Donnerstag, 8. April 2021

Der Organismus

Iglooghost - Lei Line EonIGLOOGHOST
Lei Line Eon
Gloo
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ pittoresk | harmonisch | verträumt ] 

Es gab in den letzten Jahren einen Teil von mir, der es eigentlich ganz okay gefunden hätte, wenn Seamus Malliagh alias Iglooghost nie wieder ein richtiges Album aufnimmt. Die vielen kleinen EPs, Zwischendurch-Singles, Remixes und sonstigen Exkurse, die traditionell den Hauptanteil der Diskografie des Briten stellen, schienen sich gerade zuletzt als die Formate zu erweisen, in denen dieser auch musikalischen am besten arbeitete. Kurze Releases, die dafür mit hörerer Frequenz erschienen und nach Lust und Laune experimentierten, waren seinen vielseitigen musikalischen Exkursen sowie der nerdigen Lore dahinter in meinen Augen wesentlich zuträglicher und machten gerade durch eine gewisse Sprunghaftigkeit umso mehr Spaß. Wohingegen sein bisher einziger Longplayer Neō Wax Bloom von 2017 in meinen Augen immer eines seiner unspektakuläreren Releases blieb. Wirklich große Erwartungen hatte ich an Lei Line Eon, das ertste Großformat seit mittlerweile vier Jahren, also nicht unbedingt. Wenn überhaupt, würde es wahrscheinlich ein weiteres Album werden, auf dem Iglooghost einen mehr oder weniger umfassenden Querschnitt seines aktuellen Sounds abliefert, der qualitativ okay ist, künstlerisch aber auch nicht viel zu sagen hat. Rückblickend eine Vermutung, mit der ich nicht falscher hätte liegen können. Denn nicht nur ist das vorliegende Material durchaus ein kreatives Statement des Briten, es schlägt auch nochmal ein völlig neues Kapitel in seiner musikalischen Einordnung auf. Vor allem insofern, dass es hier erstmals echt schwierig wird, seine Songs vordergründig als elektronische Musik zu bezeichnen. Und ja, das ist durchaus etwas ziemlich neues. Zwar gab es in der Marke Iglooghost bereits vorher Ausflüge in diverse Crossover-Bereiche seines hibbeligen IDM-Styles und ein gut platziertes Piano oder eine Geige hörte man dabei des öfteren, doch ist Lei Line Eon die erste Platte, auf der diese Impulse wirklich dauerhaft präsent sind. Von einigen Tracks wie Pure Grey Circle oder Soil Bolt würde ich sogar sagen, dass sie viel deutlicher in eine Indiefolk-, Klassik- oder gar Postrock-Richtung gehen als in eine elektronische und dass Acts wie Ichiko Aoba, Yndi Halda, Sigur Rós oder Joe Hisaishi teilweise naheliegendere Assoziationen sind als Aphex Twin oder PC Music. Wenn ich hier jemandem aus dem Electronica-Bereich als Impulsgeber heranziehen würde, dann am ehesten jemanden wie Four Tet, der diese Art von Crossover strukturell sehr ähnlich macht. Nur hat auch der nicht die sinfonische und pittoreske Handhabe, die Malliagh hier an den Tag legt. Wobei man sich von dieser Ästhetik nicht täuschen lassen sollte: Wie schon auf seinen vorherigen Releases beherrscht es Iglooghost hier stets, mit einem fetten, verglitchten Break in jedes noch so harmonische Akustikmotiv reinzugrätschen und auch mal etwas ungemütlich zu werden. Teile von Big Protector haben sogar einen nicht zu unterschätzenden Hyperpop-Vibe. Und irgendwelche verschraubten Field Recordings und Samples zwielichtiger Herkunft findet man überall. Manchmal sehr atmosphärisch und schick wie beim Kinderchor in Amu (Disk•Mod), manchmal eher subtil und verstörend wie das Geräusch in Zones U Can't See, das verdächtig nach Körperflüssigkeiten klingt. Clever ausgearbeitet sind die Strukturen aber in jedem Fall. Dass Iglooghost Details kann, wusste ich zwar schon vorher, nur kamen diese selten so schön zur Geltung wie hier. Was mich an dieser Stelle auch nochmal auf die makellos geniale Produktion zu sprechen klingt, die aus absolut jeder klanglichen Nische das Optimum herausholt. Technisch wie künstlerisch ist Lei Line Eon also nicht weniger als das bisherige Opus Magnum des Briten, auf dem alles, was an ihm schon immer toll war, nochmal ein großes Stückchen besser wird. Für mich persönlich ist es außerdem das erste Mal, dass ich in seiner Diskografie mal so richtig innehalten und das bewundern kann, was er musikalisch geschaffen hat. Dazu kommt man bei der Flüchtigkeit seines Outputs sonst eher selten und wenn man einmal an diesem Punkt ist, wird alles drumherum umso beeindruckender. Dass er sich hier die Zeit für eine ausführliche und sorgfältig gemachte LP genommen hat, war am Ende also doch die absolut richtige Idee. Und tatsächlich hoffe ich aktuell, dass er diese Art von Platten jetzt öfter macht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11
 
Persönliche Höhepunkte
Eœ (Disk•Initiate) | Pure Grey Circle | Big Protector | UI Birth | Zones U Can't See | Amu (Disk•Mod) | Yellow Umbra

Nicht mein Fall
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