Freitag, 30. April 2021

Endlich Jetzt

Porter Robinson - NurturePORTER ROBINSON
Nurture
Mom+Pop
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ unbeschwert | hyperpoppig | sonnig | futuristisch ]

Ich wusste vor diesem Album wirklich nicht viel über den Künstler Porter Robinson und befand mich lange Zeit in einem Verhältnis zu ihm, das ich als unbeschwerte Ignoranz bezeichnen würde. Ich wusste irgendwie, dass er vor etlichen Jahren mal ein relativ beliebtes EDM-Album gemacht hatte, das ich aber niemals selbst gehört hatte. Und da man seitdem nicht mehr von ihm hörte, ging ich einfach davon aus, dass die Welt an seinem Output einfach kein Interesse mehr hatte. Als ich vor einigen Tagen ob des kleinen Hypes um diese neue LP wegen nochmal nachschaute, merkte ich, dass mein Wissen um ihn so eingeschränkt gar nicht war. Denn stand letzten Freitag ist Nurture tatsächlich erst der zweite Longplayer des Kaliforniers und damit der einzige, den er seit besagtem damaligen Debüt (Worlds heißt dieses übrigens und erschien im Sommer 2014) gemacht hat. Was seinen Output an diesem Punkt fast schon nicht mehr zu einem Comeback, sondern fast schon zu einem kompletten Neuanfang macht. Denn was auf Nurture passiert, nimmt nicht nur zeitlich großen Abstand zu seinem Erstling, sondern auch stilistisch. Weil progressiven EDM der Marke Avicii und Calvin Harris 2021 niemand mehr machen will, verpasst Robinson seinem Sound auf diesen 14 Tracks ein zeitgenössisches Update und orientiert sich hier umfassend in Richtung Hyperpop und monogenrigem Crossover-Elektro um. Wo das auf dem Papier aber erstmal klingt wie ein Schachzug in Richtung der quotenstarken Playlisten und coolen Tiktok-Kids, scheint hinter der Frischzellenkur auf Nurture wirklich eine ernste Leidenschaft zu liegen. Denn wollte Robinson hier nur Hits schreiben, könnte er das sicherlich auch ohne den ganzen kompositorischen und klanglichen Extraaufwand tun. Dass Eingängigkeit nicht sein Problem ist, zeigen hier Tracks wie Musician oder Look at the Sky, die mit ihren schnuffligen, aber doch irgendwie nachdenklichen und präsenten Vibes optimal zugeschnitten sind auf ein modernes Gefühl von Popmusik und sich auch nicht schämen, kommerziell zu sein. Was mich hingegen erstaunt ist, wie weit die Platte dahinter trotz solcher Spitzen in den experimentellen Bereich abtaucht und stellenweise wirklich herausfordernd wird. In nicht wenigen Tracks hört man an Iglooghost oder PC Music erinnernde Glitch-Elemente und abgefahrene Parts nicht nur im Sinne bratzig-ironischer Hyperpop-Einflüsse, sondern sinfonischer Kunstmusik. So wäre der Opener Lifelike in einem niedlich-verpixeltem Indiegame nicht schlecht aufgehoben und Wind Tempos tobt sich in seinen über sechs Minuten auf unzählige Weisen im pittoresken Neofolk aus. Analoges Instrumentarium taucht dabei auf dem gesamten Album immer wieder auf und erinnert mich an die Elektrofolk-Experimente von Leuten wie Bibio, Bon Iver oder Four Tet, was im krassen Gegensatz zur bratzigen Ästhetik einiger anderer steht. Dann gibt es aber auch Tracks wie Dullscythe, in denen beide Ansätze sich begegnen, was den tollen Effekt hat, dass Nurture trotz seiner Vielseitigkeit niemals chaotisch oder unfokussiert klingt. Im Gegenteil: Porter Robinson erschafft hier eine Ästhetik von zeitgenössischer Elektromusik, die viele Dinge miteinander verbindet. Sie ist sehr eingängig, aber auch krass kreativ. Sie hat viel vom Spirit der Hyperpop-Bubble, schafft aber auch sehr viel Organik und innere Ruhe. Sie klingt gleichzeitig extrem kommerziell als auch nach tief empfundener Liebe zur Frickelei. Und das beste daran: Alles davon funktioniert zu ihrem Vorteil. Auch wenn ich die vorherigen Sachen von Porter Robinson so gut wie gar nicht kenne, habe ich den Eindruck, dass die Jahre danach genutzt wurden, um hier einen wirklich eigenen Sound zu schaffen, der sehr viele Impulse in sich aufnimmt und am Ende etwas präsentiert, das wirklich besonders ist. Sowohl für den Künstler selbst als auch für den Zeitgeist der Popmusik, der von so einer Platte definitiv nur profitieren kann. Die Nerds hat er dabei schon für sich gewonnen, zum Ausfüllen des Spektrums braucht er jetzt nur noch einen Tiktok-Hit.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Lifelike | Look at the Sky | Wind Tempos | Musician | Dullscythe | Mirror | Something Comforting | Blossom

Nicht mein Fall
-
 
 
 
Hat was von
the Naked & Famous
Recover
 
Iglooghost
Lei Line Eon

Donnerstag, 29. April 2021

Alles wegen Schalke

International Music - EntentraumINTERNATIONAL MUSIC
Ententraum
Staatsakt
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ kunstig | kauzig | krautig ]

Bis zu diesem Album hier kannte ich die Musik von Peter Rubel und Pedro Crescenti eigentlich vor allem als eine Art blöden Gag, der in Teilen meines erweiterten Freundeskreises schon eine Weile kursiert. Seitdem mir ein Freund vor einem Jahr den Düsseldorf Düsterboys-Song Parties mit der inzwischen berüchtigt gewordenen abschließenden Schalke 04-Zeile (die man einfach selber hören muss) zeigte, ist das erste, woran ich bei diesen beiden Künstlern denken muss, eben dieser Song. Sicher habe ich aus purer Neugier in der Zwischenzeit auch mal in die anderen Sachen von ihnen reingehört und wusste zumindest, dass International Music als die Hauptband des Songwriting-Duos existiert, Ententraum ist aber sozusagen mein erster Deep Dive mit ihnen. Wobei ich an erster Stelle sagen muss, wie vertraut dieses Erlebnis trotz meiner überschaubaren Erfahrung mit Rubel und Crescenti war. So sehr, dass ich bis jetzt noch nicht wirklich sehe, wo genau - außer auf personeller Ebene - eigentlich der Unterschied zwischen International Music und den Düsterboys liegt. Sicher, dieses Album ist ein klein wenig rockiger und zeigt eine deutliche Verbindung zu Psychedelik und Kraut-Spirit der Siebziger, doch gibt es definitiv mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die sehr gediegenen kompositorischen Strukturen, das klangliche Faible für retrofixierten Nobelkitsch, der schlauchige Gesang der beiden und vor allem ihre poetisch-abstrakten, philosophisch unterspülten Post-Tocotronic-Texte. Ententraum ist vielleicht nicht ganz so ein lyrisches Album wie die Sachen von den Düsterboys und leistet sich ausführliche Jam- und Solopassagen, stark im Vordergrund ist die Sprache hier aber trotzdem noch immer. Und wieso auch nicht, ist sie doch nach wie vor die stärkste Eigenschaft an diesem Duo und sein größter Wiedererkennungspunkt. Die Komik und Surrealität vieler Zeilen mag ich dabei mal wieder besonders, auch gerade in Verbindung mit dem etwas krautrockigen Flair der Musik, der in Symbiose herrlich an kompositorische Dada-Rock-Formate wie AG Geige, Jan Frisch oder Dÿse erinnert. Worum es dabei geht, ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal, die schöne Form des Albums reicht mir zur vollen Zufriedenheit. Obwohl ich hier am Ende auch leider ein wenig den Konjunhktiv bemühen muss, denn obwohl ich das Grundsetting hier wahnsinnig gerne mag, setzen International Music dieses nicht an allen Stellen gleich gut um. Wo Tracks wie Wassermann, Höhle der Vernunft oder Der Traum der Ente als herrlich weirde kleine Kunststücke funktionieren, gibt es an anderer Stelle Sachen wie Zucker, Misery oder Erosion Korrosion, die einfach nur sinnlos und ein bisschen an den Haaren herbeigezogen wirken. Der Grat zwischen Genie und Blödsinn ist dabei unfassbar schmal und auf welcher Seite man welchen Song einordnet, hängt wahrscheinlich sehr vom eigenen Geschmack ab. Ich für meinen Teil finde den ersten Teil der LP ziemlich stark und vor allem die ersten drei Tracks genial, spätestens ab Zucker wird es aber mehr und mehr durchwachsen. Wobei es dem Genuss der Platte auch definitiv abträglich ist, wie unnötig lang sie ist. Würde Ententraum aus zehn ausgewählten Stücken aus dieser Tracklist bestehen, wäre es mit Sicherheit angenehmner zu hören als diese elend langen 17 Songs in 63 Minuten, die zusammen mit der gewohnt sparsamen Dynamik des Rubel/Crescenti'schen Songwritings irgendwann sehr einschläfernd werden. Das alles frustriert mich sehr, denn vom Ansatz her ist das hier ein Stück Musik, dass ich wahnsinnig gerne gemocht hätte. Es ist schlau gemacht, hat ein Gefühl für nischige Deutschrock-Vintage-Vibes und vor allem ein gehöriges Potenzial für dämliche Quotables und Memes. Ein gutes Album ist es aber beim besten Willen nicht, weshalb das alles irgendwie einen fahlen Beigeschmack bekommt. Wobei ich denke, dass man das hätte ahnen können, wenn man einer Band nur wegen einer einzigen witzigen Zeile auf den Leim geht. Allerdings würde ich es auch jederzeit wieder tun.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11

Persönliche Höhepunkte
Fürst von Metternich | Höhle der Vernunft | Wassermann | Spiel Bass | Immer mehr | Der Traum der Ente | Dschungel | Los Angels

Nicht mein Fall
Erosion Korrosion | Zucker | Misery | Marmeladenglas | Beauty and the Bar

Montag, 26. April 2021

Wir werden ja sehen

The Armed - Ultrapop THE ARMED
Ultrapop
Sargent House
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ ungewöhnlich | monogenre | herausfordernd ]

Hätte ich von der Band the Armed nicht erst vor wenigen Wochen das erste Mal gehört, wären sie sicherlich eine Sache, die mich auch vorher schon irgendwie faszinieren würde. Und von dem was ich von den Anderen mitbekommen habe, ist ihr bisher größter Selling Point auch irgendwie, wie enigmatisch sie sind. Als gänzlich anonymes Kollektiv mit bis zu diesem Album eiserner DIY-Attitüde (die beiden Vorgänger von Ultrapop erschienen ohne Label als kostenfreie Downloads) war die Gruppe schon strukturell sehr schwer zu fassen, ihre eigenwillige Mischung aus Hardcorepunk, Noise, Electronica, Mathrock und Indiepop tat das übrige. Im Internet wurden the Armed in den letzten sechs Jahren über die Stille Post der Obernerds weitergereicht, bis über kurz oder lang auch die großen Musikmedien und Labels auf sie aufmerksam wurden. Ihre dritte (oder je nach Zählweise auch schon vierte) LP erscheint nun beim Nobel-Indie Sargent House, kostet Geld, hatte eine ausführliche Promophase und Mark Lanegan im Studio. Weniger rätselhaft wirken the Armed dadurch trotzdem nicht. Wie wahrscheinlich schon zuvor liegt das vordergründig an ihrem extrem schwer fassbaren Songwriting, das sich selbst mit den Parametern eines selbsternannten Nischenrock-Connaisseurs wie mir schwer einordnen lässt. Die Vergleiche mit anderen Bands, die ich an dieser Stelle gerne anführe, wirken bei ihnen irgendwie in den Haaren herbeigezogen und finden immer nur in einzelnen Elementen Bezug. Da ist mal ein fitzeliger Gitarrenpart der Sorte And So I Watch You From Afar, mal ein lärmiger Schreimoment wie früher bei Melt-Banana, mal die jammige Rotzigkeit von Sonic Youth, mal das melancholische Chaos-Harmonie-Amalgam von My Bloody Valentine, mal ein bisschen Emo-Attitüde und mal fast schon Pop. Einen wirklichen Kern hat die Komposition der Gruppe aber nie wirklich, oder wenn dann nur verzerrt. So sind Tracks wie All Futures, A Life So Wonderful oder Average Death strukturell recht melodisch, verstecken ihre Eingängigkeit aber hinter einer undurchdringlichen Wand aus Krach, die die Kanten unklar zeichnet. Songs wie Big Shell oder An Iteration, die eine klare Marschrichtung haben, kommen erst später und können auch nicht mehr den komischen ersten Eindruck retten. Wobei sich auch hier das Dickicht nicht wirklich löst. Selbst in seinen klarsten Momenten ist dieses Album ein Monument des Monogenre, das gleichermaßen faszinierend wie verwirrend ist. Der klangliche Ansatz von the Armed ist dabei definitiv originell und viele Ideen hier finde ich auch gut, doch kann ich nicht gänzlich sagen, dass mich Ultrapop qualitativ überzeugt. Besonders die besagte erste Hälfte der Platte schafft durch ihre undurchdringliche Art einfach keine Basis, auf der ich mich hier eingrooven kann und obwohl die Platte danach wesentlich besser wird, braucht sie zu diese Zeit, um sich erstmal selbst zu finden. Zeit, die man auch mit besseren Tracks hätte füllen können. Es kann tatsächlich gut sein, dass the Armed hier an irgendetwas extrem spannenden dran sind, das ich einfach noch nicht verstehe und es würde sicher helfen, nochmal ihre alten Alben zu hören. Doch selbst wenn diese LP noch so visionär ist, sie hat klangästhetisch ihre Probleme. Ob das hier alles Sinn ergibt, wird also erst die Zukunft zeigen. Ich persönlich bin gespannt und drücke die Daumen, habe aber im Moment auch noch eine gesunde Menge Skepsis. Der neue Hyperpop dürfte Ultrapop also wahrscheinlich nicht werden. Und ja, dieser Pun musste jetzt definitiv noch sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Big Shell | Faith in Medication | Where Man Knows Want | Real Folk Blues | Bad Selection

Nicht mein Fall
Ultrapop | All Futures | Masunaga Vapors

Samstag, 24. April 2021

pickituppickituppickituppickituppickituppickitup

Jeff Rosenstock - SKA DREAM JEFF ROSENSTOCK
Ska Dream
Specialist Subject
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ skanky ] 

Schon witzig, dass es ausgerechnet ein Ska-Album ist, dass mich dazu bringt, nach so vielen Jahren nun doch noch aus meiner eisernen Ignoranz gegenüber der Musik von Jeff Rosenstock auszubrechen. Und nein, es liegt nicht nur daran, dass er hier auf ziemlich clevere Weise einen Running Gag bedient. So aberwitzig Ska Dream mit seiner Prämisse und dem verschmitzten Rollout auch sein mag (Die LP wurde am 1. April inklusive des Erscheinungsdatums am 20. April angekündigt, weshalb sie viele nur für einen Scherz hielten), hinter der ironischen Lulz-Fassade, die Rosenstock hier aufzieht, steckt sehr wahrscheinlich eine tief empfundene Leidenschaft für das Medium Ska. Eine für die ich ihm großen Respekt zollen muss. Als jemand, der selbst eine langjährige Hassliebe für diese popkulturelle Nische empfindet und auch seit langem auf der Suche nach den Perlen inmitten dämlicher südamerikanischer Festivalbands ist, finde ich es gut, an Ska zu glauben. Und dieser Künstler tut das ganz offensichtlich auch. Selbst mit seiner Backstory als Scherzalbum und der Tatsache im Blick, dass hier vor allem Teile von Rosenstocks letztem Soloalbum No Dream recycelt werden, findet Ska Dream sehr viel Platz für Details, Historie und Selbstverständnis des Genres. Wobei alle möglichen Spektren des Sounds ausgeleuchtet werden. Was genau dabei die klanglichen Bezugspunkte auf welche prägenden Bands sind, habe ich auch nur aus zweiter Hand von selbsternannten Ska-Expert*innen im Internet, doch auch als Laie funktioniert das hier. Natürlich lässt es sich Rosenstock an erster Stelle nicht nehmen, erstmal mit dem trendigen Third-Wave-Sound der späten Neunziger zu kokettieren, alles andere wäre auch enttäuschend gewesen. Am Ende ist er selbst ja auch ein Kind des Pop-Punk, von dem Gruppen wie Sublime, Ska-P oder Reel Big Fish nur einen Steinwurf entfernt sind. Doch schafft er es erstens, dabei kein bisschen dämlich zu klingen und geht zweitens in vielen Momenten tiefer. In allen möglichen Details lässt sich auch mal ein Bezug zu oldschooligem Reggae und Dub ausmachen, an anderer Stelle zitiert er aus der rustikal geprägten britischen Szene und wieder woanders den sehr punkigen Sound aus den USA. Dass er von den Ursprüngen des Genres in Jamaika und der Karibik die Finger lässt, finde ich auch gar nicht verkehrt, für sowas wäre er auch einfach viel zu weiß. Insofern ist Ska Dream zwar kein umfänglicher historischer Deep Dive, was aber auch niemand verlangt hätte. Ich für meinen Teil schätze es in erster Linie als ein Album aus dieser musikalischen Nische, über das man sich schwerlich lustig machen kann. Und zwar nicht deshalb, weil es so ironisch-distanziert ist, sondern weil es sich mit einer liebenden Ernsthaftigkeit hinter das memegewordene Stück Musik stellt und ohne jede Ironie gut gemacht ist. Solche Platten sind es, die Ska als popkulturelles Phänomen braucht und die letztendlich dafür sorgen, dass es irgendwann vielleicht mal aufhört, so ein Witz zu sein. Auch wenn es für den Moment erstmal ziemlich witzig ist.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Airwalks (Alt) | SKrAm! | S K A D R E A M | Horn Line | p i c k i t u p | Leave It in the Ska | Old SKrAp | Checkerboard Ashtray | Ohio Porkpie

Nicht mein Fall
-

Freitag, 23. April 2021

Frau Zschoche bleibt stur

Haiyti - Mieses Leben HAIYTI
Mieses Leben
Hayati
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ futuristisch | badass | eigenwillig ] 

Es ist echt eine ganze Weile her, dass ich auf diesem Format mal in aller Ausführlichkeit über die Musik von Ronja Zschoche aka Haiyti gesprochen habe und für lange Zeit war das auch gewisser Maßen Absicht. Nachdem spätestens ab Mitte 2017 irgendwie klar war, dass die Hamburgerin nicht die Art Künstlerin ist, die ihr immenses Talent irgendwann auf einem großen Majordebüt bündelt und stattdessen lieber ein windiges Mixtape nach dem anderen auf die Welt loslässt, war ich eine Weile lang ziemlich skeptisch, wo sie diese Herangehensweise langfristig hinbringen würde. Wobei ich vier Jahre später noch immer nicht so richtig sagen kann, dass es irgendwie das eine oder das andere ist. Auf eine strukturelle Weise finde ich es immer noch wahnsinnig schade, dass sie sich für diese Quantität-statt-Qualität-Strategie entschieden hat, die in meinen Augen ihrem Potenzial nicht gerecht wird. Viele ihrer Mixtapes aus den letzten Jahren zeigen ein unfassbares Können und immensen stilistischen Weitblick, sind aber auch immer irgendwie mit der heißen Nadel genäht und sehr durchwachsen, was das Ergebnis angeht. Aus den besten Sachen ihrer drei neuesten Platten könnte man locker ein durchweg geniales Rap-Album zusammenstellen, das im Kontext Deutschrap wirklich einen Unterschied machen würde. So jedoch nagt Haiyti immer nur an der Basis und bleibt in einem nervigen Mittelmäßigkeits-Loop hängen. Zugute muss man ihr dabei aber halten, dass sie für sich einen sehr eigenen Stil entwickelt hat, der sich wirklich vom Gros der Rest-Szene unterscheidet. Stand 2021 ist es praktisch unmöglich, die Hamburgerin mit irgendeinem anderen deutschsprachigen Rap-Act zu vergleichen und selbst international fällt mir spontan niemand so wirklich ein. Was auch zum Teil daran liegt, dass sie sich kreativ in ständiger Metamorphose befindet und auf jedem Song schon drei Schritte weiter denkt als auf dem letzten. Faszinierend ist die künstlerische Figur Haiyti also nach wie vor, für mich persönlich aber auch immer wieder ziemlich frustrierend. Warum also halte ich ausgerechnet bei diesem Album nun inne und gehe aus meiner Beobachtungshaltung wieder in die aktive Besprechung über? Verschiedene Gründe sind dafür letztendlich verantwortlich, vor allem ist Mieses Leben in meinen Augen aber das erste Album seit etwa White Girl mit Luger von 2017, das wirklich für sich interessant ist. Und zwar nicht nur als Übergangspunkt, sondern als geschlossenes Gesamtwerk. Es ist kurz gesagt vielleicht das beste der Hamburgerin seit City Tarif, was effetiv bedeutet, dass sie hier zumindest das Maximum aus ihrer kreativen Husch-Husch-Strategie herausholt. Die vorliegenden 18 Tracks sind damit zwar noch immer sehr skizzenhaft formuliert und wirken unkonzentriert bis fahrig, haben jedoch immerhin einen ungefähren Fokuspunkt und eine gemeinsame klangliche Ästhetik. Produzent Project X übernimmt hier ein weiteres große Teile der Beats, die alle sehr futuristisch und rough klingen. Haiyti selbst perfektioniert dazu weiter ihre eigenwillige Attitüde zwischen atziger Straßenkriegerin, glamouröser Lebedame und arroganter Kunststudentin, die hier endlich mal wieder richtig kickt. Mieses Leben ist dabei wieder mehr rotzige Trap-Platte als artsiger Post-R'n'B, was definitiv hilft, aber auch die lyrische Arbeit hier ist auf einem selten guten Level. Seit langem bin ich hier mal wieder beeindruckt davon, wie die Künstlerin hier mit Sprache spielt und sehr unkonventionelle poetische Ideen in ihren Style einbezieht (Haiyti kann Wörter wie "Verließ" oder "Schlaffitchen" überraschend gangster klingen lassen). Die auffälligen und tollen Momente sind dabei natürlich Banger wie Paris, Was noch oder 50/50, mein persönliches Highlight ist mit dem Closer Wolken aber überraschenderweise eine der wenigen Balladen. Zwischendurch gibt es zwar wieder viele peinliche Augenblicke wie OMG oder Minusmensch, die kurz vom stabilen Fokus ablenken, doch findet die Platte diesen meist recht schnell wieder. Und im Gegensatz zu den letzten paar Haiyti-Alben hält der allgemeine Vibe hier durchweg stand. Sogar die beiden Features sind mit Kaisa Natron auf 8 Stunden Arbeit und Jace (💗) auf 50/50 erstaunlich gut ausgewählt und schaffen beide spannende Ergänzungen zu den jeweiligen Tracks. Aber auch wenn Mieses Leben im allgemeinen ziemlich cool ist und mir wieder einige Hoffnung für diese Künstlerin macht, zeigt es doch vor allem, wie viel Luft noch nach oben ist. Vieles hier fühlt sich gut gemacht und wahnsinnig innovativ an, könnte aber zig mal besser sein, hätte man nur etwas mehr Arbeit reingesteckt. Ein paar Zeilen, die vielleicht noch hätten ausgebessert werden können, mal drei Gesangstakes mehr, an dieser und jener Stelle noch etwas mehr Bums auf dem Beat: Solche Kleinigkeiten würde es in meinen Augen brauchen, um aus diesem okayen Album ein sehr gutes zu machen. Und obwohl ich weiß, dass Haiyti genau diesen Anspruch an ihre Musik nicht hat, kann ich doch nicht anders, als darauf zu beharren, dass er ihr sehr gut zu Gesicht stehen würde. Wenigstens einmal, nur um es auszuprobieren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Snob | Helikopter | Freitag | Was noch | Paris | 8 Stunden Arbeit | 50/50 | Wolken

Nicht mein Fall
Intro | OMG | Minusmensch

Mittwoch, 21. April 2021

Kritische Fallprognosen

Conway the Machine - La maquinaCONWAY THE MACHINE
La Maquina
Griselda | Drumwork | Empire
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ kriminell | lyrisch | routiniert ] 

Ich hatte bereits im Oktober der vergangenen Saison davon gesprochen, dass dieser Moment früher oder später kommen würde und es sieht so aus, als wäre er jetzt hier. Der Moment, an dem Griselda die Magie der letzten Jahre verlieren würden, sich stilistisch im Kreis drehen und über kurz oder lang auch nur eine von vielen okayen Formationen des New Yorker Rap-Untergrunds werden würden. Zugegeben, er kam nicht so plötzlich wie ich zunächst dachte und der schleichende Prozess der Normalisierung begann für mich bereits im Dezember 2020 mit Burden of Proof von Benny the Butcher, doch ist La Maquina nun der Scheidepunkt, an dem ich von mehr sprechen kann als nur von einer Ahnung. Ganz konkret deshalb, weil diese LP seit Ewigkeiten die erste von Griselda ist, die definitiv nicht besser wird als nett bis ganz in Ordnung. Was in erster Linie schon wieder beeindruckend ist, denn dass das Label sein atemberaubendes Niveau nun über zwei Jahre lang bei einem dermaßen hochfrequenten Output gehalten hat, lässt sich nicht mehr ausradieren. Diesen Lauf haben die New Yorker jetzt für immer in ihrer Kartei und das kann ihnen niemand wegnehmen. Und letztlich ist ja auch diese Platte nur ein Symptom, vielleicht nur das eines vorübergehenden Formtiefs. Aber irgendwann mussten die goldenen Zeiten ja mal aufhören und in meinen Augen ist dieses Irgendwann eben La Maquina. Womit ich übrigens nicht sagen will, dass dieses Album scheußlich ist, es fühlt sich nur zum ersten Mal dort routiniert und gewöhnlich an, wo alle Platten vorher aufregend und genial waren. Wobei es mich schon irgendwie enttäuscht, dass dieser Fluch ausgerechnet Conway the Machine trifft, den Griselda-MC mit den meiner nach besten Zukunftsprognosen. Mit seinem Quasi-Debüt From King to A God war er letzten Sommer der erste, bei dem sich eine musikalische Größe abzeichnete, die über das Konstrukt seines Stammlabels hinausging. Wo jemand wie Benny the Butcher, von dem die letzten paar schwachen Platten kamen, für mich eh noch nie der große Bringer war, hatte Conway den Absprung vom pontenziell guten zum tatsächlich beeindruckenden Rap-Künstler schon geschafft. La Maquina hat diese klangliche Größe auch wieder, ist an vielen Stellen sogar nochmal fetter, versteht es aber nicht mehr so gut, diesen Platz zu füllen. Viele der Lyrics des New Yorkers finde ich wieder sehr gut (insbesondere die erste Strophe des Openers Bruiser Body mit ihren bordsteinkantigen Dealer-Lines), zu oft wiederholen sie aber bereits bekannte Motive und auch Conways Flow wirkt irgendwie routiniert und eingeschlafen. Zum ersten Mal habe ich auf einer Griselda-LP hier das Gefühl, dass der Hauptakteur regelmäßig von seinen Gästen übertrumpft wird und gerade Songs wie Scatter Brain (geniale Parts von JID und Ludacris) und Sister Abigail (Wahnsinns-Part von 7xvethegenius) sind nur der Features wegen interessant. Dass Gastperformer*innen sich bei diesem Label immer besonders Mühe zu geben scheinen, war von Anfang an ein wichtiger Selling Point, ist aber völlig sinnlos, wenn die eigentlichen Stamm-MC*s das nicht mehr tun. Und auch in Sachen Beats wirkt La Maquina irgendwie halbfertig. Zwar sind die Instrumentals auf Tracks wie 200 Pies, 6:30 Tipoff oder S.E. Gang auf den ersten Blick ziemlich cool und bestechen durch kreatives Sampling, doch gibt es darin in den meisten Fällen kaum Veränderung. Und wenn ich über drei oder vier Minuten den identischen Loop höre, kann er noch so gut geflippt sein, er wird irgendwann langweilig. Was leider dazu führt, dass viele pontenziell gute Stücke nicht die Schlagkraft haben, die sie hätten haben können. Was natürlich nicht heißt, dass La Maquina nicht trotzdem seine coolen Momente hat. Prinzipiell empfinde ich die Platte trotz aller Unstimmigkeiten als okay bis gut. Doch wo die bisherigen Griselda-Projekte - vor allem auch die von Conway - immer spielend leicht eine krasse Genialität aufbauten, ist hier das Gegenteil der Fall. Auch mit viel Mühe, technischer Finesse und hochkarätigen Features schafft es dieses Album nie ganz, meine Erwartungen zu bestätigen. Und so schade das auch ist, es war eben nur eine Frage der Zeit. Wobei meine Prognose auch ist, dass das Formtief erstmal anhält. Zumindest so lange, bis Griselda sich ein paar neue Tricks überlegen, die sie wieder ganz nach oben bringen. Das dürfte dann etwa im kommenden Herbst der Fall sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
KD | 200 Pies | Sister Abigail | Scatter Brain | S.E. Gang

Nicht mein Fall
Bruiser Body | Hat to Hustle

Dienstag, 20. April 2021

Familie Slime

Young Stoner Life, Young Thug & Gunna - Slime Language 2YOUNG STONER LIFE, YOUNG THUG & GUNNA
Slime Language 2
Young Stoner Life | 300 Entertainment
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
[ trapmosphärisch | ausführlich | cool ]

2020 war für mich persönlich das Jahr, in dem ich meinen Frieden mit dem atmosphärischen Trap-Album auf Überlänge machte. Mit ein bisschen Hilfe der guten Platten von Trippie Redd, Lil Baby, Playboi Carti und (zum wiederholten Mal) Drake, aber auch durch einen weitgehenden persönlichen Perspektivwechsel schaffte ich es, diese ganz bestimmte Sorte von Rapalbum über kurz oder lang nicht nur zu tolerieren, sondern sogar irgendwie mögen zu lernen. Und zwar nicht als Kompromiss, sondern als das, was sie im besten Fall sind: Ätherische und irgendwie subtil groovende Vibe-Teppiche, bei denen Inhalte und Dynamik sekundär sein mochten, aber von denen trotzdem eine starke Ästhetik ausging. Eine, die mich vielleicht nicht emotional herausfordert, die jedoch auf jeden Fall weniger langweilig ist als ich das zunächst dachte. Wobei ein Typ wie Young Thug in diesem Zusammenhang nochmal doppelt spannend wurde. Als einer der wenigen Akteur*innen, für die ich mich schon im Vorfeld meiner Bekehrung interessierte und viele Jahre als bessere Alternative zum großen Cloudrap-Mittelfeld sah, wird er nach selbiger zu nicht weniger als dem kreativen Genie dieses Sounds, das diese Ideen im besten Fall subversieren und umdenken kann. Das zumindest war meine Hoffnung in Bezug auf ein Album wie Slime Language 2, das nicht nur quantitativ sein bisher größtes Projekt zu werden schien, sondern auch künstlerisch. Nach dem Achtungserfolg seines ersten Crew-Schrägstrich-Label-Projekts von 2018 und dem kommerziellen Debüt So Much Fun von 2019 (nach dem jetzt auch lange nichts kam) wurde die vorliegende LP von vielen Fans sehnlich erwartet, was die lange Verschiebung des Erscheinungstermins sicherlich nicht besser machte. Dass sich Thuggers Nachwuchsprogramm seit dem ersten Mal gelohnt hat, merkt man nicht zuletzt auch daran, dass sein einstiger Protegée Gunna inzwischen als eine Art Pull-Faktor ebenfalls auf dem Cover steht und die Reihen hinter den beiden sich nochmal verdichtet haben. Personell gesehen sind aber sicher auch die vielen hochkarätigen Features von Leuten wie Travis Scott, Lil Baby, Lil Uzi Vert, Future, Big Sean, Skepta, Kid Cudi, Meek Mill und (zum wiederholten Mal) Drake interessant, die den Hype zusätzlich anfüttern. Und grundsätzlich kann ich erstmal sagen, dass dieses Album meine Erwartungen auf eine sehr ahnbare Weise erfüllt hat. Strukturell und klanglich ist das ganze Ding eine einzige Wolke, innerhalb der ein dutzend nuschelnde Südstaatenkids ihren kollektiven Hedonismus zelebrieren und dabei den Spaß ihres Lebens haben. Die künstlerische Federführung liegt dabei weniger bei der Person Young Thug als vielmehr bei seinem stilistischen Vermächtnis, insofern so gut wie Alle aus der YSL-Crew totale Thugger-Klone sind (mit Ausnahme von Karlae, die sich hier mit ihren Parts in I Like und Trance als veritable Newcomer-Hoffnung etabliert). Wo das aber theoretisch die Gefahr birgt, eine solche Platte monoton werden zu lassen, ergänzen sich die einzelnen Stimmen hier großartig und finden die Kontraste wenn nötig in Form importierter Features, die ebenfalls fast immer recht gelungen sind. Gerade im ersten Teil der Platte gibt es sogar viele sehr originelle und überraschende Momente wie das melodische Proud of You, das timbalandige Came & Saw oder das grantige WokStar, die erneut für die Vielseitigkeit der Marke Young Thug sprechen. Und auch wenn diese LP in der zweiten Hälfte dann doch ein paar nervige Längen entwickelt und marginal an Grip verliert, wird sie niemals belanglos oder öde. Im Gegenteil: Mit seiner energischen Gemütlichkeit, seiner ulkigen Kreativität und seiner nimmermüden Verspieltheit ist Slime Language 2 in meinen Augen eine der besten Platten, die der Rapper je gemacht hat. Und allein dass es unter 23 Songs hier keinen einzigen wirklich doofen gibt, sollte das deutlich untermauern. Wenn man die Faustregel nimmt, dass Thugger immer dann am besten ist, wenn er mit anderen zusammenarbeitet (mein Lieblingsalbum von ihm ist noch immer seine Future-Kollaboration Super Slimey von 2017), dann potenziert sich die Qualität seines Outputs ja vielleicht mit der Anzahl der Partner*innen und man kann definitiv sagen, dass mit ihm auch sein Label besser wird. Wo die erste Version von Slime Language 2018 noch ein gutes, aber ignorierbares Spinoff war, entwickelt sich die Serie hier zu einem zentralen Fokuspunkt des Universums Young Thug und einem potenziellen Highlight seines Katalogs, der immer wieder großes verspricht. Denn auch wenn der Meister selbst mal langweilig werden sollte, das hier ist für diesen Fall die bestmögliche Nachwuchsförderung. Zumindest wenn ihm die ganzen Talente nicht direkt wieder ausbüchsen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫ 08/11
 
Persönliche Höhepunkte
Slatty | Ski | Diamond Dancing | Solid | Came & Saw | Real | I Like | Warrior | Post N Pans | WokStar | Superstar | Came Out | Really Be Slime | Take It to Trial | Trance | GFU | Moon Man | Reckless | That Go!

Nicht mein Fall
-

Montag, 19. April 2021

Immer schön episch bleiben

Motorpsycho - Kingdom of OblivionMOTORPSYCHO
Kingdom of Oblivion
Stickman
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ rockig | ausführlich | entspannt ]

Als ich mich vor etwas mehr als fünf Jahren das erste Mal so richtig in Motorpsycho verliebte, war das vor allem deshalb, weil ich so begeistert von der schieren Vielseitigkeit dieser Band war. In der musikalischen Phase, die die Norweger zu diesem Zeitpunkt durchliefen, hatten sie gerade ihr gigantoeskes Jazzprog-Klassik-Orchesterwerk the Death Defying Unicorn hinter sich gebracht, mit Still Life With Eggplant direkt eine ziemlich rockige LP hinterhergeschoben und sich auf Behind the Sun ein bisschen dem sonnigen Prog-Exzess hingegeben. Auf drei aufeinanderfolgenden Alben in drei aufeinanderfolgenden Jahren hatte das Trio also drei ziemlich verschiedene klangliche Ansätze ausprobiert, die alle ganz schön cool waren. Und als ich kurz danach auch noch in die ältere Diskografie der Gruppe einstieg, hob ich noch viel mehr solcher Schätze. Zugegebermaßen war nicht alles darin total super, doch immer mal wieder überrascht zu werden, war für mich der Hauptgrund, überhaupt ein Fan von ihnen zu werden. Und lange funktionierte das für mich auch zur vollsten Zufriedenheit. Selbst der Ausstieg von Ex-Drummer Kenneth Kapstad 2016 und dessen Austausch durch Tomas Järmyr ein halbes Jahr später brachte die Maschine Motorpsycho nicht aus dem Konzept und resultierte nach einem okayen Aufwärm-Release 2017 sehr schnell wieder in guter Musik. Vielleicht sogar ein bisschen zu viel davon, denn als die Band im letzten Herbst nach zwei bereits sehr stattlichen Platten mit the All is One innerhalb kürzester Zeit ein weiteres anderthalbstündiges Opus Magnum auftischen wollte, war es bei mir kurz vorbei. Mein zu dieser LP verfasster Artikel liest sich rückblickend wie ein ziemlicher Rant auf die Übersättigung, die die Norweger in den letzten Jahren zur Normalität gemacht hatten und ist voller ernsthafter Enttäuschung darüber. Und ja, besagtes Album leidet in meinen Augen noch immer unter seinem sinnlosen Gewicht und Größenwahn. Nur sollte man das unter keinen Umständen als prinzipielle Kritik an Motorpsycho verstehen, denn wenn jemand überdimensionierte Prog-Epen kann, dann sind das sie. Und zum Glück erleben wir mit Kingdom of Oblivion mal wieder eine LP, die das ziemlich gut zeigt. Zwar hatte ich nach dem Debakel mit the All is One erstmal einen ziemlichen Kloß im Hals, als hier nach etwas mehr als einem halben Jahr schon wieder 70 Minuten auf der Uhr standen, doch ist hier ein ganz entscheidener Punkt anders: Wo auf dem Vorgänger die viele Zeit mit jeder Menge unnötigem Gewichse gefüllt wurden, haben die Norweger hier einfach genug gutes Material geschrieben, um die Überlänge zu füllen. Da sie wie viele Musiker*innen im Zuge von Corona nicht die Mögichkeit zum touren hatten, exponentierte sich bei ihnen binnen der letzten Monate vermutlich die sonst schon überschäumende kreative Energie, und weil diese Band hier erfahrungsgemäß niemals Leerlauf zulässt, ist die neue Kollektion eben schon jetzt da. Und kompositorisch ist hier auf jeden Fall wieder ordentlich was los. Nach dem sehr schnörkeligen und sinfonischen letzten drei Platten ist Kingdom of Oblivion an vielen Stellen wieder etwas loser, verjammter und vor allem rockiger. Das dominierende Element dieser LP sind eine Reihe dicker Riffs, von denen mitunter gleich mehrere einen Song definieren können. Statt der krampfigen Reißbrett-Energie, die ihre letzte Phase mitunter hatte, hört man dieser Platte an, wie sie aus flockigen Proberaum-Jams entstanden sind und wie viele Lockdown-Projekte der letzten 14 Monate ist auch sie für die Bühnen geschrieben, auf denen sie gerade nicht stattfinden darf. Kreativ gesehen machen Motorpsycho dabei wenig wirklich neues, doch wenigstens spürt man eine Freude am musizieren, die ich zuletzt oft vermisst hatte. Und für seine stattliche Länge ist Kingdom of Oblivion erstaunlich kurzweilig. Ganz aus der Krise heraus sind die Norweger hier aber trotzdem noch nicht. Zugegeben, die neuen Songs machen viele Dinge wieder besser, doch hat sich an der Strategie und am Setting der Band wenig geändert. Ohne Unterbrechung diese wuchtigen Epen zu veröffentlichen mag beeindruckend sein, macht das Besondere aber zur Routine und verwässert die Schlagkraft des einzelnen Gesamtwerks. Und so gut ich das Ergebnis hier auch finde, aktuell habe ich in meiner Erfahrung der Gruppe zum ersten Mal das Gefühl, nicht mehr wirklich gespannt auf individuelle neue Releases zu sein. Auch wenn diese Platte also mal wieder ziemlich gelungen ist, denke ich nicht, dass Motorpsycho ihr grundsätzliches Quantitäts-Problem gelöst haben. Wenn ich mir an diesem Punkt etwas von ihnen wünschen könnte, dann wäre das ein bisschen Bescheidenheit. Kingdom of Oblivion ist in diese Richtung schon ein guter Schritt, doch geht in dieser Hinsicht bestimmt noch mehr. Oder in diesem Zusammenhang vielleicht lieber weniger.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
the Waning Pt. 1 & 2 | Kingdom of Oblivion | Lady May | the United Debased | Dreamkiller | Atet | the Hunt

Nicht mein Fall
the Watcher | the Transmutation of Cosmoctopus Lurker