Dienstag, 12. Januar 2021

Schweizer Tango

Dino Brandão, Faber & Sophie Hunger - Ich liebe Dich
DINO BRANDÃO
FABER
SOPHIE HUNGER
Ich liebe dich
Two Gentlemen
2020






 
 
 
[ folkloristsch | prosaisch | ungeschönt ]

Als jemand, der in seiner Freizeit regelmäßig viel und gerne schreibt, habe ich in den letzten Jahren ganz unwillkürlich eine gewisse Faszination für jegliche Form von Sprache entwickelt und kann inzwischen auch aus dem Unverständnis selbiger großen Mehrwert ziehen. Vor allem dann, wenn es in der Musik passiert. Allein auf diesem Format sprach ich in der Vergangenheit über Lieblingsplatten auf flämisch, schwedisch, finnisch, mandarin und nahuatl und bin inzwischen lange zu der Überzeugung gelangt, dass so etwas wie eine "unpoetische" beziehungsweise "unmusikalische" Sprache nicht existiert. Dieser Vorwurf, der gegenüber manchen Musiken leider noch immer existiert und der meistens eher mit schlechter Umsetzung zu tun hat, ist sehr schnell dementiert, sobald man erstmal Musik gefunden hat, die jedes noch so unverständliche Kauderwelsch ordentlich einbettet und an sich auch kompositorisch cool gemacht ist. Wobei ich nicht sage, dass man es sich mit sowas immer leicht macht. Bestes Beispiel: Dieses wunderbar lyrische, romantische und kein bisschen lächerliche Album in Schwyzerdütsch, der nachweislich treppenwitzigsten aller deutschen Dialekte. Gerade aus Sicht eines hochostdeutschen Muttersprachlers wie mir erscheint es als ein waghalsiges Unterfangen dieser drei  MusikerInnen, so eine Platte zu machen. Eine Platte, die eben nicht nur irgendwelche Songs in ihrer Landessprache enthält, sondern auch noch ausgerechnet Liebeslieder. Eine Kombination, bei der ich im ersten Moment unwillkürlich an solche Sachen denken muss. Doch ist die gute Nachricht, dass dieses Album eben von drei sehr talentierten MusikerInnen aufgenommen wurde, denen es hier ein leichtes ist, selbst die schlimmsten Vorurteile gegenüber alpiner Mundart innerhalb von Minuten zu zerstreuen. Denn diese 13 Tracks ernst zu nehmen, wird mir von ihnen vom ersten Moment an leicht gemacht. Und es sollte für niemand anderen ein Problem sein, der sich bis hierhin schon mal in irgendeiner Weise mit dem Werk einer dieser drei KünstlerInnen identifizieren konnte. Die größte Nähe hat Ich liebe dich dabei aber eindeutig zu den Platten von Faber, der mit einzelnen Tracks schon vorher etwas aktiver in dieser Nische unterwegs war als Dino Brandão (hat bisher noch gar kein Album draußen) oder Sophie Hunger (macht hauptsächlich Songs auf englisch). Auch hier dominiert musikalisch eine sehr pittoreske Variante von Songwriterpop, der mal mit üppigen Streichern garniert fast klassisch anmutet wie in der Ouverture, mal Beisserl-mäßig wirkt wie in Euse Rosegarte und mal ein paar des Spritzer bohemièsk faberschen Folk-Songwritings abbekommt wie in E Nach A De Langstrass. Grundsätzlich ist es aber erstaunlich, wie diese drei sehr unterschiedlich geprägten KünstlerInnen hier aufeinander aufbauen und hier eine glaubwürdige kreative Einheit bilden. Sicher gibt es ein paar Songs, die im wesentlichen von einer Person gesungen werden oder die eine stilistische Färbung in eine bestimmte Richtung aufweisen, doch hört man auch die anderen beiden immer irgendwo. Vom Songwriting kommt außerdem stark der Eindruck eines gleichberechtigten Gruppenprozesses, der das komplette Album sehr kohärent klingen lässt. Aber kommen wir mal zum eigentlichen Knackpunkt, nämlich den Texten dieser LP, die in meinen Augen vielleicht sogar das beste daran sind. Zugegeben ist es mitunter nicht einfach, zu hundert Prozent das zu dechiffrieren, was hier gesagt werden soll und viele Stellen klingen effektiv nach einer Fremdsprache. Doch reicht es meistens, um das grundsätzliche Thema eines Tracks zu identifizieren. In Mega Happy geht es vermutlich um Selbstfindung, in E Nacht A De Langstrass um urbanes Nachtleben und in Wäge dem um Eifersucht. Viel wichtiger als der eigentliche Inhalt ist aber sowieso die Sprache, derer sich die drei hier bedienen und die am Ende gar nicht mal so verschnörkelt und cheesy ist (hier bescheuerten Pun über Schweizer Käse einfügen), wie man bei einem Konzeptalbum über Liebe vielleicht vermutet. Vom Vibe her erinnert sie mich stark an die erste LP von Faber, Sachen wie Alle Liebe nachträglich von Mine und Fatoni oder auch die düsteren Chansons von Jacques Brel, die ähnlich pragmatisch, prosaisch und ungeschönt sind. Speziell die Lyrics von Dino Brandão sind an gewissen Stellen sogar richtiggehend morbide und geben Songs wie Euse Rosegarte und Wäge dem etwas leicht surreales. Aber auch an den Punkten, wo mein Verständnis aussetzt, funktioniert Ich liebe dich noch sehr gut. Dadurch, dass jede/r der drei SängerInnen ein sehr eigenes stimmliches Timbre hat, gibt es zwischen den Tracks viel Dynamik und immer wieder neue Facetten, die die Platte auch einfach über ihren Vibe wirken lassen. Und egal wieviel man von dieser LP nun versteht oder nicht, sie schafft eine starke Ästhetik, innerhalb der der Faktor Schwyzerdütsch in keinster Weise stört. Wenn man mich fragt, trägt er sogar viel positives zu ihrem Vibe bei und macht sie einzigartig. Von allen hier beteiligten Künstler*innen ist Ich liebe dich mit Sicherheit eine der besten Arbeiten und auch wenn ihr innerhalb der jeweiligen Diskografien wahrscheinlich eher die Rolle eines Sidequests zukommt, ist sie eine positive Referenz, die ich so schnell nicht vergessen werde. Und die mich ermutigt, Popmusik auf Schwyzerdütsch mit mehr Wohlwollen zu begegnen. Gerne auch von einem dieser Drei.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Ouverture | Ich liebe dich, Faber | Putsch | Mega Happy | Ich liebe dich, Sophie | Euse Rosegarte | Dr Hunger wird schlimmer | E Nacht A De Langstrass | Derfi De Hebe

Nicht mein Fall
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