Montag, 12. April 2021

Und jetzt mit Anlauf

Glasvegas - GodspeedGLASVEGAS
Godspeed
Go Wow Records
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ hymnisch | cineastisch | düster | retro ]

Glasvegas. Das ist mal ein Name, den ich lange nicht gehört habe. Ziemlich überraschend tauchte die Band in der vergangenen Woche mit diesem neuen Album auf meinem Release-Radar auf und brachte mich erstmal dazu, ausführlich zu googeln. Über sieben Jahre ist es inzwischen tatsächlich her, dass die Formation aus Glasgow das letzte Mal neue Musik veröffentlicht hatte und die Vermutung, dass sie sich seitdem einfach aufgelöst hätten, war deshalb irgendwie naheliegend. Wie sonst hätte eine Gruppe, die in den späten Zwotausendern von der Presse als die neuen U2 ausgerufen wurde und deren Debütalbum in Großbritannien damals Platinstatus erhielt, so sehr in Vergessenheit geraten können? Tatsächlich war es um sie aber einfach nur sehr lange ruhig geworden. Nach dem kommerziellen Flop ihres (unterschätzten) letzten Albums Later...When the TV Turns to Static von 2013 (für das sie extra einen lukrativen Deal beim Labelriesen Sony BMG unterzeichnet hatten) waren sie irgendwie abgetaucht und nutzten anschließend die Zeit, um ihre Angelegenheiten gründlich zu regeln. 2021 sind einige der ursprünglichen Mitglieder nicht mehr dabei, die Band veröffentlicht wieder über ein Indielabel und hat hier anscheinend auch nicht den Anspruch, ein großes Comeback aufzuziehen. An der Größe ihrer Musik hat das allerdings wenig geändet. Auch in geschrunmpfter und bescheidenerer Form klingen Glasvegas noch immer nach der Art von Rockgruppe, die mit ihrer Musik die Welt heilen oder zumindest deren Ungereimtheiten maximal hymnisch besingen will. Die besten Songs auf Godspeed klingen nach den raumgreifenden New Wave-Radiohits der Achtzigerjahre und trotz seines noch dicker gewordenen schottischen Akzents hat Sänger Jim Allan nichts von der Bono-haftigkeit seiner Performance verloren. Und grundsätzlich kann man dabei sagen, dass die Kernqualitäten der Formation seit 2013 vollständig unversehrt geblieben sind. Auch hier findet ihr Sound wieder die optimale Balance zwischen altpoppiger Entrücktheit und großer Theatralik, ist gleichzeitig in Nischen verkrauscht und weltumarmend durch die Decke gerichtet und trotz aller melodramatischen Gesten kein bisschen kitschig. Godspeed ist dabei sicherlich das bisher düsterste Album der SchottInnen, das mit vielen harten Synth-Passagen, Postpunk-Momenten und einer eher zurückhaltende Produktion spielt und auch in den Lyrics irgendwie unbehaglich wird. Wie viele britische Bands stehen auch Glasvegas hier deutlich unter dem Eindruck des politischen Klimas der letzten Jahre, das sie hier auf spannende Weise mit der Ästhetik der frühen Achtziger parallel setzen (die in Großbritannien ja relativ vergleichbar sind) und daraus irgendwie ein musikalisches Leitmotiv bilden. Besondere Fixpunkte sind dabei New Order, die Psychedelic Furs, Shoegaze, ein bisschen Madonna, die Smiths und natürlich U2. Inhaltlich ist dieser Herangehensweise nicht cleverer oder origineller als die jeder anderen britischen Postpunk-Band, die Stylings aus dieser Zeit abschaut, doch machen Glasvegas das ganze kompositorisch etwas interessanter. Der Opener Dive hat diese überlebensgroße synthetische Hook, die großartig als Totale auf die gesamte Ästhetik der LP funktioniert, Keep Me A Space ist der obligatorischen Weltretter-Moment mit dick aufgetragener Bono-Aura, In My Mirror der verhinderte Goth-Banger und der Titelsong als Abschluss fast schon sakral und ehrwürdig. An vielen Stellen fühlt sich Godspeed dabei an wie ein guter Soundtrack für einen imaginären Film, der irgendwie im Elend der schottischen Arbeiterklasse zuhause ist, egal ob nun in den Achtzigern oder in der Gegenwart. Ein Porträt dieses Umfelds ist es dabei weniger inhaltlich als klanglich und gefühlsmäßig. Und obwohl es am Ende auch viele seltsame und etwas unnötige Stellen gibt, bin ich mit dem Ergebnis insgesamt sehr zufrieden. Nach so vielen Jahren ohne neue Musik und mit ihrem Hintergrund hatte ich befürchtet, Glasvegas würden 2021 völlig belang- und ideenlos klingen. Tatsächlich scheinen sie in der Zeit, die sie weg waren, ordentlich aufgeräumt und ihren Sound nochmal fokussiert zu haben, was man hier auch wirklich merkt. Weshalb ich an dieser Stelle vor allem neugierig sind, wie sie damit jetzt weiter verfahren. Wird diese LP ein einmaliges Ding bleiben und die Band sich jetzt weiter Zeit mit neuem Material lassen oder ist das hier wirklich eine Art Comeback, mit dem sie es nochmal von vorne versuchen? Ich persönlich wäre letzterer Variante nicht abgeneigt, denn in meinen Augen zeigen sie hier mehr Potenzial als je zuvor.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Dive | Keep Me A Space | In My Mirror | Godspeed

Nicht mein Fall
Shake the Cage (für Theo) | Parked Car (Interior)

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