Freitag, 15. Januar 2021

Retro-Review: the Whole Plate

Massive Attack - Blue Lines
MASSIVE ATTACK
Blue Lines
Wild Bunch
1991













[ bedrohlich | schöpferisch | genrefluid ]

Massive Attack sind sicherlich eines der Projekte, über welches ich in diesem Format immer mal wieder gerne schreibe, was auch keineswegs Zufall ist. Seit etlichen Jahren schon ist die Formation aus Bristol eine meiner absoluten Lieblingsbands und bis auf einige wenige Ausnahmen finde ich so gut wie alles, was sie in den über 30 Jahren ihrer Existenz gemacht haben, ziemlich stabil. Lange schon sind sie dabei wesentlich mehr als nur die prägende Kraft des stilistischen Neunziger-Nischenbegriffs Triphop, sondern viel eher eine der wichtigsten Kräfte eines universellen Crossover-Gedankens, der seit ihrer Gründung primäre Triebfeder und Inspiration ist. Eine Eigenschaft, die bis zu ihren Wurzeln in der Bristoler Clubszene und dem Schmelztiegel des legendären Wild Bunch-Labels zurückführt. Ich möchte dabei allerdings keiner der vielen sein, der in einer Besprechung von Blue Lines die direkte Verbindung von den frühen, genrefluiden DJ-Sets von Robert del Naja, Tricky, Daddy G und Andy Vowels zu diesem Debüt zieht, denn das wäre müßig. Viel eher möchte ich darüber sprechen, warum das hier so viel mehr ist und konzeptuell völlig anders bewertet werden kann. Denn in meinen Augen ist es eine Sache, in einem Club-Setting viele verschiedene Einzeltracks Mashup-mäßig zu verbinden und eine völlig andere, was Massive Attack spätestens hier auch kompositorisch und schöpferisch leisten. Sicher, bis zum heutigen Tag kann diese Band nicht ohne ihre Hintergründe in samplebasierten Beats und der allgemeinen DJing-Kultur behandelt werden, doch ist das eben nicht alles. Wenn dieses Album einen großen Schritt für diese vier Künstler tut, dann dass es sie von talentierten Loopdiggern und Auflegern zu einer richtigen Band macht. Einer Band, die über Stimme und Identität verfügt, die über das verwendete Ausgangsmaterial hinausgehen. Und die sich ganz wortwörtlich auch darin äußert, wie sie hier zu Sängern, Rappern und Arrangeuren werden. Bei der Materialsammlung anzufangen, lohnt sich trotzdem. Die braucht man allein schon, um die schiere ästhetische Vielfalt dieses Albums zu begreifen. Unter den Einflüssen, die hier auftauchen sind so unterschiedliche Sachen wie der Native Tongue-Rap von De La Soul, der minimalistische House-Sound britischer Szeneschuppen, den nymphischen Kammerpop der späten Achtziger, oldschoolige Traditionen aus Reggae und Dub, eine gehörige Dosis zeitgenössischen Soul und sogar ein bisschen IDM, Ambient, Indierock, Funk und Klassik. Blue Lines ist dabei in zweierlei Hinsicht ein tolles Album: Zum einen, weil man hier in manchen Momenten noch in der Musik jene Bestandteile sieht, von denen sie inspiriert wurde, zum anderen weil in anderen auch schon etwas sehr eigenes und definiertes entsteht, das von seinen Einflüssen völlig unabhängig wird. Und wo spätere Alben nur noch das unterschiedlich würzten, was die Grundmasse von Triphop ausmachte, wird sie hier Stück für Stück geformt. Gerade in den ersten beiden Songs der Platte merkt man noch die frankensteinige Art, mit denen hier Elemente gegeneinander ausgespielt werden. One Love hat das Grundgefühl von Dub, das aber immer wieder durch völlig abstruse Sample-Eskapaden und live gespielte Gitarre subversiert wird und ziemlich irritiert, wohingegen der Opener Safe From Harm eigentlich eine pumpende Dancefloor-Nummer sein soll, zwischendurch aber immer wieder in ausführliche Rap-Momente abdriftet und vor allem mit seiner klettigen Bassline ständig aneckt. Stücke wie der Titelsong, Five Man Army oder Daydreaming sind indes schon wesentlich näher am Sound, der Massive Attack auch in den Jahren danach definieren sollte und die einzelnen Versatzstücke etwas besser versteckt. Was so gut wie alle Songs gemeinsam haben ist dabei ein umfassender Vibe von Düsternis, der für dieses musikalische Amalgam eigentlich ungewöhnlich ist. Die Briten speisen ihren Sound im wesentlichen aus Stilen wie Reggae, Funk, Hiphop und House, die prinzipiell für ihre hellen Klangfarben bekannt sind und auch lyrisch ist vieles hier nicht ungewöhnlich negativ zu lesen, trotzdem klingt Blue Lines die meiste Zeit sehr schattenhaft, nachtaktiv und pessimistisch. Gründe dafür gibt es viele, ob nun die schleppende und zwielichtige Rap-Performance von Del Naja und Tricky, die sehr basslastige, wenig melodische Komposition oder die dubbige Produktion mit viel dramatischen Hall- und Echoeffekten. Fakt ist, dass auch diese Atmosphäre über kurz oder lang in die Grundidentität von Triphop übergehen und dort noch wachsen würde. Sei das in Form der späteren Alben von Szene-Gruppen wie Portishead oder Archive oder auch bei Massive Attack selbst auf Platten wie Mezzanine. Wodurch dieses Album auch eines der stärksten Argumente gegen die Anmaßung ist, Triphop und Downtempo wären ja prinzipiell das gleiche. Denn obwohl Blue Lines niemals hektisch, unwirsch oder besonders laut werden muss, ist es eine LP, deren relaxte Attitüde ich ihr nie ganz abkaufe. Allerhöchstens im sonnig-loungigen Be Thankful for What You've Got, aber das ist auch ein Cover. Und für alle Momente, die hier eher munkelig und zurückgenommen sind, strahlen die handverlesenen dramatischen Höhen umso mehr. Das definitive Highlight dürfte an dieser Stelle ohne Zweifel die epochale Bombast-Single Unfinished Sympathy sein, die nicht von ungefähr das erstes große Statement von Massive Attack im Mainstream wurde. Und auch wenn der Closer Hymn of the Big Wheel die Platte nochmal mit einem andächtigen Vibe abrundet, ist das ein monumentales Ausrufezeichen. Trotzdem ist Blue Lines bei all seiner Vielschichtigkeit und Experimentierfreude nie wüst oder unfokussiert, sondern stets bis in die Spitzen durchdacht. Auch von der absolut tighten Produktion bin ich begeistert, sowohl in der Originalversion von 1991 als auch auf dem 2012 veröffentlichten Remaster. Was mich zum Schluss noch zu dem Punkt bringt, wie einflussreich diese LP langfristig gewesen ist. Denn obwohl die Jubeljahre des Tiphop in den Neunzigern nur von kurzer Dauer waren und leider noch immer ein wenig als Nischenphänomen gelten, ist es die kreative Attitüde, die hier entscheidend war. Massive Attack zeigten sich hier als waghalsige Crossover-Genies, die innerhalb ihrer vielen Versatzstücke eine eigene Identität finden konnten. Womit sie zeigten, wieviel auch zwischen den damals noch sehr festgesetzten Genres und Szenen möglich war. Wenn ich an geistige Nachfahren dieses Albums denke, dann vor allem an die ersten beiden Platten der Gorillaz oder an die Ästhetiken des Ninja Tune-Labels. Potenziell reicht die Tragweite dieser LP aber auch von DJ Shadow über OK Computer bis zu Porcupine Tree. Und obwohl Blue Lines im Gegensatz zu späteren Projekten von Massive Attack doch sehr ein Kind seiner Zeit ist, altert es keineswegs schlecht. Als ich die Band vor vier Jahren live sah, waren es die Songs dieses Albums, die mir mit Abstand am meisten in Erinnerung blieben. Als Konserve muss es sich in meinen Augen das Prädikat des besten Gesamtwerks von ihnen zwar nach wie vor mit dem nicht minder grandiosen Mezzanine teilen, doch zeigt das eigentlich nur noch mehr, wie sehr ich Massive Attack und ihre Musik verehre. Und ich bin mir sicher, über sie ist hier noch nicht das letzte Wort gefallen.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢🟢 11/11

Persönliche Höhepunkte
Safe From Harm | One Love | Blue Lines | Five Man Army | Unfinished Sympathy | Daydreaming | Lately | Hymn of the Big Wheel

Nicht mein Fall
-

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen