Sonntag, 10. Januar 2021

Retro-Review: Trenchtown Rock

BOB MARLEY & THE WAILERS
Live!
Island Records
1975
 
 
 
 
 
 
 
 
   
[ live | groovig | lebendig | spirituell ]

Es ist eine Sache, die großen Koriphäen der Pop-Geschichte daran auszumachen, welche großartigen Alben sie im Laufe ihrer Karriere veröffentlicht haben und welche Songs ihre denkwürdigsten waren. Nur den wichtigsten unter ihnen ist es aber vergönnt, dass sich auch aufgrund eines karriereverändernden Konzerts an sie erinnert wird. Geschichtsträchtige Shows wie die von Bob Dylan beim Newport Folk Festival, Jimi Hendrix bei Woodstock, Johnny Cash im Folsom-Gefängnis oder Queen bei Live Aid sind vielleicht nicht die allgemein anerkannte Königsdisziplin der popkulturellen Legendenbildung, sehr wohl aber der Stoff, aus dem deren Folklore gesponnen wird und die Musik zum historischen Ereignis machen. Mit Sicherheit gibt es in den Annalen der Geschichte auch viele geniale und elementare Konzerte, bei denen gerade kein Aufnahmegerät und/oder eine Kamera zur Hand waren und die deshalb in der kollektiven Erinnerung verschluckt werden, aber es gehört eben auch etwas dazu, diesen Moment abzupassen und einzufangen, sodass besagter Zeitkapsel-Effekt zutage tritt. Und bei einem Album wie diesem hier ist genau das der Fall. Es ist ein musikalisches Dokument, das nur deshalb entstand, weil jemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort die Eingebung hatte, dieses Ereignis auf Band zu spielen und damit etwas einzufangen, das besonders war. In dieser Situation war es höchstwahrscheinlich sogar der Punkt, an dem Robert Nesta Marley zum internationalen Superstar wurde. Dabei war er zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch ein relativ unbekannter Nischenimport. Im Sommer 1975, als die besagte Aufnahme entstand, war er gerade Mal seit einem Jahr offizieller Frontmann der Wailers und war zwar in seinem Heimatland Jamaika extrem erfolgreich, kam als Export aber mäßig gut an. Seine damals aktuelle Platte Natty Dread verpasste in Großbritannien knapp die Top 40 und obwohl er hier und auch in den USA langsam regelmäßige Touren ankurbelte, liefen die bis dahin eher mau. Marley war ein exotischer Typ mit komischen Haaren, der eine eigenwillige Musikrichtung aus der dritten Welt in die Mutternationen des Rock brachte, die von ihren zigtausend Superstars ohnehin schon reizüberflutet waren. Allerdings machte gerade das ihn auch zum Geheimtipp. Er und seine Musik waren für diejenigen, die vom Post-Flowerpower-Trott der frühen Siebziger gelangweilt waren, eine willkommene Abwechslung und gerade in England bildete sich durch das Aufeinandertreffen rebellischer weißer Jugendlicher mit Migrant*innen aus Afrika und der Karibik eine wachsende Hörer*innenschaft für Marley heraus. Und glaubt man der Legende, waren die plötzlich alle da, als die Wailers im Juli 1975 für drei Konzerte nach London einreisten. Nachdem die Band bereits am ersten Abend ein zum Bersten volles Lyceum Theatre in Schwingung versetzten (Im wahrsten Sinne des Wortes, denn Augenzeugen berichten von erdbebenartigen Erosionen und autarken Klimazonen während der Show) war es die anwesende Reggae-Legende Chris Blackwell, die dafür sorgte, dass der zweite und dritte Abend nun auch für den Rest der Welt zugänglich gemacht würde. Im Expressverfahren wurde das mobile Studio der Rolling Stones organisiert und Blackwell selbst sprang spontan als Produzent ein, der Rest der Geschichte ist dieses Album. Und je nachdem, welche Version man bevorzugt, mehr oder weniger vollständig. Die ursprüngliche Kernplatte von Live! besteht aus sieben Songs, die alle von der dritten Show im Lyceum stammen, 2001 erschien in einer Remaster-Version außerdem der Bonustrack Kinky Reggae vom selben Abend. Wer allerdings das vollständigmöglichste auf Konserve erhältliche Erlebnis will, kann auch auf die Deluxe-Version von 2016 zurückgreifen, die das komplette Set beider Gigs enthält. Und obwohl ich mich in diesem Text größtenteils auf die ursprüngliche Original-Edition beziehe, kann ich an dieser Stelle doch alle Varianten vorbehaltlos empfehlen. Denn was hier passiert, ist ein Grund von vielen, warum ich Bob Marley heute für den besten Pop-Künstler der letzten 70 Jahre halte und zeigt vor allem, was dieser Mann als Performer auf dem Kasten hat. Viele der hier gespielten Songs sind keine großen Tanznummern und selbst für damalige Verhältnisse von energischer Musik eher chillig und gediegen unterhaltend. Und obwohl die Wailers eine großartige Backingband sind und man auch auf diesen Aufnahmen ihr fantastisches Zusammenspiel heraushört, ist es doch ihr Frontmann, der ohne Frage der Fokuspunkt des Geschehens ist. Wie ein Prediger in Trance hängt er sich hier an jede Zeile, singt mit betörender Inbrunst und vermittelt dabei eine Energie, die unfassbar charismatisch ist. In Aufnahmen wie diesen hört man auf diese Weise nicht nur den elementaren Einfluss, die Gospelmusik auf sein Schaffen hatte, sondern auch die Überzeugung, mit denen er selbst seine politische und geistliche Agenda intoniert. Die Art, wie er in Them Belly Full die Worte "A hungry mob is an angry mob" singt, wie er in No Woman No Cry nach Sehnsucht klingt und wie er im Finale von Lively Up Yourself jenen religiösen Urschrei loslässt, zeigen wie dieser Mann Widerstand, Glaube und seine musikalische Tätigkeit als voneinander untrennbare universelle Berufungen begreift. Und aus der daraus resultierden Performance speißt sich letztendlich mindestens 60 Prozent der Energie dieses Albums. Die restlichen 40 sollte man dann fairerweise aber doch seiner Band zugestehen, die ebenfalls nicht weniger als genial spielt. Der unermüdliche Groove und die spürbare Chemie, die zwischen diesen MusikerInnen herrscht, überrascht mich in jedem Titel aufs neue und gerade wenn sie dabei von den Studioversionen abweicht (was häufig der Fall ist) wird es richtig interessant. Insbesondere die beiden damals größten Marley-Hits Get Up, Stand Up und No Woman, No Cry erfahren hier großzügige Jam-Bearbeitung, wobei letzterem sogar die seltene Ehre zuteil wurde, als Live-Version bekannter zu sein als das eigentliche Original. Man muss sich dabei allerdings bewusst sein, dass viele der heutigen großen Nummern der Wailers hier noch nicht auftauchen, einfach aus dem Grund, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben waren. Spätere Live-Highlights wie Natural Mystic, War oder No More Trouble finden hier noch nicht statt, was diese LP im Vergleich zu Babylon By Bus oder posthum veröffentlichten Live-Mitschnitten oberflächlich etwas mindert. Was diese Platten aber nicht haben, ist diese unschuldige Bombastizität, die Marley und die Band hier noch an den Tag legen. Die Lyceum-Shows sind nicht deshalb speziell, weil sie die umfangreichsten oder die am besten performten Konzerte der Wailers sind, sondern weil die eine momentane Energie einfangen und zeigen, wie dieser Typ selbst als obskurer Außenseiter unglaublich mitreißend gewesen sein muss. Aus diesem Grund ist das hier eine der in meinen Augen besten Konzertplatten aller Zeiten und vielleicht das Album, das für mich das intensivste Material meines Lieblingsmusikers enthält, das kein Studioalbum je leisten könnte.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢🟢 11/11

 
Persönliche Höhepunkte
Trenchtown Rock | Burnin' & Lootin' | Them Belly Full (But We Hungry) | No Woman, No Cry | Get Up, Stand Up

Nicht mein Fall
-

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen