Donnerstag, 16. Juli 2020

Boris for Beginners


ボリス - No
[ dampfwalzig | lärmig | vielschichtig ]

Mit inzwischen fast 30 Jahren im Business und einer Diskografie, die egal in welcher Zählweise mittlerweile über 40 Tonträger umfasst, sind Boris in der obskuren Schattenwelt des extremen Metal nicht nur eine der großen Koriphäen mit unfickbarer Szene-Credibility geworden, sondern vor allem auch eine Band, die ihre Fühler in so ziemlich jede Richtung ausgestreckt hat. Allein wenn man sich die letzten fünf Jahre ihres Outputs ansieht, findet man als Fan der gepflegten Krachmusik darin mit Sicherheit mindestens ein Projekt, das irgendwie dem persönlichen Gusto entspricht. Vom klassischen Doom Metal über Drone, Noise, Shoegaze, Sludge und Hardcore haben die drei TokyoterInnen inzwischen so ziemlich alle erdenklichen Varianten erforscht, die eine Gitarre, einen Verstärker und einem Koffer voller Effektpedale einschließen, und über das alles den Überblick zu behalten, fällt bisweilen schwer. Doch konnte man sich bei all der Vielschichtigkeit bis vor kurzem wenigstens sicher sein, dass sich pro Album exklusiv einem musikalischen Thema gewidmet wurde. So war die Merzbow-Kollaboration Gensho 2016 der wilde Noise-Ausflug, Dear ein Jahr später die rumpelige Doom-Renaissance und Love & Evol aus der letzten Saison die etwas zartere Exkursion ins Territorium von Shoegaze und Drone. Die persönlichen Favoriten herauszupicken, war dabei immer recht einfach, weil wenigstens die Alben für sich relativ stringent waren. Weshalb es von einer strukturellen Perspektive her ein wenig schade ist, dass sie damit nun brechen, indem sie auf ihrer neuesten LP plötzlich alles auf einmal machen. Wobei das natürlich auch heißt, dass wir hier zum ersten Mal seit langem einen ziemlich guten Querschnitt der Palette kriegen, die sich Boris während der letzten 30 Jahre erarbeitet haben. Soll heißen: No bringt alle klanglichen Phänotypen dieser Band ein bisschen näher zusammen. Da gibt es dampfwalzige Slowburner wie Genesis und Zerkalo, rotzige Punk-Brecher wie Anti-Gone oder Non Blood Lore, deftigen Sludgerock wie Lust und sogar ätherische Nummern wie HxCxHxC - Perforation Line - oder Interlude. Auf den ersten Blick mag das etwas chaotisch wirken und gerade ich als Fan organischer LP-Flows muss mich mit so einem eher Compilation-artigen Produkt erstmal eingrooven. Doch hat man die Zeit, sich daran zu gewöhnen, offenbart sich doch recht schnell die ganz ordentliche Qualität dieses Albums. Wobei vor allem das Songwriting hier so stark ist wie lange nicht mehr bei Boris. Den größten kompositorischen Hänger hat die Platte zwar leider gleich am Anfang mit den Punk-Nummern Anti-Gone und Non Blood Lore, die nach dem grandiosen Doom-Opener Genesis erstmal etwas zu schwachbrüstig wirken, doch wird dafür alles danach mit jedem Song nur noch besser. Schon im Mittelteil des Albums hat sich die stilistische Schwankung auf ein Maß eingependelt, wo sie eher überraschend als Vibe-killend ist, und spätestens wenn Kikinoue und Lust die ganze Drescher-Angelegenheit anschließend noch mal besser nachholen, gibt es eigentlich nichts mehr zu meckern. Und obwohl ich das Gesamtergebnis am Ende doch ausbaufähig finde, muss ich sagen, dass ich seit Gensho nicht mehr so begeistert von einer Boris-LP war, was ja inzwischen auch schon wieder fünf Alben her ist. Abgesehen von meiner persönlichen Einschätzung finde ich außerdem, dass No eine Platte ist, die sich gerade durch ihren Kompilations-Charakter und die Werkschau verschieder Stile vor allem für Leute eignet, die diese Band vorher noch nie gehört haben. Dem Phänomen Boris hier zu begegen bedeutet die Möglichkeit, sich anhand der hier gefundenen Lieblingssongs anschließend gezielt die Longplayer anzusteuern, die diesen jeweiligen Stil fortsetzen und sich eben nicht durch 20 durchwachsene andere Releases hören zu müssen. Ich für meinen Teil hätte mir so ein Album gewünscht, als ich damals anfing, diese Band zu hören. Denn zu erforschen gibt es weiß Gott viel. Und das Leben ist ganz einfach zu kurz, um jedes ihrer Alben zu hören.


Hat was von
Full of Hell
Trumpeting Ecstasy

Thou
Blessings From the Highest Order

Persönliche Höhepunkte
Genesis | Zerkalo | HxCxHxC - Perforation Line - | Kikinoue | Lust | Fundamental Error | Loveless | Interlude

Nicht mein Fall
Anti-Gone | Non Blood Lore

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