar erstmal etwas schmal geraten, doch wurde dafür inhaltlich ganz ordentlich aufgefahren: Als Gäste waren mit den Young Fathers, Algiers und Saul Williams nicht nur drei prominente Vertreter*innen aus dem musikalischen Bereich dabei, sondern auch drei wissenschaftliche Expert*innen aus den Bereichen Umwelt, Poltik und Wirtschaft, die hier das inhaltliche Gerüst stellen sollten. Noch dazu erschien Eutopia diesmal nicht als herkömmlicher Tonträger, sondern als audiovisuelles Gesamtkunstwerk, das bis dato erstmal nur auf Youtube zu finden ist und bei dem für jeden Track ein kleiner Extrafilm zusammengestellt wurde. Trotz der Knappheit des Releases hatte das hier also Potenzial, etwas sehr besonderes zu sein und anhand der großen Themen, die hier inhaltlich gewälzt werden, hätte ich mir das auch gewünscht. Nur habe ich am Ende eher das Gefühl, dass Massive Attack es sich hiermit doch ein bisschen zu einfach gemacht haben. Alle drei Stücke dieser EP sind im wesentlichen nicht mehr als Backdrops für die Spoken-Word-Samples der jeweiligen WissenschaftlerInnen, die sich darauf eher unzusammenhängend Ted-Talk-mäßig mit Krisen der Finanzpolitik, des Klimawandels und der Corona-Epidemie auseinandersetzen. Das ist an sich schon ziemlich relevant und die einzelnen Beiträge wirken in keinster Weise verkürzt oder schwafelig, nur frage ich ich, warum es dafür diesen musikalischen Kontext braucht. Auch die zusätzliche visuelle Ebene trägt dazu nicht wirklich einen Mehrwert bei, denn die drei Filme sind letztlich nur unwesentlich mehr als flott gemachte Lyric Videos mit kunstigem Found-Footage-Gewaber im Hintergrund. Mein Problem ist dabei gar nicht mal, dass Massive Attack und ihre Musik in den Hintergrund rücken, denn ähnliche Ansätze mag ich bei artverwandten Künstler*innen wie Kate Tempest oder Underworld total gerne. Nur habe ich dort das Gefühl, dass auch viel über das Charisma der jeweiligen Erzählerperspektiven funktioniert, während das hier klingt und aussieht wie ein schlecht gemachter Vox-Beitrag. Die Art und Weise, wie hier der Inhalt über die Form gestellt wird, ist von der Idee her ganz okay, aber es erzeugt keinen Mehrwert gegenüber einer guten Dokumentation oder einem Vortrag, sondern eher das Gegenteil. Was zusätzlich frustrierend ist, weil es von Massive Attack eben schon Songs wie Eurochild oder A Prayer for England gibt, die einen besseren Effekt mit wesentlich simpleren Mitteln erzeugen und die zeigen, dass die Briten eine verdammt gute politische Band sein können. Nur ist das hier einfach ein bisschen zu viel des Guten. Als selbsternannter Connaisseur ihres Katalogs bin ich schwer enttäuscht von dem gewaltigen Hänger, den sie hier verzeichnen und muss leider auch sagen, dass Eutopia so ziemlich das mieseste ist, was ich von ihnen je gehört habe. Dass sie deshalb mein Vertrauen verlieren, heißt das zwar noch lange nicht, doch schockiert bin ich schon irgendwie, dass eine über 30 Jahre so stilsichere Formation hier mit einem Mal so derbe in den Sack haut. Und gerade im Angesicht ihres wenigen neuen Outputs lässt das schon die Frage aufkommen, wohin diese Band gerade geht und ob Musik überhaupt noch der eigentliche Hauptfokus ist. Eine Frage, die sicherlich schwer zu beantworten ist, wenn der nächste Puzzlestein erst wieder in vier Jahren erscheint.


Hat was von
Underworld & Iggy Pop
Teatime Dub Encounters

Vox
Climate Change-Playlist

Persönliche Höhepunkte
-

Nicht mein Fall
Massive Attack x Young Fathers | Massive Attack x Algiers

Donnerstag, 16. Juli 2020

Boris for Beginners


ボリス - No
[ dampfwalzig | lärmig | vielschichtig ]

Mit inzwischen fast 30 Jahren im Business und einer Diskografie, die egal in welcher Zählweise mittlerweile über 40 Tonträger umfasst, sind Boris in der obskuren Schattenwelt des extremen Metal nicht nur eine der großen Koriphäen mit unfickbarer Szene-Credibility geworden, sondern vor allem auch eine Band, die ihre Fühler in so ziemlich jede Richtung ausgestreckt hat. Allein wenn man sich die letzten fünf Jahre ihres Outputs ansieht, findet man als Fan der gepflegten Krachmusik darin mit Sicherheit mindestens ein Projekt, das irgendwie dem persönlichen Gusto entspricht. Vom klassischen Doom Metal über Drone, Noise, Shoegaze, Sludge und Hardcore haben die drei TokyoterInnen inzwischen so ziemlich alle erdenklichen Varianten erforscht, die eine Gitarre, einen Verstärker und einem Koffer voller Effektpedale einschließen, und über das alles den Überblick zu behalten, fällt bisweilen schwer. Doch konnte man sich bei all der Vielschichtigkeit bis vor kurzem wenigstens sicher sein, dass sich pro Album exklusiv einem musikalischen Thema gewidmet wurde. So war die Merzbow-Kollaboration Gensho 2016 der wilde Noise-Ausflug, Dear ein Jahr später die rumpelige Doom-Renaissance und Love & Evol aus der letzten Saison die etwas zartere Exkursion ins Territorium von Shoegaze und Drone. Die persönlichen Favoriten herauszupicken, war dabei immer recht einfach, weil wenigstens die Alben für sich relativ stringent waren. Weshalb es von einer strukturellen Perspektive her ein wenig schade ist, dass sie damit nun brechen, indem sie auf ihrer neuesten LP plötzlich alles auf einmal machen. Wobei das natürlich auch heißt, dass wir hier zum ersten Mal seit langem einen ziemlich guten Querschnitt der Palette kriegen, die sich Boris während der letzten 30 Jahre erarbeitet haben. Soll heißen: No bringt alle klanglichen Phänotypen dieser Band ein bisschen näher zusammen. Da gibt es dampfwalzige Slowburner wie Genesis und Zerkalo, rotzige Punk-Brecher wie Anti-Gone oder Non Blood Lore, deftigen Sludgerock wie Lust und sogar ätherische Nummern wie HxCxHxC - Perforation Line - oder Interlude. Auf den ersten Blick mag das etwas chaotisch wirken und gerade ich als Fan organischer LP-Flows muss mich mit so einem eher Compilation-artigen Produkt erstmal eingrooven. Doch hat man die Zeit, sich daran zu gewöhnen, offenbart sich doch recht schnell die ganz ordentliche Qualität dieses Albums. Wobei vor allem das Songwriting hier so stark ist wie lange nicht mehr bei Boris. Den größten kompositorischen Hänger hat die Platte zwar leider gleich am Anfang mit den Punk-Nummern Anti-Gone und Non Blood Lore, die nach dem grandiosen Doom-Opener Genesis erstmal etwas zu schwachbrüstig wirken, doch wird dafür alles danach mit jedem Song nur noch besser. Schon im Mittelteil des Albums hat sich die stilistische Schwankung auf ein Maß eingependelt, wo sie eher überraschend als Vibe-killend ist, und spätestens wenn Kikinoue und Lust die ganze Drescher-Angelegenheit anschließend noch mal besser nachholen, gibt es eigentlich nichts mehr zu meckern. Und obwohl ich das Gesamtergebnis am Ende doch ausbaufähig finde, muss ich sagen, dass ich seit Gensho nicht mehr so begeistert von einer Boris-LP war, was ja inzwischen auch schon wieder fünf Alben her ist. Abgesehen von meiner persönlichen Einschätzung finde ich außerdem, dass No eine Platte ist, die sich gerade durch ihren Kompilations-Charakter und die Werkschau verschieder Stile vor allem für Leute eignet, die diese Band vorher noch nie gehört haben. Dem Phänomen Boris hier zu begegen bedeutet die Möglichkeit, sich anhand der hier gefundenen Lieblingssongs anschließend gezielt die Longplayer anzusteuern, die diesen jeweiligen Stil fortsetzen und sich eben nicht durch 20 durchwachsene andere Releases hören zu müssen. Ich für meinen Teil hätte mir so ein Album gewünscht, als ich damals anfing, diese Band zu hören. Denn zu erforschen gibt es weiß Gott viel. Und das Leben ist ganz einfach zu kurz, um jedes ihrer Alben zu hören.


Hat was von
Full of Hell
Trumpeting Ecstasy

Thou
Blessings From the Highest Order

Persönliche Höhepunkte
Genesis | Zerkalo | HxCxHxC - Perforation Line - | Kikinoue | Lust | Fundamental Error | Loveless | Interlude

Nicht mein Fall
Anti-Gone | Non Blood Lore

Dienstag, 14. Juli 2020

Aber Sommer ist trotzdem: Die 1000kilosonar-Sommerplaylist 2020






Den Titel der diesjährigen Sommerplaylist von 1000kilosonar muss ich leider Gottes ja wahrscheinlich nicht mehr erklären und es wurmt mich, dass das Thema Covid-19, das ich in diesem Format bisher tunlichst vermieden habe (das hier ist eine Musikseite, und solange nicht alle Musik der Welt plötzlich verschwindet, habe ich trotz aller Pandemien und Lockdowns etwas, worüber ich schreiben kann), mich jetzt doch irgendwie einholt. Und ich habe in Bezug darauf tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich es 2020 vielleich bleiben lasse, so eine Playlist zu machen, denn die üblichen Einsatzbereiche, für die ich sie sonst immer nutzte - als Konserve auf Festivals oder Autofahr-Soundtrack im Urlaub - fallen ja nun irgendwie ein bisschen aus. Am Ende dachte ich mir aber, dass genau das eben kein Grund sein sollte, darauf zu verzichten und es vielleicht sogar noch sinnvoller ist, so einen Servicepunkt in dieser Saison aufrecht zu erhalten. Denn wenn schon das echte Sommer-Erlebnis gezwungenermaßen wegfällt (zumindest in den meisten Formen), kann man ja wenigstens das dazugehörige Feeling aufrecht erhalten. Seht das hier also weniger als Soundtrack für Urlaub oder Festivals, sondern eher als eskapistische Fantasie-Gehhilfe für Balkon und Planschbecken. Vielleicht hilft es ja.



Dikanda - Muzyka czterech stron wschodu
DIKANDA
Dikanda
aus dem Album Muzyka Czterech Stron Wschodu (2001)







Dass eine Liste wie diese bisher ohne Dikanda ausgekommen ist, ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viel Vergangenheit ich mit dieser Band habe. Gerade ihr Debüt ist eine Platte, die für mich immer wieder untrennbar mit Kindheit verknüpft ist und die ich gerade erst in den letzten Jahren so richtig für mich wiederentdecke. Und wo es sicherlich eine Unmenge von Stücken aus ihrer fast zwanzigjährigen Diskografie gibt, die absolut klasse sind, ist es in meinen Augen doch niemals verkehrt, mit dem Track anzufangen, den sie nicht von ungefähr nach sich selbst benannt haben. Denn schon hier findet der romantisch-hippieske Balkan-Folk der PolInnen in einer Formvollendung statt, die ich nicht nur deshalb so klasse finde, weil ich damit so viele Dinge verbinde.



CYPRESS HILL feat. SADAT
Band of Gypsies
aus dem Album Elephants On Acid (2018)







Ich hätte gedacht, ich wäre irgendwann müde davon, diesen Song geil zu finden, doch in den gut zwei Jahren, die er nun existiert, wird er nur mit jedem Mal besser. Stand 2020 ist Band of Gypsies, obwohl verhältnismäßig jung, vielleicht mein Lieblingssong von Cypress Hill, weil man hier erstmal merkt, wie uniornisch gut diese Band eigentlich sein kann. Klar geht es am Ende wieder nur ums Kiffen und die Art und Weise, wie sich die drei Kalifornier dem Thema annähern, ist in bewährter Manier auch nicht besonders originell. Aber selbst für mich als eisernen Rauschgras-Abstinenzler ist das hier ein Track, bei dem ich ein bisschen Bock kriege, weil es in dieser Variante einfach zu fetzig klingt. Einziger Kritikpunkt: Können Sadat bitte endlich auch offiziell das Feature-Credit für diese fantastische Hook kriegen? Verdient hätten sie es nämlich.



Red Hot Chili Peppers - Warped
RED HOT CHILI PEPPERS
Warped
aus dem Album One Hot Minute (1995)






Ich möchte diese Gelegenheit nicht auslassen, um eine Lanze für eine meiner albsoluten Lieblings-Singles der Red Hot Chili Peppers zu brechen, die ob ihrer Platzierung auf dem ewig vergessenen One Hot Minute-Album leider noch immer viel zu wenige Leute würdigen. Sicher, Warped ist nicht unbedingt die eigängigste Nummer der Kalifornier und dank Dave Navarros effektiver Infiltration der Rhythmusgruppe erschreckend nah am zeitgenössischen Grunge und Metal, aber gerade das macht sie in meinen Augen so unfassbar geil. Denn so ernsthaft psychedelisch, grantig und bombastisch wie hier klangen die Peppers davor wie danach eigentlich nie. Und ganz nebenbei auch eines der coolsten Videos, das die Band jemals hatte.



Damien Jurado - Rehearsals for Departure
DAMIEN JURADO
Ohio
aus dem Album Rehearsals for Departure (2001)







Mir ist durchaus bewusst, dass ich in diesem Format gerne mal ausführlich mein praktiziertes Jurado-Fandom raushängen lasse und es wäre in dieser Rolle wahrscheinlich angebrachter gewesen, hier irgendeine obskure B-Seite aus dem Hut zu zaubern und nicht seinen mit Abstand größten Hit, den seit dem dämlichen Remix von Filous vor ein paar Jahren sowieso alle kennen. Aber warum eigentlich nicht? Immerhin ist Ohio kompositorisch einer der besten Momente des Songwriters und gehört zu den Tracks, mit denen er seinen persönlichen Stil früh formte. Inklusive eines Textes, der irgendwie ans Herz geht und dafür nicht mal besonders tragisch sein muss. Was ihn insgesamt vielleicht gerade so zugänglich macht, aber dadurch auch der beste Eingang in die Welt des Damien Jurado ist. Und wenn man erstmal da ist, zeige ich dann gerne noch jeden Winkel.



Caro Emerald - Back It Up
CARO EMERALD
Back It Up
aus dem Album Deleted Scenes from the Cutting Room Floor (2009)







Die Elektroswing-Welle der frühen Zwotausendzehner empfinde ich noch Jahre später als eine der furchtbarsten Sachen, die der Popmusik in der letzten Dekade passiert sind und ich möchte an dieser Stelle um Gottes Willen nichts beschönigen. Aber für Caro Emerald hatte ich irgendwie immer Respekt. Unter allen grauenhaften Projekten, die willkürlich mittelmäßige Charleston-Singles mit dämlichen House-Beats aufpeppten, war die Holländerin eine der wenigen, die immerhin noch eigenes Songwriting einbrachten, dass mitunter auch gar nicht so übel war. Bestes Beispiel: Ihre allererste Single als Solokünstlerin, die noch vor ihrem auch nicht verkehrten One Hit-Wonder mit A Night Like This kam und bei der man mal hört, wie Elektroswing klingen kann, wenn sich jemand Gedanken gemacht hat.



Guns n' Roses - Welcome to the Jungle / Mr. Brownstone
GUNS N' ROSES
Welcome to the Jungle
aus dem Album Appetite for Destruction (1987)







Als ehemals sehr sturköpfiger Grunge-Enthusiast und noch immer sehr sturköpfiger Kritiker posenhafter Machismo-Zurschaustellung fällt es mir damals wie heute schwer, zu sagen, dass der Achtziger-Output der Guns N' Roses eigentlich doch ziemlich klasse ist. Besonders Appetite for Destruction und seine schwitzig-marodierende Leadsingle Welcome to the Jungle, bei der diese Band ausnahmsweise mal wie ein perfekt geöltes Glam Metal-Uhrwerk funktioniert, haben es mir heimlich schon seit Jahren angetan. Und dass das Ergebnis am Ende so ein unsterblicher Song ist, macht ihn als Feindbild sogar noch wirkungsvoller, denn genau deshalb hat man davor so viel Angst. Angst, weil man ihn hinter der ganzen Fassade in Wirklichkeit doch mag.



Beach House - Space Song
BEACH HOUSE
Space Song
aus dem Album Depression Cherry (2015)







Es ist eine Offenbarung, dass der Space Song in seinem neuen Leben als Internet-Hit (mit inzwischen grandiosen 33 Millionen Aufrufen bei Youtube!) noch einmal die zweite Chance bekommen hat, denn wäre es nicht um eine besonders aufmerksame Fanbase gewesen, wäre er im kreativen Chaos, das die Band Beach House von 2015 war, wahrscheinlich komplett untergegangen. Was natürlich unendlich schade gewesen wäre, denn in meinen Augen setzen sich die beiden KalifornierInnen mit diesem einen Song fast ein größeres Denkmal als mit jedem Teen Dream oder Bloom zuvor. Und zeigen am Ende vielleicht sogar, dass diese ganze Indie-Geschichte niemals ihre wahre Berufung war und sie am besten dann sind, wenn sie einen echten Pop-Hit schreiben. Auch wenn sie das selbst noch immer nicht ganz wahr haben wollen.



Dur-Dur Band - Volume 5
DUR DUR BAND
Dholey
aus dem Album Volume 5 (1987)







Die Dur Dur Band aus Mogadishu ist eines der großartigen Phänomene, das innerhalb der letzten Dekade Resultat der wahnhaften Rerelease-Schatzsuche westlicher Labels in Afrika war und das mich seit kurzem ebenfalls intensiv begeistert. Das somalische Sextett, das von den späten Achtzigern bis in die frühen Neunziger aktiv war, spielte eine Mischung aus Discopop, Reggae und verschiedenen Afrobeat-Formen, die eine ganze Reihe überraschender Hitsongs produzierte. Dholey ist einer davon und überzeugt als gediegen-sonniger Jam zwischen Funk, Ska und westafrikanischem Desertrock.  Zugegebenermaßen etwas verstaubt, aber in der Welt des Vintage-Afrobeat sind Remasters schließlich auch was für Schwächlinge.



Caspian - Waking Season
CASPIAN
Halls of Summer
aus dem Album Waking Season (2012)







Dass ich Caspian als eine der Postrock-Formationen mit dem geringsten Klischee-Faktor kenne und liebe, zeigt sich wahrscheinlich in keinem Song besser als Halls of Summer, bei dem die Zugehörigkeit der zu jedweder Genre-Spezifizierung nicht mehr als eine Ahnung sein kann. Ein bisschen hat es was von Mathrock, ein bisschen von Elektropop, vielleicht auch von Folk oder Sigur Rós, aber nie zu spezifisch viel von einer Sache. Was es gerade so cool macht, denn mit seiner großräumigen und cineastischen Ästhetik ist er vor allem eines: Projektionsobjekt für vielfältige Fantasiegespinste, die auch mal über große Fjordlandschaften und stürmische Meere hinausgehen. Was für mich auch immer ein bisschen bedeutet, dass er nach Red Bull-Werbung klingt, was ihn aber trotzdem irgendwie nicht ruiniert.



Mina - Il cielo in una stanza / La notte
MINA
Il Cielo in Una Stanza
aus dem gleichnamigen Album (1960)







Ich weiß sehr genau, dass es für so eine Liste die einfachste aller möglichen Lösungen ist, willkürliche Italo-Schlager aus den Sechzigern rauszusuchen, von denen es gefühlt unendlich viele gibt, aber ganz ehrlich: Es klappt immer wieder so gut. Das adäquate Feeling packen diese Songs mit Leichtigkeit, sie sind fast immer wunderbar geschrieben und performt und trotzdem kennt sie meistens niemand so wirklich. Gerade dieser Song, der immerhin schon mal Teil einer Dolce & Gabbana-Werbung mit Scarlett Johannson und Matthew McCanaughey war, tingelt auf Youtube irgendwo bei fünfzigtausend Views herum, was einfach viel zu wenig ist. Weshalb es meine heilige Pflicht als Italopop-Fan und Obskuritäten-Digger ist, das hier in genau diese Playlist zu packen. Und für nächstes Jahr finde ich dann auch wieder einen neuen.



SUN & SAIL CLUB
Held Down
aus dem Album Mannequin (2013)







Es war eine ebenso geniale wie einmalige Anomalie, als Mitglieder der zwei Stonerrock-Heiligtümer Kyuss und Fu Manchu 2013 aus heiterem Himmel die Band Sun & Sail Club gründeten und mir nichts dir nichts die äußerst seltsame Zwangsheirat von klassischem Kiffrock mit Kraftwerk-Synthesizern und Vocodergesang forcierten. Wider Erwarten war das ganze auch noch richtig gut und brachte der Stilrichtung eine experimentelle Spaßigkeit, die diese sonst selten hatte. Was gerade auf Held Down sehr gut zur Geltung kommt, einem Rockbrett wie von Robotern geschrieben, bei dem sich auf wunderbarste Weise John Garcia und Hildegard von Binge Drinking die Hand reichen. Muss man nicht mögen, aber zumindest für den Aha-Effekt lohnt sich die Sache richtig. Und ebenfalls eine tolle Gruppe, die viel zu wenige Leute kennen und die viel zu kurzlebig war.



Empire of the Sun - Walking on a Dream
EMPIRE OF THE SUN
Walking On A Dream
aus dem gleichnamigen Album (2008)







Den unangenehmen Anstrich des One-Hit-Wonders aus der Handywerbung werden Empire of the Sun in diesem Leben definitiv nicht mehr los und alles, was sie in der letzten Dekade so machten, war auch wirklich ziemlicher Kram. Lediglich was das Debüt der beiden Australier angeht, geht vieles darauf auch 2020 noch erstaunlich gut klar. Wobei damals wie heute das eindeutige Highlight die vorliegende Leadsingle ist, die den Indiepop des Duos gleich am Anfang auf maximalste veredelte und der keine Soundtrack-Verwurstung und kein noch so albernes Kostüm von Luke Steele wirklich viel anhaben konnten. Und um die es allermindestens Schade wäre, wenn dieses seltsame Eigengewächs von Band in Vergessenheit geriete, beziehungsweise immer nur auf ihren anderen großen Song reduziert wird.



Imarhan - Imarhan
IMARHAN
Imarhan
aus dem gleichnamigen Album (2016)







Coole Touareg-Desertrock-Bands aus der Sahelzone, die groovigen Tishoumaren spielen, gibt es inzwischen schon wieder so viele, das fast jedes Label seine eigene davon hat. Aber zumindest wenn es nach mir geht, sind Imarhan aus Algerien die einzige von ihnen, die echte Hits schreiben können. Und besonders jener identitätsstiftende Song, den sie wohlwissend nach sich selbst benannt haben, hat diese gewisse Energie, die meist nur wirklich große Rocksongs haben. Obwohl ich kein Wort verstehe, will ich am liebsten mitsingen und obwohl es hier nichts in der Richtung eines deutlichen Riff-Motivs gibt, ist das Ding doch unglaublich treibend. Selbst für Fans eines gut gemachten Gitarrensolos ist hier jede Menge dabei und rein technisch lässt diese Band so manchen echten Rockstar alt aussehen. Man muss halt nur erstmal dahin kommen.



Jacques Brel - Jacques Brel
JACQUES BREL
Une Île
aus dem Album Jacques Brel (1962)







Une Île erschien insgesamt fast 15 Jahre bevor sich Jacques Brel 1977 in seinen verfrühten Lebensabend nach Polynesien zurückzog, doch klingt der große Chansonnier hier so, als wüsste er das alles schon. Denn vor allem beschreibt der melancholische Belgier, der ja eigentlich immer für seine grotesken und tragischen Texte bekannt ist, hier einen eskapistischen Sehnsuchtsort voll klarer Romantik und unverkommenem Kitsch. Obwohl das Szenario dabei sehr untypisch für seinen Stil ist, beschreibt er es doch mit der gleichen Eindrücklichkeit und der gleichen performativen Brillianz wie man es von ihm gewöhnt ist. Wobei die Harfen und Glockenspiele in der Begleitung ganz sicher auch nicht eben schaden. Ein sommerliches Lied unter tausend Herbstliedern in der Diskografie von Brel, aber gerade deshalb auch irgendwie so besonders.



Press Club - Late Teens
PRESS CLUB
Suburbia
aus dem Album Late Teens (2018)







Immer wenn man denkt, alle grandiosen Rockhymnen mit Springsteen-Flavour wären schon geschrieben, kommt irgendeine Blutjunge Band aus dem Nirgendwo daher und schreibt die nächste. Aktuelle PreisträgerInnen: Press Club aus Melbourne, genauergesagt aus dem Vorort Brunswick. Was für ihren bisher größten Hit Suburbia natürlich die klassisch-elegante Kombination aus großen Stadion-Refrains und dem ewigen Blues über die eingeigelten Großstadt-Speckgürtel zulässt, die sie hier auch prompt nutzen und zur Formvollendung führen. Wobei vor allem die Gesangsperformance von Sängerin Natalie Foster komplett überirdisch ist und das hier von einem guten Rocksong zur versteckten Hymne macht. Hofft man für sie, dass das vielleicht irgendwann eine echtes Arena mitsingen kann.



Karat - Über sieben Brücken
KARAT
Gewitterregen
aus dem Album Über sieben Brücken (1979)







Das tolle an einem Song wie Gewitterregen - und ferner einer Band wie Karat generell - ist ja, dass so etwas wie das hier ziemlich unauffällig auf jeder Schlagerparade laufen könnte, aber es in Musiknerd-Foren trotzdem eine immer wieder aufkeimende Debatte gibt, wie viele unterschiedliche Taktarten darin insgesamt vorkommen. Wobei ich vor allem bewundere, mit welcher Nochalance sowas bei ihnen gemacht wurde und wie sich wieder einmal zeigt, dass die beste Nerdigkeit die ist, die man anfangs gar nicht bemerkt. Letztlich nur noch ein Punkt mehr auf der Liste, warum sehr viele Leute unbedingt mehr Karat hören sollten und gerade die Prog-Fraktion hier eine ziemlich clevere Band verschmäht. Hat mir am Ende vor allem geholfen, meine lästige Schlager-Phobie abzubauen.



Asian Dub Foundation - Facts and Fictions
ASIAN DUB FOUNDATION
Jericho
aus dem Album Facts & Fictions (1995)







Eine der vielen Sachen, die ich an Reggae ungemein liebe ist die Fähigkeit, gleichzeitig spirituelle und politische Themen von Weltrelevanz zu verhandeln und trotzdem so zu klingen, als würde es gerade bloß um Bienchen und Blümchen gehen. Und obwohl die Asian Dub Foundation dafür ein schlechtes Beispiel sind, weil später noch unter die Punker gingen und diese Qualität damit ablegten, haben einige Teile ihres frühen Outputs sie noch sehr im Blut. Mein Favorit unter diesen Songs wird dabei wahrscheinlich auch immer Jericho bleiben, der diesen Vibe konsequent über sieben Minuten zieht und dabei in zig verschiedene klangliche Gegensätze eintaucht. Würde der Aufruf zum Umsturz der Verhältnisse immer so klingen, würden ja vielleicht mehr Leute mitmachen.



Donald Byrd - Byrd in Flight
DONALD BYRD
Ghana
aus dem Album Byrd in Flight (1960)







Es brauchte vor zwei Jahren lediglich dieses eine Stück von Donald Byrd, in mir das Verlangen zu säen, mir sukzessive über 50 Alben von diesem Typen anhören zu wollen und Stand 2020 kann ich mich Sicherheit sagen, dass es eine meiner liebsten Jazznummern aller Zeiten ist. Die schiere Vielfalt an Motiven, die hier stattfinden, die ausnahmslos großartigen Soli, der behutsame, aber doch bestimmte Sound und wie das Quartett um Byrd hier immer wieder vom zackig-rhythmischen ins melodische Legato und zurück wechselt, ist einfach eine Klasse für sich, die ich immer wieder großartig finde. Was leider auch dafür sorgt, dass ich mir meistens lieber das anhöre als seine anderen Platten, und ich mit dem Rest seiner Diskografie eher mühsam vorankomme. Das hat man eben davon, wenn man den besten Song zuerst gehört hat.



Erobique - Urlaub in Italien / Überdosis Freude
EROBIQUE
Urlaub in Italien
von der 12''-Single Urlaub in Italien/Überdosis Freude (2018)







Ich muss es einfach tun.



LABRASSBANDA
Sunliachtn
aus dem Album Habediehre (2008)







Sunliachtn ist ein Song, der für eine so lausbubige Band wie LaBrassBanda eigentlich viel zu elegant und andächtig ist und der vielleicht auch ein bisschen deshalb sos schön ist, weil er sich selbst nicht zu hundert Prozent ernst nimmt. Trotzdem ist es ein Stück mit einer Message, die so universell anwendbar ist wie die großartige Musik dahinter, die für Sternschnuppennächte und Sonnenaufgänge gemacht wurde. Und nicht nur für das tolle erste Album der Gruppe aus Chiemgau ist er damit der optimale Schlussstrich, sondern auch für eine Liste wie diese hier, der so ein majestätischer Tupfer Ruhe und Besonnenheit gerade noch gefehlt hat. LaBrassaBanda sind jetzt nicht unbedingt die erste Adresse für sowas, aber ich bin gerade froh, dass sie heir stehen.