Sonntag, 31. Januar 2021

Mr. Roboto

Steven Wilson - The Future Bites STEVEN WILSON
the Future Bites
Caroline International
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ klinisch | pretenziös | zukunftspessimistisch ]

Es ist in erster Linie eine naheliegende Vermutung, dass der Steven Wilson der Zwotausendzwanziger kein Interesse mehr daran hat, ein Rockmusiker zu sein. Was sich seit dem letzten Album seiner Hauptband Porcupine Tree und deren inoffizieller Auflösung 2009 bereits andeutete, hat sich in den zwölf Jahren, der nun solo unterwegs ist, noch verhärtet. Seine letzte ansatzweise rockige Platte the Raven That Refused to Sing ist von 2013, und selbst die war nicht gerade ein Pommesgabelbrett. Stattdessen scheint es ihn seitdem vor allem in die Gefilde des Erwachsenenpop und Synth-Prog zu ziehen, immer mal mit ein paar neuen Ausprägungen und Ideen dahinter. Die anschließende Frage, ob das eine gute Nachricht ist, lässt sich indes nicht so leicht beantworten. Zumindest für mich nicht. So hat die Hinwendung weg von Gniedelei und technischer Masturbation auf der einen Seite für das Ende einer sehr anstrengenden Prog-Diskografie gesorgt und resultierte noch vor einigen Jahren in Platten wie Hand.Cannot.Erase oder 4 ½, die ich eigentlich ganz gerne mochte. Auf der anderen neigt Wilson jetzt auch mehr und mehr dazu, diese bestimmte Sorte von neunmalklug-snobistischen, Black Mirror-artigen We Live in A Society-Alben zu machen, die teilweise noch anstrengender sind als die schlimmsten Phasen seiner früheren Bands. Und leider Gottes ist seine neueste LP the Future Bites mal wieder ein ziemlicher Härtefall davon. Ich würde mich sogar dazu hinreißen lassen, sie als die bisher schwächste Soloplatte des Briten zu bezeichnen. Was erneut an zwei Hauptfaktoren liegt, die beide viel mit Haltung zu tun haben. Einfach erklärt sind sowohl Texte als auch Musik dieses Albums aus einer sehr selbstgefälligen Position heraus geschrieben, die einfach sehr schnell nervt. Grundsätzliches Konzept ist dabei mal wieder die moderne, technokratische Gesellschaft und der damit einhergehende, prognostizierte Sittenverfall. In Self geht es um Selbstinzenierung mit einer guten Portion Snowflake-Bashing, Man of the People disst neurechte Fake-News-Politiker*innen, also letztendlich vor allem Boris Johnson und Personal Shopper handelt vom bösen Kapitalismus. Wie schon auf vorigen Alben benennt Wilson diese Probleme dabei grundsätzlich, schafft es allerdings nicht, sie als Teil größerer Probleme zu identifizieren. Viel eher zeigt der anklagende Finger des Albums auf eine empfundene Schlafschafigkeit der Endverbrauchenden, die es hier zu den Hauptverantwortlichen des Untergangs abkanzelt und mit Verheißungen redpillt, die schon in den Neunzigern konservativ gewesen sein dürften. Wobei man ehrlich gesagt froh sein kann, dass Wilson sich wenigstens die aufklärerische Corona-Hymne gespart hat, die seinen boomerigen Ted Talk thematisch noch richtig gut abgerundet hätte. Doch wäre auch das alles nur halb so wild, wenn wenigstens die Umsetzung stimmen würde, die aber ähnlich konservativ und ahnbar ausfällt. Weil das hier ja ein Album über die schlimme Technokratie und Entmenschlichung der Gesellschaft ist, muss es natürlich kalt, maschinell und synthetisch klingen. Wilson macht dabei im Prinzip Popmusik, aber eben nicht die kommerzielle Sorte, die der Plebs hört, sondern eine aufgeklärte Reinform. Was in etwa heißt, dass diese von jeglicher persönlichen Note und Action entkeimt wurde und nun einfach extrem klinisch und langweilig wirkt. In den schlimmsten Momenten klingt das ganze dann aufgebläht-schlagerig wie auf 12 Things I Forgot, in anderen wie Eminent Sleaze versucht die Platte mit Schnapsideen wie Funk-Licks und subtilen Beats, der Sache noch irgendwie Leben einzuhauchen. Trauriger Höhepunkt ist dann das fast zehnminütige Personal Shopper, dessen zweite Hälfte zu sehr großen Teilen aus einer Computerstimme besteht, die wahllos Produktnahmen über ein hektisches New Wave-Motiv intoniert. Eine Idee, die garantiert noch niemand vorher hatte. Die wenigen okayen Momente der LP sind letztendlich die, die am simpelsten gestrickt sind und in denen es mal etwas ruhiger wird. Und auch wenn die allein die Suppe nicht wirklich fett machen, zeigen sie zumindest andeutungsweise, dass Steven Wilson es prinzipiell immer noch drauf hat, wenn er nicht gleich Jesus Ghandi Skywalker sein will. Nur kommen diese Momente auf the Future Bites eher selten vor. Und das ist genau der Punkt, an dem ich keinen Bock auf diese Platte habe, was auch nicht zum ersten Mal der Fall ist. Wäre das hier die Musik des menschlichen Widerstands im Kampf gegen die Maschinen, dann wäre ich für meinen Teil schon lange auf der Seite der Maschinen. Denn wo die wenigstens Hatsune Miku haben, haben wir nur diesen blutleeren Prog-Lauch mit Gottkomplex. Und damit nicht den Hauch einer Chance.

🔴🔴🔴03/11

Persönliche Höhepunkte
Man of the People | Count of Unease

Nicht mein Fall
Self | 12 Things I Forgot | Eminent Sleaze | Personal Shopper

Samstag, 30. Januar 2021

God Only Knows

Weezer - OK Human WEEZER
OK human
Crush
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ eingängig | pittoresk | schnörkelig ]

Schaut man dieser Tage zurück auf die letzten paar Jahre in der Karriere von Weezer, ist es direkt schon wieder erstaunlich, in was für eine selten dämliche Situation sich die vier Kalifornier da manövriert haben. Ich würde dabei nicht mal sagen, dass es besonders schlecht um sie steht oder ihre Karriere am kippen wäre, im Gegenteil. Nur scheint es auf diesem Planeten keine andere Band zu geben, die an diesem Punkt ihres Bestehens bei so vielen Leuten für solches Kopfzerbrechen sorgt. Mit inzwischen fast 30 Jahren auf dem Buckel und einer äußerst mitteilungsfreudigen Fanbase in der Hinterhand umgibt das Quartett aus Los Angeles inzwischen definitiv ein gewisser Legendenstatus, der aber bei weitem nicht so ehrerbieterisch ist wie der vergleichbarer Acts ihrer Generation. Statt gestandener Rockstars in den besten Jahren sind Weezer mehr als je zuvor eine Art lebendes Meme, das vor allem bei jungen Leuten relevant bleibt, und das nicht gerade der hochwertigen Musik wegen. Selbst eiserne Begleiter*innen der Band, die schon Mitte der Neunziger dabei waren, stimmen seit langem zu, dass der Katalog ihrer Lieblingsband bestenfalls durchwachsen ist und einige Schandflecke darin nicht zu verharmlosen hat. Welche das sind, darüber gibt es individuell recht viele Ansichten. Und gerade die letzten fünf Jahre waren meiner Ansicht nach nochmal ein besonderes auf und ab. Nachdem im Frühjahr 2016 das weiße Album so aussah, als würde es die spritzige Collegerock-Ästhetik ihres Debüts aus den Neunzigern zurückholen, bog Pacific Daydream ein Jahr später wieder steil in Richtung der jungen Laufkundschaft und Mainstream-freundlicheren Songs ab. 2019 folgten dann noch die völlig verpeilte Cover-Compilation Teal Album sowie die sehr wirre schwarze LP und 2020 wurde eine für Mai angekündigte Platte auf unbestimmte Zeit verschoben, für die nun stattdessen dieses Überraschungsalbum erscheint. Zu sagen, Weezer hätten zur Zeit keinen richtigen Plan, ist also noch mild formuliert. Wobei es dennoch erstaunlich ist, wie gut sie musikalisch doch noch sein können. Sicher, aus der eben beschriebenen Phase stammen einige ihrer schlimmsten Platten, aber eben auch einige ihrer besten. Und mit OK Human schaffen sie wieder mal eines der positiven Hochs dieser Achterbahnfahrt. In erster Instanz deshalb, weil sie sich ausnahmsweise mal für eine Leitidee entscheiden können und diese wenigstens 35 Minuten durchhalten. Der Sound der neuesten LP ist dabei insgesamt ein sehr Pop-orientierter, der vor allem durch die aufwändige Orchestrierung aller Songs zur Geltung kommt. Wäre das hier ein bisschen umfangreicher und würde Rivers Cuomo weniger zynische Texte schreiben, könnte man sagen, dass Weezer hier sowas wie ihr Pet Sounds aufgenommen haben. Denn zumindest vom Songwriting her erinnert vieles daran: Alle Tracks hier sind unglaublich catchy (sogar die ulkigen Interludes, die teilweise nur Sekunden gehen), die Instrumentierung sowie das Arrangement sind absolut Zucker und alles in Allem wohnt dem Album ein Vibe inne, der ebenso sonnig wie melancholisch ist. Letzteres kommt dann vor allem durch Cuomos Texte und Performance, die wie immer selbstmitleidig und ein bisschen cringy, aber trotzdem irgendwie cool sind. Klar bricht er damit des öfteren mal die umherschwirrende Atmosphäre des nostalgischen Kammerpop-Sounds, doch nie so, dass es wirklich unpassend wirkt. Sehr oft muss ich bei seiner Performance an jemanden wie Ezra Koenig von Vampire Weekend denken, der diesen Spagat zwischen ernsthafter Verehrung und trolligem Augenzwinkern auch immer gut hinbekommt. Und wenn die Refrains dann auch noch so gut sind wie hier, kann man der ganzen Sache nicht wirklich böse sein. Zugegeben, meine Euphorie für diese LP kommt aus einer Haltung, die schon immer die poppigen Weezer cooler fand als die rockröhrigen, und hier haben die Kalifornier dieses Konzept auf eine Art perfektioniert. Doch glaube ich auch nicht, dass man Pacific Daydream gut finden musste, um jetzt das hier zu mögen. Viel eher vermute ich in diesem Album für viele Leute einen einfacheren Zugang zu dieser Inkarnation der Band, bei der man weder billige EDM-Einflüsse noch furchtbare Rap-Sechzehner von Rivers Cuomo erdulden muss, um an die guten Stellen zu kommen. Und ich denke, das könnte dafür sorgen, dass OK Human auch endlich mal wieder von großen Teilen der Fanbase gemocht wird. Außer vielleicht nicht von den Pinkerton-Ultras, aber denen kann man sowieso nichts recht machen.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
All My Favorite Songs | Aloo Gobi | Grapes of Wrath | Playing My Piano | Bird With A Broken Wing | Here Comes the Rain | La Brea Tar Pits

Nicht mein Fall
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Donnerstag, 28. Januar 2021

Voll in die Pedale

Radio Supernova - Takaisin RADIO SUPERNOVA
Takaisin
Soit Se Silti
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ energisch | euphorisch | rockig ]

Es ist definitiv die eine Version einer geilen Sache, wenn Shoegaze diese wunderbar psychedelische, atmosphärische Form von verträumter Lärmmusik ist, die mich beim Hören federweich einlullt und mein Gehirn in fremde Galaxien abfeuert, ohne dabei in irgendeinem Moment heftig sein zu müssen, und ich habe dieser Ausführung des Genres meine anhaltende Liebe dazu zu verdanken. Jene Eigenschaft des Genres war es schließlich, die mich einst zum leidenschaftlichen Verehrer dieser euphorischen Krachorgien machte und die mich auch immer wieder dahin zurückholt. Doch sollte man auf keinen Fall unterschlagen, dass es auf dieser Welt auch noch eine zweite Ausprägung von gut gemachtem Shoegaze gibt, der in meinen Augen oft ein bisschen unterschätzt wird: Die Variante, die Mitte der Neunziger Bands wie Ride oder Swervedriver spielten und die immer auch ein bisschen in Richtung der großen Arenarock-Momente schielt. Diese etwas machohafte Bombast-Ausführung des Genres, das seit jeher von den Leisetreter*innen der Indiewelt geprägt wird, scheint im ersten Moment ein bisschen widersprüchlich, ist es aber keineswegs. Zumindest dann nicht, wenn man erstmal zuhört. Und je nachdem, was man sich impulstechnisch dazuholt, kann es durchaus sehr unterhaltsam werden. So wie bei Radio Supernova und ihrem zweiten Album Takaisin, das vor wenigen Wochen erschienen ist. Das künstlerisches "Alleinstellungsmerkmal" des finnischen Quintetts, eine sowieso schon sehr kräftige und pumpende Variation von Shoegaze-Songwriting um einen sehr starken Postpunk-Einschlag zu erweitern, mag dabei auf den ersten Blick etwas billig erscheinen, hat es aber in sich. Vor allem deshalb, weil diese Band es versteht, beides kompositorisch zu ergänzen. Als ein Album, das in den meisten Momenten sehr nach vorne orientiert ist, passt es wahnsinnig gut, wie beispielsweise ein rhythmischer Bass als struktureller Kontrast eingesetzt wird, um Songs wie Tammikuu fast schon tanzbar zu machen. Oder wie das atmosphärische Muukalaiset mit einem sehr eckigen Gitarrensolo aufgewertet wird. Vor allem sind aber die Songs hier gut geworden, ganz unabhängig von den stilistischen Feinheiten dahinter. Mit ihrer euphorischen und raumgreifenden Art erinnern mich Radio Supernova an viele von mir sehr geschätzte Bands, nicht nur aus dem Bereich Shoegaze. So gibt es hier teils sehr lärmige Passagen, die etwas von den späten Sonic Youth, circa Sonic Nurse, haben, die größten Rockstar-Gesten orientieren sich am dick aufgetragenen Britpop der Neunziger und obwohl ich die Performance von Sängerin Kata Riikonen nicht direkt mit irgendetwas bestimmtem assoziiere, bringt die doch ebenfalls einen völlig eigenen Vibe mit. Für meine persönliche Befriedigung möchte ich außerdem noch auf die beiden sehr obskuren Shoegaze-Referenzen Simon Says No! und This Love is Deadly verweisen, an die mich das hier sehr erinnert. An sich ist Takaisin mit all diesen Attributen kein wirklich spezielles oder visionäres Album, außerdem gibt es nur eine handvoll Songs, die mich wirklich aus der Reserve locken. Nichtsdestotrotz bin ich sehr überzeugt vom Ansatz, den Radio Supernova hier insgesamt fahren und kann das Ergebnis durchaus weiterempfehlen. Die Platte ist konsistent solide, ihre Energie hält von der ersten bis zur letzten Sekunde, man spürt hie die Leidenschaft für das Handwerk der Musik und schlussendlich rocken die meisten dieser Songs auch einfach ziemlich die Kajüte. Falsch machen kann man hiermit also eher wenig. Und wenigstens um diese Band im Auge zu behalten sollte es hier definitiv reichen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Tammikuu | Väkivaltaa | Kadoksiin | Nyt

Nicht mein Fall
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Mittwoch, 27. Januar 2021

Eine Theorie von Blau

Elori Saxl - The Blue of Distance ELORI SAXL
the Blue of Distance
Die-Ai-Wei
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ meditativ | ätherisch | erhaben | konzeptuell ]

Wann immer Musiker*innen aus dem Bereich des instrumentalen Ambient sich anschicken, ihrer Arbeit inhaltliche Konzepte zu verpassen und damit beginnen, einer an sich sehr abstrakten Kompositorik irgendwelche wüsten Prozesse zu erforschen, dann kann es erfahrungsgemäß schnell pretenziös werden. Unabhängig davon, wie gut eine jeweilige Platte rein musikalisch ist, ist es mitunter nochmal eine ganz andere Frage, was ein*e Künstler*in damit aussagen will. Und wenn es dabei an Dingen wie Lyrics oder einer nachvollziehbaren Struktur im Songwriting fehlt, wird es nicht selten schwer, klare Bezüge herzustellen. Und wie bei abstrakter Malerei oder Fluxus-Performances fragt man sich dann manchmal, wie viel von der angehefteten Idee im fertigen Produkt eigentlich drin steckt. Das neue Album von Elori Saxl ist da ein ziemlich gutes Beispiel. In einem sehr ausführlichen Begleittext zu the Blue of Distance beschreibt die New Yorker Künstlerin auf ihrer Bandcamp-Seite ein ziemlich hanebüchenes Konzept hinter dieser LP, das mit virtueller Realitätserfahrung, Projektion von Erinnerung, der Identität von Orten, modularen Synthesizern, Fotos auf Google Maps und dem Sampling von Wasser zu tun hat. Es gibt dabei viele Punkte, die ich offen gesagt nicht verstanden habe und auch wenn ich einige Grundgedanken echt spannend finde, habe ich keinen blassen Schimmer, wie genau sich das ganze nun auf ihre Musik überträgt. Doch habe ich beschlossen, Saxl in dieser Hinsicht einfach mal zu vertrauen. Immerhin ist die Frau in diesem Bereich äußerst erfahren, hat Scores für zahlreiche Dokumentationen komponiert und war sogar schon für Emmys nominiert. Dass sie weiß, was sie tut, kann man also annehmen. Und selbst wenn dem nicht so wäre, wäre es mir persönlich eigentlich egal. Denn was auf the Blue of Distance musikalisch passiert, ist so oder so richtig gut. Auf den sieben Tracks dieses Albums findet die New Yorkerin eine angenehme Balance zwischen elektronischen Ambient-Flächen, zeitgenössischer Klassik und Field Recordings, die insgesamt sehr meditativ und kohärent ist. An vielen Stellen scheint dabei eine gewisse Repetetion eine Rolle zu spielen, außerdem natürlich die bereits angesprochenen Klänge von Wasser, die hier in mannigfaltigen Formen auftauchen. Vieles daran erinnert irgendwie an die sinfonischen Projekte eines James Ferraro, eine weniger aufgekratzte Form des letzten Julia Holter-Albums oder an ätherische Doku-Soundtracks, die irgendwie ein Gefühl von Größe und Erhabenheit vermitteln. Mal sind sie dabei flirrend und detailverliebt, mal spannen sie weite kompositorische Bögen und mal wabern sie einfach vor sich hin. Die Art, wie dabei elektronische Flächen mit Streichern und Holzbläsern interagieren, ist äußerst stimmig und nicht selten echt clever gemacht. Als klangtapetige Chillout-Musik funktioniert the Blue of Distance dabei nur bedingt, da es doch manchmel sehr düster wird und man die clubbigen Einflüsse, von denen Saxl im Begleittext schreibt, ganz subtil mitbekommt. Der grundlegenden Qualität der Platte tut das aber keinen Abbruch, es macht sie vielleicht sogar ein bisschen aktiver als die meisten Ambient-Alben. Und obwohl ich glaube, dass mein persönliches Endresultat sich bei diesem Album erst auf längere Zeit hin wirklich zeigen wird, bin ich im Moment doch gefesselt von den Klängen, die hier fabriziert werden. Den Grund dafür begreife ich wie gesagt noch nicht ganz, aber auch das kann ja noch kommen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Blue | Wave I | Memory of Blue | Wave III | the Blue of Distance

Nicht mein Fall
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Dienstag, 26. Januar 2021

Manic Pixie Nightmare

Ashnikko - Demidevil ASHNIKKO
Demidevil
Parlophone
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ bratzig | angepisst | catchy | direkt ]

Es ist im Januar 2021 keine besonders große Sache mehr, dass eine auf den ersten Blick neue und unbedeutende Künstlerin wie Ashnikko auf der Welle eines Tiktok-Hits irgendwie in den kommerziellen Erfolg schliddert. Spätestens seitdem die Videoplattform sich über das letzte Jahr hinweg einen festen Platz im Kanon der großen sozialen Netzwerke sicherte, ist es zur Gewohnheit geworden, dass immer mal ein musikalischer Curveball-Banger dabei herumkommt, der die Charts aufmischt. Die wenigsten darunter schaffen es jedoch, von diesem Sprungbrett aus den Weg hin zu einer mittelfristigen Karriere zu bauen, was Ashnikko dann eben doch wieder besonders macht. Seit ihren ersten kleineren Achtungserfolgen vor drei Jahren hat die Britin sich im Musikbusiness unglaublich gut vernetzt, war unter anderem mit Danny Brown auf Tour sowie auf einem Track mit Hatsune Miku. Mit ihren sehr direkten Lyrics, einer unglaublich großen Klappe und der schrillen Blaue Haare-Horrorclown-PC Music-Hypertrap-Ästhetik machte sie außerdem einen bleibenden Eindruck bei großen Teilen der Laufkundschaft und fiel auf. Das Resultat ist spätestens jetzt sichtbar: Für ihr erstes Mixtape Demidevil hat die Londonerin beim renommierten Major Parlophone unterschrieben und lädt sich darauf mal eben Leute wie Grimes, Kelis und Princess Nokia ein. Auf kleine Brötchen hat sie also von vornherein schon keinen Bock. Und wieso auch? Dafür, dass diese 10 Songs in 25 Minuten noch nicht mal ein richtiges Album sind und Release-technisch wahrscheinlich nur den Ofen vorheizen sollen, ist hier schon ganz schön was los. Wobei ein großer Selling Point für viele sicherlich die unverhohlene Attitüde von Ashnikko ist. Bereits auf ihren früheren Songs war die Britin lyrisch sehr direkt und angriffslustig, was sich hier nicht ändert. Auf Demidevil kriegen vor allem missgünstige Hater*innen, ätzende Exen und schnarchige CIS-Männer ordentlich ihr Fett weg, wobei viele der Texte eigentlich nur bessere Rants sind. Die meiste Zeit über schadet ihnen das aber wenig bis gar nicht. Cool finde ich für meinen Teil vor allem die musikalische Ausgestaltung der Platte, die ein bisschen weniger bratzig ausfällt als erwartet, aber daran trotzdem keinen Schaden hat. So gut wie alle Songs hier sind unheimlich catchy, der Ästhetik entsprechend ausproduziert (also manchmal ganz schön assig) und zeigen auch Liebe fürs Detail. Immer wieder holt Ashnikko dabei Referenzen aus Emorock und Zwotausender-R'n'B dazu, die am Ende sogar in einer Art invertierten Girlpower-Coverversion von Avril Laviges Sk8r Boi gipfeln, die trotz einer gewissen Vorhersehbarkeit ziemlich cool ist. Was leider nicht immer ganz so gut gelingt. Wenn es eine Sache gibt, die mich an Demidevil wirklich mehr als ein bisschen stört, dann ist es seine Offensichtlichkeit in manchen Momenten. Vor allem dann, wenn Ashnikko versucht, ein bisschen in Richtung Comedy abzubiegen. Es gibt durchaus ein paar Punchlines, in denen ich schmunzeln musste (zum Beispiel die "dip like mayo"-Line in Drunk With My Friends), doch viele sind es nicht gerade. Wo Tracks wie Toxic oder Deal With It dadurch nicht groß an der lyrischen Schwäche leiden, ist es vor allem der Closer Clitoris! the Musical, der nochmal anders seltsam abdriftet. Spätestens hier versucht Ashnikko ganz effektiv, einen schlüpfrigen Novelty-Song zu schreiben, der aber in all seiner billigen Persiflage ungefähr so aufregend ist wie ein Heute Show-Sketch. Am Ende eines eigentlich ziemlich tollen Mixtapes ist das nochmal ein ordentlicher Drücker, der echt nicht hätte sein müssen. Doch schafft auch er es nicht, mir diese Künstlerin grundsätzlich madig zu machen. Wenn Ashnikko auf der Spur ist, hat sie definitiv eine erfrischende Energie, die extrem cool ist und zumindest für ein richtig gutes Album sollte die bei ihr noch reichen. Zugegeben, ein musikalischer Ansatz wie ihrer ist nicht unbedingt gemacht für jahrzehntelange Karrieren, aber gerade deshalb ist sie genau jetzt besonders interessant. Und sollte Nägel mit Köpfen machen, solange der Hype noch anhält.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11
 
Persönliche Höhepunkte
Daisy | Toxic | Deal With It | Slumber Party | Drunk With My Friends | Cry | Good While It Lasted

Nicht mein Fall
Clitoris! the Musical

Montag, 25. Januar 2021

Winter Wonderland

Grima - Rotten Garden
GRIMA 
Rotten Garden
Naturmacht Productions
2021











 
 
[ monumental | pittoresk | mystisch | märchenhaft ]

Wenn man wie ich mit einiger Leidenschaft dem kulturellen Kosmos des Black Metal ergeben ist, dann weiß man, dass unter der beinharten Schale vieler traditionell beflissener Bands der Szene mitunter ein sehr romantisch-verkitschtes Herz schlägt, das nicht selten einen Hang zu überaus schnulzigen Motiven hat. In Kaum einem Bereich der Popkultur trifft überbordende Misanthropie auf eine so tiefgreifende Hingabe für die Wildheit der Natur, verschneite Wälder, alte Volkssagen und Fantasy-Referenzen. Die gleichen Dinge also, die man meistens auch an osteuropäischen Märchenfilmen aus den Siebzigern cool findet. Nur erlebt man selten mal eine Band, die diese Hingabe wirklich offen zu schau stellt und sich traut, im Ausgleich dazu etwas weniger böse und menschenverachtend zu klingen. Zumindest, wenn man die ganze Pagan-Fraktion und exotische Phänomene wie Panopticon mal außen vor lässt. Doch um ein bisschen verwunschenen Pathos auch in dieser Szene zu spüren, muss man nur dorthin gehen, wo die ganzen Märchen aus den Filmen ursprünglich herkommen. Womit wir bei der Band Grima und deren vierten Album wären. Das seit 2014 aktive zweiköpfige Black Metal-Projekt kommt aus Krasnoyarsk in Sibirien, einer Gegend, in der es wahrscheinlich sehr viele verschneite Wälder gibt, die sagenumwoben und mystisch anmuten und in der man Väterchen Frost vermutlich aus dem Supermarkt kennt. Und wenn man sich Rotten Garden, das erste Mal anhört, merkt man das definitiv. Allerdings nicht deshalb, weil ihr ästhetischer Ansatz ganz besonders frostig und entmenschlicht klingt, sondern eher weil er manchmal ein bisschen cheesy und märchenhaft sein kann. Was zumindest eine Sache ist, die Grima in der Szene herausstellt. In den sechs Stücken dieses Albums finden sich über einem Kerngerüst aus sehr stabilen atmospherischen Black Metal-Motiven sehr viele folkloristische Anwandlungen und ein Sound, dem man seine Naturverbundenheit anhört. In At the Foot of the Red Mountains hört man melancholisches Akkordeon und Akustikgitarren, der Titeltrack wird mit einem Violinensolo und Geräuschen fließenden Wassers garniert, immer wieder gibt es kleine Intermezzi mit Glöckchen oder Keyboards und im Opener Cedar & Owls hört man sogar das lauschige Schuhuhen eines Waldkauzes. Im Zusammenspiel mit der Gewaltigkeit der Gitarrenkaskaden und den markerschütternden Vocals von Sänger Vilhelm ergibt sich dabei eine Ästhetik, die zwar schon etwas von klirrenden, monochromen Winterlandschaften mit mächtigen Nadelbäumen hat, die darin aber auch eine Magie findet, die nicht zu unterschätzen ist. Das hier ist nicht die postapokalyptische Wildnis, die man von den Vorbildern aus Norwegen kennt, das hier ist der mystische Zauberwald, in dem man diversen märchenhaften Kreaturen begegnet und sich ein Prinz in einen Bären verwandelt oder so. Was prinzipiell für dieses Album spricht, denn es macht die schon an sich guten Songs hier nochmal extra unterhaltsam und überraschend. Manchmal muss ich zwar auch sagen, dass Grima die Feder etwas tief in die Naturromantik-Tinte getaucht haben und hier doch sehr ins paganische übergehen, aber sind das nur ganz wenige Spitzen einer grundsätzlich sehr guten Sache. Und wenn ich zwei Dinge prinzipiell mag, dann sind es schwulstiger Kitsch und Black Metal. Hier haben wir das beste aus beiden Welten.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Cedar & Owls | At the Foot of the Red Mountains | Rotten Garden

Nicht mein Fall
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Freitag, 22. Januar 2021

Quirky Quicky

Pom Poko - Cheater POM POKO
Cheater
Bella Union
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ quirky | kantig | verspielt ]

Es hat ja nicht lange gedauert, bis auch 2021 wieder eine dieser jungen, schneidigen Neunziger-geprägten Indiebands mit charismatischer Frontfrau um die Ecke kommt und ein Album auf den Markt bringt, das ich ziemlich gut finde. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, dieses Jahr nicht mehr so ein leichtes Opfer für diese Art von Musik zu sein, aber da wären wir. Zu meiner Verteidigung: Pom Poko aus Trondheim und ihre zweite LP Cheater entsprechen nicht ganz dem Muster, dem ich hier für gewöhnlich Anheim falle. Denn im großen und weitreichenden Spektrum des Indie-Songwriterinnen-Powerpop-Rock stehen sie definitiv sehr weit auf der exzentrischen und lärmigen Seite und mit einem Bein auch schon fast im Mathrock. Ganz die übliche Nummer ist es also nicht. Obwohl wir grundsätzlich nur von einer kreativen Variaten des mehr oder weniger gleichen Rezepts sprechen, ist es ebendiese, der hier den Unterschied und diese Gruppe damit besonders macht. Sagen wir es mal so: Der ganzen weirden Noise-Deko drumherum ist es zu verdanken, dass ich neugierig auf diese Platte geworden bin, geblieben bin ich aber vor allem wegen der kompositorischen Linie des Ganzen und weil die Songs von Pom Poko einen vertrauten Kern haben. Was die Zusammensetzung des Sounds der NorwegerInnen angeht, gibt es auf jeden Fall viel zu sezieren und einige spannende Elemente zu entdecken. Wobei im Zentrum von Cheater ganz klar ein ehrliches Indierock-Herz schlägt. In Songs wie Andrew, Like A Lady oder Danger Baby erkennt man deutliche Parallelen zu den Pixies, Liz Phair, Sleater-Kinney oder dem letzten Album der Beths. Nur entscheidet sich diese Band sehr oft dafür, primär die Elemente des krachigen, überzogenen und schrägen tiefer zu behandeln. Mit einer gehörigen Portion Polterei und übertriebener Niedlichkeit. Und an diesen Stellen wird es interessant. So haben Songs wie Look oder der Titeltrack ernsthaft schrammelige Math-Einschläge mit herllich rhythmischen und klobigen Gitarreneffekten, nicht selten enden Stücke in kakophonischen Noise-Eskapaden und Sängerin Ola Djupvik changiert stimmlich gerne mal in Bereiche, die an die fiepsige junge Kate Bush oder gar an Sarah Perry von Kero Kero Bonito erinnern. Ein Vergleich, der dabei im Gesamtbild nicht von der Hand zu weisen ist, sind auf jeden Fall die jüngeren Alben von Deerhoof, die Pom Poko in manchen Momenten schon fast eins zu eins kopieren. Weshalb ich durchaus verstehen kann, dass man das hier vielleicht als reines Knockoff-Produkt abtut. Und ja, auch für mich ist das eine veritable Kritik. An meinem Wohlwollen für Cheater ändert das trotzdem nur wenig da a) Deerhoof schon seit Jahren kein so gutes Album mehr gemacht haben und b) diese Variation ihres Sounds das entscheidende bisschen rockiger und kerniger ist. Und trotz der ziemlich abgekupferten Ästhetik habe ich hier insgesamt den Eindruck, ein sehr erfrischendes, zeitgemäßes Rockalbum zu hören, das eben nicht nur gut aufgedonnerte Nostalgie ist. Für die ganz große Begeisterung meinerseits reicht das zwar auch nicht unbedingt und mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich dieses Jahr nicht mehr hierhin zurückkehren, doch als sehr kurzweiliges Stückchen Fun reichte es allemal. Was für den Moment schon mehr als genug ist.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11
 
Persönliche Höhepunkte
Like A Lady | Danger Baby | Andy Go to School | Look | Curly Romance | Body Level

Nicht mein Fall
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Donnerstag, 21. Januar 2021

Nicht schon wieder Postpunk

shame - Drunk Tank Pink SHAME
Drunk Tank Pink
Dead Oceans
2021
 








 
 
 
[ energisch | dynamisch | britisch ]

Im Januar 2021 scheint die Welt der Popmusik kollektiv an einem Punkt zu sein, an dem die Geduld gegenüber retrofixierten, oft englischen Erste-Welle-Revival-Postpunkbands ein wenig am Ende ist. Das letzte Album der Idles war unter den alten Fans äußerst polarisierend, Fontaines D.C. mussten sich im Sommer viel Kritik anhören und als vor ein paar Wochen alle über die Viagra Boys schrieben, schwang dabei häufig schon ein starker Überdruss mit. Und ich kann durchaus verstehen, woher diese Abneigung plötzlich kommt: Es gibt einfach zu viele Bands, die in den letzten zehn Jahren mit einem mehr oder weniger identischen Sound zu großer Bekanntheit gelangt sind. Wobei die wenigsten von ihnen wirklich so interessant waren, wie immer alle sagten. Klar gab es zwischendrin  echte Perlen wie King Krule, Messer, Marching Church oder die Nerven und von den meisten Gruppen gab es irgendwann zumindest mal eine akzeptable Platte, doch wenige brachten in kreativer Hinsicht tatsächlich irgendetwas voran. Es war eben eine nostalgische Bewegung, die sehr einfach zu bedienen war, die Erfolg versprach und die wahrscheinlich deshalb auch so übersättigt wurde. Und wenige Bands verkörperten diese Trittbrett-Mentalität anfangs so sehr wie Shame, obwohl sie eigentlich nie was dafür konnten. Doch als sie im Sommer 2018 mit ihrem Debüt Songs of Praise durchstarteten, waren sie einfach das perfekte Abziehbild dieses Klischees. Ihr Sound war äußerst unoriginell bei den üblichen Verdächtigen aus den frühen Achtzigern abgekupfert, ihr Songwriting setzte auf die genau richtige Dynamik aus Lärm, Coolness und Depression und der schneidige londoner Dialekt von Sänger Charlie Steen sorgte für die richtige Attitüde in der Performance. Das eigentliche Album war damit gar nicht mal schlecht, aber eben auch extrem vorhersehbar. Und eigentlich dachte ich ob dieser Parameter nicht, dass ich jemals nochmal über die Musik von Shame sprechen würde. Aber da wären wir. Drei Jahre und ein Album später. Und hey, eigentlich hat sich seit dem letzten Mal nicht viel verändert. Immer noch spielt das Quintett jene sehr hektische, kinetische Variante von Postpunk, die eher an Gang of Four als an Joy Division erinnert und noch immer können sie das prinzipiell ziemlich gut. Schon in den ersten Takten des Openers Alphabet spürt man, dass Drunk Tank Pink ein Album mit einer beachtenswerten Dynamik ist, sehr ordentlich produziert wurde und auch Leidenschaft dahinter steckt. Besonders in den Lyrics von Steen merkt man, dass hier eine Band arbeitet, die weiß was sie tut und in dieser Musik mehr als eine Ästhetik sieht. In viele Tracks hier wurde sich mächtig reingehängt und es ist nicht schwer, auch das ein oder andere Statement zu finden. Und ja, das allein reicht auf jeden Fall aus, dass mit diese LP grundsätzlich sympathisch ist. Allerdings kann ein Teil von mir auch weiterhin nicht ignorieren, wie sehr die Briten hier ein bestehendes Klischee bedienen und wie das durchaus dem guten Eindruck der Platte schadet. Denn so sehr ich hier auch in die Details einsteige und versuche, die Songs zu sezieren, ständig stoße ich wieder diese typische Postpunk-Formel, die bei aller Qualität einfach abgelatscht ist. Selbst in den Texten, die ja eigentlich völlig subjektiv zu bewerten sind, finden sich extrem stereotype Passagen über Depression, Antriebslosigkeit und englische Verhältnisse, die so schon Ian Curtis oder Johnny Lydon hätte verfassen können. Und bei aller Liebe, Zufall kann das ja nicht sein. Was letztendlich vor allem für Shame selbst schade ist, denn das hier ist ohne Zweifel ein gutes Album. Nur wird es als das wahrscheinlich eher nicht gesehen, weil alle nur die großen Schultern bemerken, auf denen es steht. Die ganze Kreativität und Hingabe ist als leider ein bisschen für die Katz gewesen. Was nicht heißt, dass ich es nicht empfehlen möchte. Falls hier jemand in der glücklichen Situation ist, 2021 noch wirklich heiß auf diesen Sound zu sein, dann ist das hier womöglich die Band der Stunde. Ich für meinen Teil hoffe aber mal wieder, dass dieses mein letzter Tango mit Shame war.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte: Alphabet | Water in the Well | Snow Day | Harsh Degrees

Nicht mein Fall: Human, for A Minute | Station Wagon

Dienstag, 19. Januar 2021

Das Gewinnen der Schönheit im Verlieren der Form

Beautify Junkyards - Cosmorama
BEAUTIFY JUNKYARDS
Cosmorama
Ghost Box
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ soft | sommerlich | psychedelisch | subtropisch ]

Wenn man sich wie ich nun inzwischen schon über zwei Jahre eingehend mit der Musik der frühen Sechzigerjahre beschäftigt, ist es praktisch unabdingbar, nebenbei eine Leidenschaft für südamerikanischen Samba-Jazz und -Pop zu entwickeln. Ganz einfach, weil viele Künstler*innen aus dieser Zeit es mit erstaunlich einfachen Mitteln schaffen, derart zauberhafte und einnehmende Sounds zu kreieren, in die man sich einfach verlieben muss. Und obwohl ganz klar ist, dass die Songs von Beautify Junkyards mit dieser stilistischen Ära von der Sache her nichts zu tun haben, war diese Parallele doch die erste, die ich auf Cosmorama bei ihnen heraushörte. Sei es auch nur in der Hinsicht einer grundlegenden kreativen Haltung. Denn was diese LP ganz wesentllich prägt, ist eine Idee von sanfter, unkomplizierter Psychedelik, die keine großen Gesten braucht, um ziemlich beeindruckend zu sein. Wobei sie stilistisch auch alles mitnehmen, was in der Zwischenzeit in der bunten Welt der Popmusik passiert ist. Inspirationstechnisch ist das vierte Album der PortugiesInnen ein Amalgam aus dem sanften Samba-Folk von Astrud Gilberto, der retrofixierten Lounge-Elektronik der frühen Air, dem gut gefilterten Psychpop-Spirit von Animal Collective und dem organischen Impressionismus von Ichiko Aoba, um nur die wesentlichsten Einflüsse zu nennen. Das Ergebnis ist dabei ein wunderbar geruhsames, leicht hippieskes und sonniges Album, das klanglich so gar nicht zu seinem Releasetermin Mitte Januar passt. Das zugrundeliegende Handwerk ist mal elektronisch und mal indiefolkig geprägt und die Texte changieren zwischen englisch und portugiesisch, einig ist sich die Platte jedoch immer in der flauschigen Atmosphäre, die sie zu jedem Zeitpunkt versprüht. Mit seiner Mischung aus nostalgischen Sixties-Throwback und zeitgenössischer Schlafzimmerpop-Attitüde überbrückt Cosmorama außerdem das Problem, zu konkret nach einer bestimmten Sache zu klingen. Anfangs war ich davon zugegeben ein bisschen ernüchtert, weil es dadurch auch durchweg an starken Melodien fehlt und die LP immer so ein bisschen im halbambienten Schlafzimmer-Folk herumdümpelt, doch erkenne ich das inzwischen durchaus als Stärke des Albums. Denn diese Musik braucht keine deutliche kompositorische Marschrichtung, um einen unglaublich faszinierenden Mikrokosmos auszubauen. Von den extrem detaillierten und klasse produzierten Soundscapes, die die Band hier aufbaut und die durchaus mal mit esoterischem Vogelgezwitischer und pointierten Harfen, Streichern und Flöten garniert sein können, würde zu viel Klarheit womöglich sogar ablenken. Stattdessen strahlt diese LP ungemein in ihrem relaxten Faulenzermodus, gönnt sich immer mal eine kurze eingängige Passage oder ein deutliches Gesangsmotiv, und verschwindet danach wieder im Urwald aus schnuffliger Geräuschkulisse. Ein bisschen würde ich mir dabei sogar wünschen, dass komplett auf englische Lyrics verzichtet worden wäre, denn schon diese paar Zeilen kommunikativer Verständlichkeit lenken von der hübschen Diffusität und Mystik ab, die ansonsten vorherrscht. Wirklich gebrochen wird diese aber zu keinem Zeitpunkt, was definitiv der größte Pluspunkt von Cosmorama ist. Denn nur so gelingt diese Wirkung von Kurzurlaub, die ausnahmslos alle Tracks dominiert und dabei ein herrliches Exzerpt aller Musik zu sein scheint, die irgendwann mal chillig und nonchalant war. Was hoffentlich spätestens im kommenden Sommer dazu führen wird, dass ich Beautify Junkyards nochmal so richtig abfeiern werde. Denn dann wird dieses Album wahrscheinlich erst seine komplette Wirkung entfalten.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Reverie | the Sphinx | Parangolé | A Garden By the Sea | the Collector | Zodiak Club | Vali | the Fountain

Nicht mein Fall
-

Montag, 18. Januar 2021

Mein Hobby: Arschloch

Viagra Boys - Welfare Jazz VIAGRA BOYS
Welfare Jazz
Year0001
2021













[ rübelig | postpunkig | sarkastisch ]

Betrachtet man die Sache mal von rein musikalischer Seite, dann sind die Viagra Boys eigentlich nur eine weitere dieser retrofixierten, höllisch groovigen und eingeschnappten Postpunk-Bands, die seit Jahren den Rockmusik-Markt in Schwaden überfluten. Und dass ihr aktuelles Album Welfare Jazz gerade bei allen namhaften und untergrundigen Musikformaten durchgereicht wird, ist auf den ersten Blick nichts anderes als die 15 Minuten Hype, die in der Vergangenheit Fontaintes D.C., die Preoccupations oder die Amazing Snakeheads erlebten. Vielleicht liegt es auch daran, dass gerade Anfang Januar ist und die Leute sonst nichts zum reden haben. Doch lohnt es sich bei dieser Band durchaus, mal etwas mehr Zeit zu investieren und genauer hinzuhören. Denn wenn man die Musik der Viagra Boys schon vor dieser LP kannte, weiß man vielleicht, dass ihr kreativer Kern eigentlich ganz woanders liegt. In erster Linie hat das mit ihrem Sänger und Texter Sebastian Murphy zu tun, der für diese Formation schon immer so etwas wie das Kranke Herz ist, dass jede Menge vergiftetes Blut durch deren Adern pumpt. Denn statt wie normale Postpunk-Vokalisten einfach Lyrics über diffusen Schmerz und Weltfremdheit zu intonieren, hat er für die Schweden in den letzten Jahren einen echten Charakter ausgearbeitet, den er als Frontmann mit großer Hingabe spielt und faszinierend gestaltet. Dieser Sebastien Murphy, der in den Songs der Viagra Boys lebt, ist eine ziemlich unangenehme Type, die die Konvergenz aus Lebemann und Arschgesicht weitestgehend perfektioniert hat. Er ist ständig auf Drogen, auf anstrengende Weise gut gelaunt, behandelt alle um ihn herum wie ziemlichen Abfall und ist in seinem ganzen Dasein eine Art Testemonial für toxische Männlichkeit. Vieles an ihm erinnert an die recht ähnlichen Charaktere, die Leute wie Alex Cameron oder Abel Tesfaye in ihren Songs aufbauen oder an die hedonistische Inkarnation, die Nick Cave damals bei Grinderman heimsuchte. Um man mal aus dem Bereich der Musik auzusteigen, könnte man sogar den Typen heranziehen, den Andy Samberg in Great Day spielt. Und wenn Welfare Jazz inhaltlich wie eines klingt, dann ein völlig zugekokstes Carabet-Musical, das genau diesem Typen in der Hauptrolle besetzt. Doch auch wenn jetzt erstmal wie eine anstrengende Vorstellung anmutet, ist es in seiner Ausführung äußerst faszinierend, witzig und abgedreht. Wobei vieles dabei mit Murphys grandioser Textarbeit und seiner nicht minder genialen Performance zu tun hat, die großartig miteinander zusammenspielen. Gleich im Opener Ain't Nice erfolgt so etwas wie die Exposition unseres Protagonisten, die gleich mal richtig misanthropisch ausfällt ("Got a collection of vintage calculators / If you don't like it then babe I'll see you later"), Stück für Stück gestaltet das Album das alles noch ein bisschen weiter aus. In I Feel Alive berichtet er von seinem gerade abgschlossenen Entzugsaufenthalt, in Toad besingt er feierlich er seinen rebellischen Außenseiterstatus, in Secret Canine Agent auf etwas zu romatische Weise seinen Hund. Mitunter, wie in To the Country oder dem großartigen John Prine-Cover In Spite of Ourselves ganz am Ende spürt man auch eine gewisse Einkehr, doch reicht diese immer nur bis zum nächsten Dosenbier. Und aus Sicht der Unterhaltung sind natürlich auch die Songs hier am coolsten, in denen unser Protagonist die größte Psychose schiebt. Vor allem auch deshalb, weil Sebastian Murphy sich dabei so herrlich in die Zeilen wirft und stimmlich komplett kaputtgeht. Da das an den meisten Punkten des Albums der Fall ist, macht es das auch fast durchweg zu einem Erlebnis. Nur in den ersten vier Tracks muss sich alles noch ein bisschen eingrooven und auch die kurzen Interludes zwischendurch sind eher unnötig. Viel effektiv störendes finde ich auf Welfare Jazz allerdings in keinem Moment. Sogar die postpunkige Standardformel wird mit geschickt eingestreuten Saxofonen, Synths, Flöten und Banjos angenehm gebrochen und geht stellenweise tatsächlich in Richtung Jazz oder Blues. Zu großen Teilen sind es aber doch die Lyrics, die das hier zu etwas besonderem und lebendigem machen. Und wenn man dafür nicht die Type ist, ist es sehr wahrscheinlich dass man Welfare Jazz eher durchschnittlich findet. Ich für meinen Teil bin vom Ergebnis jedoch einigermaßen begeistert und freue mich vor allem, dass die Singles, die ich schon in der PR richtig gut fand, jetzt nochmal in ein großes ganzes verwoben werden, das irgendwie Sinn ergibt. Für eine so durche Band wie die Viagra Boys ist das überraschend kalkuliert und konzeptuell. Wobei ich bei ihnen inzwischen überhaupt nicht mehr weiß, was noch echt ist und was schon Pose. Spricht aber alles irgendwie für sie.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Toad | Into the Sun | Creatures | 6 Shooter | Secret Canine Agent | I Feel Alive | Girls & Boys | To the Country | In Spite of Ourselves

Nicht mein Fall
Best in Show II

Samstag, 16. Januar 2021

Selected Ambient Works

FOUR TET
Parallel
Text Records
2020

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ gemütlich | geduldig | atmosphärisch | minimalistisch ]

Es ist in den meisten Fällen ein eher schlechtes Zeichen, wenn man über eine Platte sagen muss, dass sie sich länger anfühlt als sie eigentlich ist. Gerade dann, wenn das vorliegende Material an sich schon auf eine Spieldauer von 70 Minuten kommt und es sich dabei um ambienten Experimental-Elektropop handelt. Wäre dem aber so, dann hätte ich sicher nicht die Mühe auf mich genommen, besagte Platte hier so ausführlich zu besprechen. Auch nicht deswegen, weil es sich um ein Projekt von Kieran Hebden, dem hochgelobten Magier des seichten Indietronic, handelt. Denn was meine Geduld mit seiner Musik angeht, bin ich schon lange eher Skeptiker als Fan. Zwar gab es von seinem Hauptprojekt Four Tet in den letzten Jahren durchaus die ein oder andere tolle Musik, insgesamt fand die aber in einem doch sehr durchwachsenen Umfeld statt, bei dem auch viel echt seltsamer Kram dabei war. Besonders gilt das auch für die letzte Saison, in der Hebden einmal mehr besonders fleißig und omnipräsent war. Insgesamt fünf Longplayer mit altem und neuem Material veröffentlichte der Brite 2020, zwei davon noch in der letzten Woche des Jahres. Und wenn ich ehrlich bin, dann ist dieses hier wahrscheinlich das einzige, das wirklich der Rede wert ist. Dass es von allen gleichzeitig das unscheinbarste ist, mag da vielleicht überraschen. Als Sammlung von zehn unbetitelten Instrumental-Nummern, die vermutlich auch zu Hälfte aus dem Archiv des Musikers gekramt wurden, versprüht Parallel nicht im Ansatz so viel Prestige wie ein Sixteen Oceans im letzten Frühjahr oder New Energy von 2017. Es ist eher ein sehr ausführliches Spinoff, mit dem Hebden mal ganz in Ruhe seine klangtapetige Seite erforscht. Eine, die ich von ihm noch nie in dieser Intensität gehört habe und die genau dadurch interessant wird. Den Hang zum ätherischen hatte Four Tet ja irgendwie schon immer und nie war der Output des Projekts wirklich hektisch oder intensiv. Doch fehlte stets irgendwie der entscheidende Schritt, der das Prädikat Ambient wirklich rechtfertigte. Und wenn ich ehrlich bin, ist auch Parellel nicht immer so ein Album. In verschienenen Tracks hier gibt es weiterhin die fluffigen Microhouse-Rhythmen und niedliechen Frickeleien, die man von Hebden schon kennt, doch ist es der Rahmen, der den Unterschied macht. Wo es vorher ambiente Ansätze in grundsätzlich nicht-ambienten Alben gab, ist das hier grundsätzlich ein sehr ätherisches Stück Musik, das öfter Mal aus der Rolle fällt. Was dabei aber immer bleibt, ist die Wirkung einer sehr hintergründigen Musik, die gezielt unauffälig bleibt und keine große Bühne will. Was auch viel von ihrer Qualität ausmacht, denn dadurch werden diese langen 70 Minuten zu einem sehr aushaltbaren Backdrop, der kein bisschen anstengend ist. Selbst die Tatsache, dass der Opener mit 26 Minuten fast sein eigenes kleines Album ist, stört im Gesamtkontext kein bisschen. Ein bisschen fühle ich mich dabei an die frühen Alben von Aphex Twin erinnert, die ja auch ziemlich lang und eher wenig ätherisch sind, aber sich trotzdem wie ein großer schnuffeliger Flow anfühlen und darin ihre größte Qualität entfalten. Und obwohl Hebden auch dafür noch ein bisschen zu hibbelig ist, ist der Effekt der gleiche. Das ist vor allem deshalb gut, weil dieses Album nach dem ziemlich chaotischen und wüsten Sixteen Oceans zeigt, dass ästhetischer Fokus eigentlich nicht das Problem dieses Künstlers ist. Was die Wirkung als Gesamtwerk und die Stimmigkeit dieses Projekts angeht, finde ich es sogar noch ein bisschen cooler als damals New Energy. Außerdem kam es Ende Dezember genau zur richtigen Zeit, da es in fast allen Songs ein etwas unterkühltes, aber dennoch heimeliges Wintergefühl vermittelt. Wenn man so will, ist es damit sogar eine ziemlich coole Parallele (haha!) zum sehr frischen und sonnigen Sixteen Oceans, das im vergangenen März erschien. Auch unabhängig von Witterung und Außentemperatur kann ich das hier aber als eine sehr angenehme, weil unkomplizerte Übung in atmosphärischer Chillout-Tapete empfehlen, die einfach wahnsinnig genießbar ist. Es ist lange her, dass ich über Four Tet das letzte Mal so wohlwollend empfand und so wie ich den Briten kenne, wird es auch noch ein Weilchen dauern, bis das das nächste mal so sein wird. Zumindest kann ich mir bei ihm aber immer sicher sein, dass irgendwann wieder so ein Projekt kommt, auf dem es einfach läuft. Zwischendurch müssen wir nur ein paar Tiefflüge ertragen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Parallel 1 | Parallel 2 | Parallel 4 | Parallel 5 | Parallel 6 | Parellel 7 | Parallel 8 | Parallel 9 | Parallel 10

Nicht mein Fall
Parallel 3

Freitag, 15. Januar 2021

Retro-Review: the Whole Plate

Massive Attack - Blue Lines
MASSIVE ATTACK
Blue Lines
Wild Bunch
1991













[ bedrohlich | schöpferisch | genrefluid ]

Massive Attack sind sicherlich eines der Projekte, über welches ich in diesem Format immer mal wieder gerne schreibe, was auch keineswegs Zufall ist. Seit etlichen Jahren schon ist die Formation aus Bristol eine meiner absoluten Lieblingsbands und bis auf einige wenige Ausnahmen finde ich so gut wie alles, was sie in den über 30 Jahren ihrer Existenz gemacht haben, ziemlich stabil. Lange schon sind sie dabei wesentlich mehr als nur die prägende Kraft des stilistischen Neunziger-Nischenbegriffs Triphop, sondern viel eher eine der wichtigsten Kräfte eines universellen Crossover-Gedankens, der seit ihrer Gründung primäre Triebfeder und Inspiration ist. Eine Eigenschaft, die bis zu ihren Wurzeln in der Bristoler Clubszene und dem Schmelztiegel des legendären Wild Bunch-Labels zurückführt. Ich möchte dabei allerdings keiner der vielen sein, der in einer Besprechung von Blue Lines die direkte Verbindung von den frühen, genrefluiden DJ-Sets von Robert del Naja, Tricky, Daddy G und Andy Vowels zu diesem Debüt zieht, denn das wäre müßig. Viel eher möchte ich darüber sprechen, warum das hier so viel mehr ist und konzeptuell völlig anders bewertet werden kann. Denn in meinen Augen ist es eine Sache, in einem Club-Setting viele verschiedene Einzeltracks Mashup-mäßig zu verbinden und eine völlig andere, was Massive Attack spätestens hier auch kompositorisch und schöpferisch leisten. Sicher, bis zum heutigen Tag kann diese Band nicht ohne ihre Hintergründe in samplebasierten Beats und der allgemeinen DJing-Kultur behandelt werden, doch ist das eben nicht alles. Wenn dieses Album einen großen Schritt für diese vier Künstler tut, dann dass es sie von talentierten Loopdiggern und Auflegern zu einer richtigen Band macht. Einer Band, die über Stimme und Identität verfügt, die über das verwendete Ausgangsmaterial hinausgehen. Und die sich ganz wortwörtlich auch darin äußert, wie sie hier zu Sängern, Rappern und Arrangeuren werden. Bei der Materialsammlung anzufangen, lohnt sich trotzdem. Die braucht man allein schon, um die schiere ästhetische Vielfalt dieses Albums zu begreifen. Unter den Einflüssen, die hier auftauchen sind so unterschiedliche Sachen wie der Native Tongue-Rap von De La Soul, der minimalistische House-Sound britischer Szeneschuppen, den nymphischen Kammerpop der späten Achtziger, oldschoolige Traditionen aus Reggae und Dub, eine gehörige Dosis zeitgenössischen Soul und sogar ein bisschen IDM, Ambient, Indierock, Funk und Klassik. Blue Lines ist dabei in zweierlei Hinsicht ein tolles Album: Zum einen, weil man hier in manchen Momenten noch in der Musik jene Bestandteile sieht, von denen sie inspiriert wurde, zum anderen weil in anderen auch schon etwas sehr eigenes und definiertes entsteht, das von seinen Einflüssen völlig unabhängig wird. Und wo spätere Alben nur noch das unterschiedlich würzten, was die Grundmasse von Triphop ausmachte, wird sie hier Stück für Stück geformt. Gerade in den ersten beiden Songs der Platte merkt man noch die frankensteinige Art, mit denen hier Elemente gegeneinander ausgespielt werden. One Love hat das Grundgefühl von Dub, das aber immer wieder durch völlig abstruse Sample-Eskapaden und live gespielte Gitarre subversiert wird und ziemlich irritiert, wohingegen der Opener Safe From Harm eigentlich eine pumpende Dancefloor-Nummer sein soll, zwischendurch aber immer wieder in ausführliche Rap-Momente abdriftet und vor allem mit seiner klettigen Bassline ständig aneckt. Stücke wie der Titelsong, Five Man Army oder Daydreaming sind indes schon wesentlich näher am Sound, der Massive Attack auch in den Jahren danach definieren sollte und die einzelnen Versatzstücke etwas besser versteckt. Was so gut wie alle Songs gemeinsam haben ist dabei ein umfassender Vibe von Düsternis, der für dieses musikalische Amalgam eigentlich ungewöhnlich ist. Die Briten speisen ihren Sound im wesentlichen aus Stilen wie Reggae, Funk, Hiphop und House, die prinzipiell für ihre hellen Klangfarben bekannt sind und auch lyrisch ist vieles hier nicht ungewöhnlich negativ zu lesen, trotzdem klingt Blue Lines die meiste Zeit sehr schattenhaft, nachtaktiv und pessimistisch. Gründe dafür gibt es viele, ob nun die schleppende und zwielichtige Rap-Performance von Del Naja und Tricky, die sehr basslastige, wenig melodische Komposition oder die dubbige Produktion mit viel dramatischen Hall- und Echoeffekten. Fakt ist, dass auch diese Atmosphäre über kurz oder lang in die Grundidentität von Triphop übergehen und dort noch wachsen würde. Sei das in Form der späteren Alben von Szene-Gruppen wie Portishead oder Archive oder auch bei Massive Attack selbst auf Platten wie Mezzanine. Wodurch dieses Album auch eines der stärksten Argumente gegen die Anmaßung ist, Triphop und Downtempo wären ja prinzipiell das gleiche. Denn obwohl Blue Lines niemals hektisch, unwirsch oder besonders laut werden muss, ist es eine LP, deren relaxte Attitüde ich ihr nie ganz abkaufe. Allerhöchstens im sonnig-loungigen Be Thankful for What You've Got, aber das ist auch ein Cover. Und für alle Momente, die hier eher munkelig und zurückgenommen sind, strahlen die handverlesenen dramatischen Höhen umso mehr. Das definitive Highlight dürfte an dieser Stelle ohne Zweifel die epochale Bombast-Single Unfinished Sympathy sein, die nicht von ungefähr das erstes große Statement von Massive Attack im Mainstream wurde. Und auch wenn der Closer Hymn of the Big Wheel die Platte nochmal mit einem andächtigen Vibe abrundet, ist das ein monumentales Ausrufezeichen. Trotzdem ist Blue Lines bei all seiner Vielschichtigkeit und Experimentierfreude nie wüst oder unfokussiert, sondern stets bis in die Spitzen durchdacht. Auch von der absolut tighten Produktion bin ich begeistert, sowohl in der Originalversion von 1991 als auch auf dem 2012 veröffentlichten Remaster. Was mich zum Schluss noch zu dem Punkt bringt, wie einflussreich diese LP langfristig gewesen ist. Denn obwohl die Jubeljahre des Tiphop in den Neunzigern nur von kurzer Dauer waren und leider noch immer ein wenig als Nischenphänomen gelten, ist es die kreative Attitüde, die hier entscheidend war. Massive Attack zeigten sich hier als waghalsige Crossover-Genies, die innerhalb ihrer vielen Versatzstücke eine eigene Identität finden konnten. Womit sie zeigten, wieviel auch zwischen den damals noch sehr festgesetzten Genres und Szenen möglich war. Wenn ich an geistige Nachfahren dieses Albums denke, dann vor allem an die ersten beiden Platten der Gorillaz oder an die Ästhetiken des Ninja Tune-Labels. Potenziell reicht die Tragweite dieser LP aber auch von DJ Shadow über OK Computer bis zu Porcupine Tree. Und obwohl Blue Lines im Gegensatz zu späteren Projekten von Massive Attack doch sehr ein Kind seiner Zeit ist, altert es keineswegs schlecht. Als ich die Band vor vier Jahren live sah, waren es die Songs dieses Albums, die mir mit Abstand am meisten in Erinnerung blieben. Als Konserve muss es sich in meinen Augen das Prädikat des besten Gesamtwerks von ihnen zwar nach wie vor mit dem nicht minder grandiosen Mezzanine teilen, doch zeigt das eigentlich nur noch mehr, wie sehr ich Massive Attack und ihre Musik verehre. Und ich bin mir sicher, über sie ist hier noch nicht das letzte Wort gefallen.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢🟢 11/11

Persönliche Höhepunkte
Safe From Harm | One Love | Blue Lines | Five Man Army | Unfinished Sympathy | Daydreaming | Lately | Hymn of the Big Wheel

Nicht mein Fall
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