Montag, 18. Januar 2021

Mein Hobby: Arschloch

Viagra Boys - Welfare Jazz VIAGRA BOYS
Welfare Jazz
Year0001
2021













[ rübelig | postpunkig | sarkastisch ]

Betrachtet man die Sache mal von rein musikalischer Seite, dann sind die Viagra Boys eigentlich nur eine weitere dieser retrofixierten, höllisch groovigen und eingeschnappten Postpunk-Bands, die seit Jahren den Rockmusik-Markt in Schwaden überfluten. Und dass ihr aktuelles Album Welfare Jazz gerade bei allen namhaften und untergrundigen Musikformaten durchgereicht wird, ist auf den ersten Blick nichts anderes als die 15 Minuten Hype, die in der Vergangenheit Fontaintes D.C., die Preoccupations oder die Amazing Snakeheads erlebten. Vielleicht liegt es auch daran, dass gerade Anfang Januar ist und die Leute sonst nichts zum reden haben. Doch lohnt es sich bei dieser Band durchaus, mal etwas mehr Zeit zu investieren und genauer hinzuhören. Denn wenn man die Musik der Viagra Boys schon vor dieser LP kannte, weiß man vielleicht, dass ihr kreativer Kern eigentlich ganz woanders liegt. In erster Linie hat das mit ihrem Sänger und Texter Sebastian Murphy zu tun, der für diese Formation schon immer so etwas wie das Kranke Herz ist, dass jede Menge vergiftetes Blut durch deren Adern pumpt. Denn statt wie normale Postpunk-Vokalisten einfach Lyrics über diffusen Schmerz und Weltfremdheit zu intonieren, hat er für die Schweden in den letzten Jahren einen echten Charakter ausgearbeitet, den er als Frontmann mit großer Hingabe spielt und faszinierend gestaltet. Dieser Sebastien Murphy, der in den Songs der Viagra Boys lebt, ist eine ziemlich unangenehme Type, die die Konvergenz aus Lebemann und Arschgesicht weitestgehend perfektioniert hat. Er ist ständig auf Drogen, auf anstrengende Weise gut gelaunt, behandelt alle um ihn herum wie ziemlichen Abfall und ist in seinem ganzen Dasein eine Art Testemonial für toxische Männlichkeit. Vieles an ihm erinnert an die recht ähnlichen Charaktere, die Leute wie Alex Cameron oder Abel Tesfaye in ihren Songs aufbauen oder an die hedonistische Inkarnation, die Nick Cave damals bei Grinderman heimsuchte. Um man mal aus dem Bereich der Musik auzusteigen, könnte man sogar den Typen heranziehen, den Andy Samberg in Great Day spielt. Und wenn Welfare Jazz inhaltlich wie eines klingt, dann ein völlig zugekokstes Carabet-Musical, das genau diesem Typen in der Hauptrolle besetzt. Doch auch wenn jetzt erstmal wie eine anstrengende Vorstellung anmutet, ist es in seiner Ausführung äußerst faszinierend, witzig und abgedreht. Wobei vieles dabei mit Murphys grandioser Textarbeit und seiner nicht minder genialen Performance zu tun hat, die großartig miteinander zusammenspielen. Gleich im Opener Ain't Nice erfolgt so etwas wie die Exposition unseres Protagonisten, die gleich mal richtig misanthropisch ausfällt ("Got a collection of vintage calculators / If you don't like it then babe I'll see you later"), Stück für Stück gestaltet das Album das alles noch ein bisschen weiter aus. In I Feel Alive berichtet er von seinem gerade abgschlossenen Entzugsaufenthalt, in Toad besingt er feierlich er seinen rebellischen Außenseiterstatus, in Secret Canine Agent auf etwas zu romatische Weise seinen Hund. Mitunter, wie in To the Country oder dem großartigen John Prine-Cover In Spite of Ourselves ganz am Ende spürt man auch eine gewisse Einkehr, doch reicht diese immer nur bis zum nächsten Dosenbier. Und aus Sicht der Unterhaltung sind natürlich auch die Songs hier am coolsten, in denen unser Protagonist die größte Psychose schiebt. Vor allem auch deshalb, weil Sebastian Murphy sich dabei so herrlich in die Zeilen wirft und stimmlich komplett kaputtgeht. Da das an den meisten Punkten des Albums der Fall ist, macht es das auch fast durchweg zu einem Erlebnis. Nur in den ersten vier Tracks muss sich alles noch ein bisschen eingrooven und auch die kurzen Interludes zwischendurch sind eher unnötig. Viel effektiv störendes finde ich auf Welfare Jazz allerdings in keinem Moment. Sogar die postpunkige Standardformel wird mit geschickt eingestreuten Saxofonen, Synths, Flöten und Banjos angenehm gebrochen und geht stellenweise tatsächlich in Richtung Jazz oder Blues. Zu großen Teilen sind es aber doch die Lyrics, die das hier zu etwas besonderem und lebendigem machen. Und wenn man dafür nicht die Type ist, ist es sehr wahrscheinlich dass man Welfare Jazz eher durchschnittlich findet. Ich für meinen Teil bin vom Ergebnis jedoch einigermaßen begeistert und freue mich vor allem, dass die Singles, die ich schon in der PR richtig gut fand, jetzt nochmal in ein großes ganzes verwoben werden, das irgendwie Sinn ergibt. Für eine so durche Band wie die Viagra Boys ist das überraschend kalkuliert und konzeptuell. Wobei ich bei ihnen inzwischen überhaupt nicht mehr weiß, was noch echt ist und was schon Pose. Spricht aber alles irgendwie für sie.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Toad | Into the Sun | Creatures | 6 Shooter | Secret Canine Agent | I Feel Alive | Girls & Boys | To the Country | In Spite of Ourselves

Nicht mein Fall
Best in Show II

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen