Sonntag, 31. Oktober 2021

Bis die Wolken wieder lila sind

MARTERIA
5. Dimension
Four Music
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ elektronisch | standhaft | ätherisch ]

Eigentlich hatte ich ja nicht gedacht, über die Musik von Marten Lanciny jemals noch etwas anderes schreiben zu müssen als das gleiche, was ich jetzt auch schon die letzten paar Jahre darüber geschrieben habe. Dass sie prinzipiell ganz cool ist, aber auch irgendwie auf Autopilot läuft. Dass sie Beteiligung der Krauts daran so ziemlich das beste ist und das Marteria schon irgendwie gescheite Texte schreibt, aber eben auch keine Hits mehr. So war es beim zweiten Teil von Zum Glück in die Zukunft vor sieben Jahren, so war es bei Roswell nochmal drei Jahre später und so war es im Prinzip auch 2018 auf 1982, seinem Kollaborationsalbum mit Casper. Es war eine so lange Zeit, dass zumindest ich mich inzwischen irgendwie an diesen Trott gewöhnt hatte und ehrlich gesagt nicht damit rechnete, dass der Rostocker aus dieser Formel nochmal ausbrechen würde. Immerhin steckte in diesem Sound ja auch ein einzigartiges Erfolgsrezept, dass Materia in dieser Zeit zu einer bewährten Marke in der Deutschpop-Landschaft machte und über Jahre hinweg gut seinen Geldbeutel füllte. Und wenn man sich 5. Dimension, seinen wie der Name schon sagt fünften Longplayer, so anhört, ist so viel erstmal auch nicht anders. Personell steht hinter der Platte ein weiteres Mal dasselbe Team, das neben Lanciny selbst im wesentlichen aus den Krauts als Produzenten sowie Yasha und Miss Platnum als Stammgästen für die Hooks besteht, lyrisch sind die meisten Themen nach wie vor die gleichen und weiterhin bleibt das Bewusstsein für die Marke Marteria an sich bestehen. Wenn überhaupt, dann wird dieses Konzept der letzten Platten hier ein Stückweit ausgebaut, wobei diese Ergänzungen für die Ästhetik der Platte durchaus entscheidend sind. Vor allem in Form der Beschäftigung von DJ Koze, der hier als zusätzlicher Produzent engagiert wurde und sich klanglich auch sehr auf diesem Album breit macht. So breit, dass man argumentieren könnte, dass es sich eigentlich gar nicht mehr um ein reines Hiphop-Produkt handelt, sondern mindestens genauso sehr um ein clubbiges Electronica-Release. So gut wie alle Songs hier verfügen über ein instrumentales Backing, das eigentlich eher klingt wie aus einem DJ-Set, das Modeselektor, Paul Kalkbrenner oder Apparat irgendwann Mitte der Zwotausender liegen gelassen haben und dessen Marteria sich nun annimmt. Was in meinen Augen wahnsinnig gut passt, denn ästhetisch findet er damit eine ebenso stimmige wie innovative Ausdrucksform. Schon immer ging es in Lancinys Texten ja irgendwie um Eskapismus, um Jugend und auch irgendwie ums Feiern, was er hier nochmal extra herauskitzelt. Nur dass es diesmal nicht wie eine Pose wirkt, sondern wie ein tatsächliches künstlerisches Anliegen, das nicht nur lyrisch, sondern durch alle Elemente dieser LP gleichermaßen umgesetzt wurde. Und es schafft eine Neuorientierung des typischen Marteria-Sounds auf die bestmögliche Art und Weise. Eine, die viele Stärken der Vorgänger mitnimmt und ausbaut, aber um neue Kompetenzen erweitert und unnötige Sachen hinter sich lässt. Das macht 5. Dimension in meinen Augen zum besten Album des Rostockers seit dem ersten Zum Glück in die Zukunft vor mehr als zehn Jahren, findet aber außerdem eine Kohärenz, die es in seiner Musik so vorher noch nie gab. Vor allem ist es aber schön zu sehen, dass das alte Schlachtschiff Marten Lanciny im dritten Jahrzehnt seiner Karriere trotzdem noch musikalisch beweglich ist. Denn auch wenn das jetzt nach viel klingt: So schnell hatte ich ihn noch nicht im kreativen Ruhestand gesehen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Paradise Delay | Loft & Liebe | Marilyn | Traffic | Zug der Erkenntnis | Strandkind | Neonwest | Interstellar | DMT | 6:30 (Good Night)

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Paul Kalkbrenner
Berlin Calling

Yasha
Weltraumtourist


Samstag, 30. Oktober 2021

Space Oddity

Coldplay - Music of the SpheresCOLDPLAY
Music of the Spheres
Parlophone
2021

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ euphorisch | arenarockig | harmonisch ]

Ich weiß, es ist noch immer eine unpopuläre Meinung, etwas derartiges zu behaupten, aber ich persönliche finde, dass die letzten zehn Jahre insgesamt eine recht gute Zeit waren, um ein Fan von Coldplay zu sein. Wenn ich ehrlich bin vielleicht sogar eine der besten. Klar gab es während dieser Phase, die allgemein von der sukzessiven Pop-und-EDM-Werdung der Briten gezeichnet wurde, einige zweifelhafte Momente und nicht selten bewegte sich die Band kreativ gesehen auf ziemlich dünnem Eis. Doch wenn man sich mal allein die Ergebnisse ansieht, die sie während dieser Periode in Albumform einfuhren, dann kann zumindest ich mich eigentlich nicht beschweren. Abgesehen vom etwas unglücklichen Ghost Stories von 2014 sind die drei Longplayer, die seit der Initialzündung Mylo Xyloto vor einer Dekade erschienen, allesamt schwer in Ordnung gewesen und als Kernstücke ihres Katalogs überraschend peinlichkeitsfrei. Klar erleben wir auf selbigen nicht unbedingt eine besonders coole oder stilistisch unfragwürdige Band, die Coldplay aber erstens eh noch nie waren und zweitens insgesamt zumindest sehr gut mimen. Wenn irgendjemand es in den letzten zehn Jahren schaffte, das Konzept von euphoristisch-buntem Bombast-EDM-Pop mit immerhin etwas Seele zu erfüllen, dann war das diese Gruppe hier und wenn sie das auf Music of the Spheres weiterhin tun, dann will ich mich darüber nicht beschweren. Wobei ein einfaches "weiter so" diesmal auch nicht ganz die Antwort auf alles ist. Denn obwohl die 12 neuen Tracks grundsätzlich das klangliche Konzept ihrer Vorgänger weiter tragen, nimmt die Band an entscheidenden Stellen doch leichte Veränderungen vor, die man auf ihre Art schon irgendwie als experimentell bezeichnen kann. In erster Linie ist da das ziemlich lose Storykonzept, von dem ich aber gleich an dieser Stelle sagen kann, dass es die Wesensart des Albums in keinster Weise beeinflusst und sich lediglich darin äußert, dass es zwischendurch immer wieder kurze Interludes gibt (aka die Songs mit Emojis als Titel, was schon wieder ziemlich geil ist) und am Ende den sinfonischen, zehnminütigen Closer Coloratura, der aber strukturell auch wenig zur Sache tut. Soll heißen, die Erfahrung von Music of the Spheres ändert sich kein bisschen, wenn man die Platte einfach nur als ganz normale Songfolge sieht, die keine inhaltliche Verbindung hat. Und wer genau danach nicht sucht, sollte am Ende auch weniger enttäuscht sein. Denn was Coldplay hier nach wie vor am besten können ist das Schreiben von Hits, die sie vor allem in der ersten Hälfte der LP auch wieder am Fließband liefern. Higher Power, Humankind oder My Universe sind stabile Banger, die sich mit den großen Chartnummern der Briten messen können. Ein bisschen unpassend finde ich dabei diesmal die Auswahl der Features, die unter anderem BTS und Selena Gomez beinhalten und die alle nicht wirklich mit den eigentlichen Songs harmonieren, in denen sie auftauchen, diese allerdings auch nie ruinieren. Und das Konglomerat von Coldplay mit Jacob Collier und We Are King in ❤️ist am anderen Ende des Spektrums tatsächlich sehr gelungen. Und selbst wenn die Band das ganze hier alleine gewuppt hätte, ganz frei von Fettnäpfchen wäre Music of the Spheres trotzdem nicht gewesen. Denn einige kompositorische Entscheidungen treffen für mich persönlich doch eher in den Bereich des fragwürdigen. Wobei Mätzchen wie der konsequente Hang zu Achtzigerjahre-Arenarock-Klischees, die gewohnt kuschlig-sozialkritischen Lyrics und das durchweg seltsame People of the Pride (ein Song mit Black Keys-Fuzzgitarren, Muse-Stampfschlagzeug und einem skandalösen 'fuck', das sehr überraschend dem ewig unbefleckten Mund des Chris Martin entschwindet) sogar noch klar gehen. Viel schlimmer finde ich die billig eingesampleten Olé-Olé-Olé-Olé-Rufe in ♾️, die klingen wie aus einem WM-Sommerhit von Icke Hüftgold (no shade gegen Icke Hüftgold), den garstigen Pitch-Effekt in der ersten Strophe von Biutyful sowie den vielen unnötigen Kitsch, den Coloratura am Ende noch auftafeln muss. Solche Momente sind dann zwar auch diejenigen, in denen Coldplay ab und zu die Formel ihrer Vorgängeralben verlassen und tatsächlich experimentieren, allerdings auf eine so lachhafte und dillettantische Weise, dass mir das lieber erspart geblieben wäre. Dass sie es besser können, zeigen ja außerdem die Alben der Vergangenheit, auf denen solche kleinen Exkurse nicht selten wesentlich besser funktionierten. Hier ruinieren sie das Gesamtergebnis nicht wirklich, werten es allerdings schon eine ganze Ecke ab. Und wenn man hinzunimmt, dass die Höhen dieser Platte am Ende auch nicht krasser sind als auf den letzten Platten, lässt mich Music of the Spheres mit einem etwas mulmigen Gefühl zurück. Dass es das schwächste Album der Briten seit Ghost Stories ist, heißt nicht dass es schlecht ist und dass es im großen und ganzen das Niveau der letzten paar Jahre hält, heißt nicht, dass es gut ist. Wobei der witzige Faktor in meinen Augen am Ende der ist, dass das Problem nie war, dass Coldplay zu poppig gewesen sind. Das Problem war eher, dass sie wieder mehr sein wollten als das.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
🪐 | Higher Power | Humankind | Let Somebody Go | ❤️ | My Universe

Nicht mein Fall
Biutyful | ♾️


Hat was von
Asia
Asia

Muse
the Resistance

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Shigeros Monster

Scotch Rolex - TewariSCOTCH ROLEX
Tewari
Hakuna Kulala
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ aggressiv | rauhbeinig | lärmig ]

Es ist ein bisschen wie bei Doktor Frankenstein und seinem Monster, nur umgekehrt. Denn Scotch Rolex, der Name der hier auf dem Cover von Tewari steht, ist eigentlich nur das Pseudonym eines Pseudonyms, das nicht unbedingt das bezeichnet, was die Person dahinter eigentlich ist. Die hört nämlich normalerweise auf den Namen Shigero Ishihara alias DJ Scotch Egg und ist seit etwa 15 Jahren dafür bekannt (beziehungsweise eher unbekannt), sich ausschließlich in den weirdesten Ecken des Electronica-Genres herumzutreiben und dort eine Reihe nischiger Liebhaber-Releases veröffentlicht zu haben, von denen ich bis dato selbst noch keines kannte. Scotch Rolex ist diese Person demzufolge nicht direkt, sondern viel eher das Monster, das sie erschaffen hat, um ein Projekt wie Tewari zu realisieren. Ein Konglomerat aus finsteren Nachtgestalten der Clubszene von Zentralafrika, die vor allem im Dunstkreis der Nyege Nyege-Bubble in Kampala ansässig sind, welche im Electronica-Untergrund inzwischen weithin berüchtigt für ihren grantigen und avantgardistischen Ansatz an diverse Techno-Subgenres ist, den ich auch hier schon ab und an besprochen habe. Stilistisch gesehen passt die Kollaboration dabei wie die Faust aufs Auge: Host Scotch Egg steht von sich aus schon immer auf die obskureren Subkategorien elektronischer Musik und ist sich dabei nicht zu schade, die Bühne auch mit anderen zu teilen. Und mit Leuten wie MC Yallah, Lord Spikeheart, Don Zilla und Swordman Kitala findet er auf einem Fleck gleich eine ganze Handvoll Acts, die nicht nur seinen Hang zu Joint Ventures teilen, sondern auch noch alle für sich sehr eigene und originelle Musik machen. Wobei Tewari als gemeinsames Ergebnis das beste aus beiden Welten vereint. Die entrückte und verkopfte Energie, die viele Nyege Nyege-Projekte in meinen Augen haben und die ich mitunter gewöhnungsbedürftig finde, wird hier dadurch ausgekontert, dass Scotch Egg ein Typ für Banger ist und dementsprechend ordentlich losbrettert. Gleichzeitig hält er sich in vielen Punkten aber auch kreativ zurück und macht abseits der Beats viel Platz für die individuellen Ausdrucksformen seiner Features, die das ganze wiederum herrlich vielschichtig machen. Die zwölf Tracks auf Tewari gehen dabei mal in die Richtung von bratzigem Industrial Hiphop wie in Omuzira oder Juice, mal eher in die von rhythmischen Instrumentalstücken wie in U.T.B. 88 oder dem Titelsong, mal sind sie sehr Screamo-lastig wie in Sniper und Success und an gewissen Stellen gibt es sogar Einflüsse aus Ambient und Dancehall. Eine Grundästhetik lässt sich dabei schwer festlegen, wobei alle Tracks ihren gemeinsamen Nenner schon irgendwie in den Klangelementen aus Industrial, Noise und Deconstructed Club haben, die letztlich nur unterschiedlich angewendet werden. Mit der Folge, dass am Ende auch alles hier ziemlich krachig, aggressiv und angepisst daherkommt. Und obgleich das durchaus heißt, dass Scotch Rolex selbst für Leute, die schon ganz gerne mal Backxwash oder Ghostemane hören eine recht gewagte Platte ist, ist es je nach Verhältnis doch eine recht zugängliche Angelegenheit. Gerade für diejenigen, die sich gerne mehr für die Clubmusik von Nyege Nyege und zentralafrikanischen Techno interessieren würden, ist das hier vielleicht ein guter Einstiegspunkt, da es im Vergleich zu den meisten Sachen, die direkt von da kommen, noch ein bisschen besser ballert und groovt. Probieren kann man das hier also auf jeden Fall, wenn man auf solche Sachen steht und wenn es nicht nach eurem Geschmack ist, dann kann man wenigstens Gift darauf nehmen, dass man das schnell genug merkt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Omuzira | Cheza | Nfulula Biswa | Juice | U.T.B. 88 | Wa Kalebule | Lapis Lazuli

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Ghostemane
Anti-Icon

Backxwash
I Lie Here Buried With My Rings and My Dresses
 
 

Mittwoch, 27. Oktober 2021

Endzeit

The World Is a Beautiful Place & I Am No Longer Afraid to Die - Illusory WallsTHE WORLD IS A BEAUTIFUL PLACE & I AM NO LONGER AFRAID TO DIE
Illusory Walls
Epitaph
2021
 
 
 
 
 
 
 
[ mathematisch | heftig | endgültig ]
 
Dass die großen Zeiten von the World is A Beautiful Place & I Am No Longer Afraid to Die, sollten diese überhaupt je existiert haben, mittlerweile vergangen sind, weiß die Band wahrscheinlich inzwischen selber am besten. Nachdem 2017 noch ein reichlich unambitioniertes neues Album von ihnen erschien, das eigentlich gar nicht mal schlecht war, wurden die vier darauffolgenden Jahre mehr oder weniger von eiserner Stille dominiert. Mit einer einzigen frischen Single sowie einer losen Kompilation von B-Seiten und unveröffentlichtem Material zog sich das Kollektiv aus Philadelphia zuletzt Stück für Stück von der kleinen Bühne zurück, die sie während der frühen Zwotausendzehner mit großen Mühen aufgebaut hatten. Was ich für meinen Teil vor allem aus dem Grund schade fand, weil damit viel Potenzial auf der Strecke blieb, das diese Gruppe für mich noch immer hat. TWIABP sind zumindest meiner Meinung nach noch immer eine der spannenderen Indierockbands der vergangenen Dekade und noch dazu eine, die in den besten Momenten auch die Alben hatte, um diesen Claim zu stützen. Und auch wenn sie mit Illusory Walls jetzt proforma sowas wie ein Comeback veröffentlichen, klingt dieses an vielen Stellen doch eher wie ein Schwanengesang. Nicht etwa weil es schlecht wäre, sondern ganz einfach weil es sehr viele subtile Signale in diese Richtung streut. Es ist an keinem Punkt eine wirkliche Aussage dahinter, aber mit der Art, wie die Band hier strukturell arbeitet und vor allem in den Texten sehr selbstreferenziell wird, ergibt sich durchaus eine Ahnung, dass hier etwas abgeschlossen werden soll. Zumal die Platte mit ihren 71 Minuten Spielzeit und dem wesentlich größeren Sound auch klanglich etwas von einem pompösen Finale hat. Nicht dass ich vermuten würde, dass TWIABP wirklich vorhätten, sich nach diesem Album zu verabschieden, dafür ist die Beweislage viel zu dünn. Nur ist hier etwas in der Luft, dass endgültig wirkt und das man wahrscheinlich nur versteht, wenn man die Musik hier gehört hat. Wobei diese Band meiner Erfahrung nah keine ist, bei der so etwas zufällig passiert. Ihr gesamter Katalog folgt einem inhaltlichen wie strukturellem roten Faden, der hier auch wieder deutlich zu spüren ist. Da ich über solche Sachen aber auch nicht mehr als spekulieren kann, empfiehlt es sich, bis auf weiteres bei den Tatsachen zu bleiben. Und hier kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass TWIABP vor allem neue Wege finden, um musikalische Ideen zu kommunizieren und ihre Ästhetik zu erweitern. In ihrer gesamten Diskografie ist Illusory Walls das mit Abstand fetteste und technisch komplexeste Album, das stellenweise sehr deutliche Tendenzen zu Math- und Progrock aufweist. Gleich im Opener hört man jene Art von kantigen Gittarenmotiven, die man eher von einer Band wie And So I Watch You From Afar oder Toe erwarten würde und später in Invading the World of the Guilty as a Spirit of Vengeance gibt es sogar einen kurzen Screamo-Part. Sicher, vom sinfonischen Emorock, den sie bisher spielten, war es noch nie weit zum verkorksten Midwest-Gegniedel von American Football oder Slint, doch ist das hier schon nochmal etwas anderes. Das hier ist verkopfter und lauter und mental eher im Progmetal zuhause als im Indierock. Und ja, der verdacht, dass so ein Sound vielleicht nicht die beste Idee war, ist durchaus berechtigt. Vor allem in Paarung mit den niedlichen Vokalduetten, die man schon von früheren Platten der Band kennt, beißt sich die neue Härte doch des öfteren mal und ganz allgemein steht TWIABP das Auftreten einer toughen Rockband eher schlecht zu Gesicht. Beeindruckend ist Illusory Walls viel eher an den Stellen, an denen es bewusst Platz für kompositorische Eskapaden einnimmt und sich traut, auch mal langatmig zu werden. Über die gesamte Spieldauer hinweg gibt es dabei mehrere lange Songs und verzögernde Interludes, die wirkliche Sahnehaube kommt aber erst ganz zum Schluss, wenn mit Infinite Josh und Fewer Afraid zwei deftige Longtrack-Brocken von jeweils 15 und 20 Minuten Spieldauer nochmal einen ganz neuen Ton anschlagen. Klanglich sind diese Songs nicht groß anders als das, was man schon von älteren Platten kennt, nur schaffen sie es, Konzepte nochmal in einer Größe zu zeigen, die vorher nicht mal im Bereich des denkbaren für diese Gruppe war. So hat Infinite Josh in seinen letzten Windungen nochmal einen richtig fetten Postrock-Moment, der in dieser Masse herrlich stark nachwirkt und Fewer Afraid nutzt seine eröffnenden vier Minuten für eines dieser abstrakten Poesiestücke, die man von Between Bodies aus ferner Vorzeit kennt. Gerade den letzten Song möchte ich dabei nochmal ganz besonders hervorheben, da er sich nicht nur im Kontext dieser LP anfühlt wie das große Finale, das viele künstlerische Gedanken abschließt, sondern auch im Kontext des gesamten Katalogs von TWIABP. Am Ende dieses Albums wirkt er wie der kulminative emotionale Höhepunkt, auf den nun inzwischen fünf Longplayer hinarbeiteten und dem es gelingt, das alles irgendwie aufzusammeln. Und spätestens wenn man hier angekommen ist, kann man vielleicht verstehen, was ich mit meiner kleinen Verschwörungstheorie zu Anfang meinte. Denn selbst wenn es nur ein Gefühl von mir selbst ist, ist es eines, das ich gerade nicht mehr loswerde. Und das Illusory Walls zwar nicht unbedingt zu einem besonders gelungenen Stück Musik macht, aber trotzdem zu einem wichtigen Punkt in der Diskografie dieser Band. Was genau er bedeutet, erfahren dabei wir hoffentlich noch.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Queen Sophie for President | Invading the World of the Guilty As A Spirit of Vengeance | Trouble | Infinite Josh | Fewer Afraid

Nicht mein Fall
We Saw Birds Through the Hole in the Ceiling


Hat was von
Bent Knee
Land Animal

NY IN 64
NY IN 64


Dienstag, 26. Oktober 2021

Glück im Unglück

James Blake - Friends That Break Your Heart JAMES BLAKE
Friends That Break Your Heart
Republic | Polydor
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ melancholisch | einfühlsam | entrückt ]

Meine Abrechnung mit James Blake habe ich eigentlich schon vor etwas mehr als zwei Jahren gemacht, als der Brite mit Assume Form seine letzte Platte veröffentlicht und das meiste, was ich in meinem Artikel damals schrieb, lässt sich eigentlich eins zu eins auch auf diesen hier anwenden: Spätestens seit seinem dritten Longplayer empfinde ich seine Musik als aufgeblähtes, künstlich kunstiges Prestige-Gedudel eines kreativ hängengebliebenen Typen, der zu viele reiche Freund*innen hat und im Business mittlerweile so gut vernetzt ist, dass es für ihn unmöglich ist, einen Flop zu landen. Nur deshalb umfliegt ihn auch heute noch der Hauch des magischen Klangvisionärs und nur deshalb kriegen immer noch alle Leute im Internet feuchte Hände, wenn er eine neue LP droppt. So zumindest meine Ansicht der Dinge, die sich aber inzwischen auch seit etlichen Jahren nicht mehr geändert hat und die eine Platte wie Friends That Break Your Heart noch einmal zementiert. Denn das Ergebnis ist hier eigentlich die alte Leier: Blake macht den selben abgehalfterten Elektro-R'n'B-Soul wie immer, singt dazu mit seiner leicht letharischen Version einer Sam Smith-Stimme und fühlt sich cool dabei, zu dieser drögen Veranstaltung illustre Namen wie SZA oder JID einzuladen, die am Gesamtergebnis aber auch nichts mehr ändern können. Wie schon auf den Vorgängern gibt es dabei gute Momente und Ideen, die aber bei weitem nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Grundkonzept dieses Künstlers nicht mehr das ist, was es mal war. So mag ich es hier beispielsweise sehr, dass Songs wie So Blessed You're Mine oder Funeral zu Blakes Wurzeln im Dubstep und UK Garage zurückkehren und teilweise auch ziemlich schnarrig daherkommen, doch macht die Platte am Ende keinen Schuh daraus, sondern belässt es bei kleinen Vignetten, die im trödeligen Singsang der LP wenig Unterschied machen. Auch profitiert ein Song wie Frozen wieder sehr davon, dass Blake einfach die richtigen Leute kennt, um in Form eines fetzigen Vokalfeatures ein bisschen Farbe ins Geschehen zu bringen, was aber auch die Lahmheit seiner Performance vor Augen führt. Wobei ich mehr denn je enttäuscht von seinem Auftritt als Sänger bin, der auf der einen Seite zu präsent ist, um einfach Begleitmaterial zu sein, auf der anderen aber zu wenig Charakter hat, um positiv herauszustechen. Und wo Blake sowas früher mit zahlreichen Effekten und Autotune übertünchte, ist er hier die meiste Zeit über in natura zu hören, was definitv keine gute Idee war. Maximal funktioniert es noch in Tracks mit starken Texten wie Famous Last Words oder Say What You Will, die gibt es hier aber auch nicht immer. Was heißt, dass ich bei diesen ach so emotional aufgeladenen Songs oft einfach mal wieder nichts spüre und eher gelangweilt bin. Wobei es ehrlich gesagt schon gar nicht mehr so hart ist wie zuletzt. Wenn ich es mir recht überlege, dann ist Friends That Break Your Heart vielleicht eine deutliche Ecke gelungener als seine beiden Vorgänger, allerdings auch immer noch weit entfernt von tatsächlicher Qualitat. Und es geht mir ja auch ums Prinzip: Was an diesem Album funktionert, sind einzelne Ideen, die sich aber eher selten zu ganzen Songs zusammenfinden und sowohl als Performer als auch als Songwriter bleibt Blake hier einmal mehr hinter seinem daherglorifizierten Leumund zurück. Was zehn Jahre nach seinem selbstbetitelten Debüt, dem einzig wirklich gelungenen Eintrag in seiner Diskografie, einfach kein Einzelfall mehr ist, sondern die Regel. Und dieses okaye Album ein Glücksfall für einen Musiker, der schon vor einer Weile den Weg seines besten Outputs verloren hat. Es ist einfacher, wenn man das erstmal akzeptiert hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Famous Last Words | Frozen | I'm So Blessed You're Mine | Lost Angel Nights | Friends That Break Your Heart

Nicht mein Fall
Life is Not the Same | Show Me | If I'm Insecure


Hat was von
Sam Smith
Love Goes

Anohni
Hopelessness


Montag, 25. Oktober 2021

Zurück in die Zukunft

BADBADNOTGOOD - Talk MemoryBADBADNOTGOOD
Talk Memory
XL
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ instrumental | cineastisch | unerwartet ]

Es ist schon keine Übertreibung, dass ich diesen Moment während der letzten fünfeinhalb Jahre herbeigesehent habe. Und ganz ehrlich, es war ja auch verdammt frech von Badbadnotgood, sich so kackendreist nach IV, dem bisher besten Album ihrer Karriere, in eine ausgedehnte Bandpause zu verabschieden, die zwar ihrerseits durchaus ertragreich war, aber eben nicht dasselbe. Zumal nach dem Austritt von Matthew Tavares 2019 für kurze Zeit auch gar nicht so klar war, wie und ob es überhaupt weitergeht mit der ganzen Unternehmung. Talk Memory ist deshalb nicht nur irgendwie ein Comeback, sondern ein Aufatmen für die Fangemeinde, weil am Ende eben doch wieder Badbadnotgood als Gruppe steht. Und die macht auch weiterhin das, was sie schon immer am besten kann. Spannend fusionierte Jazzmusik mit deutlichen Versatzstücken von Hiphop, die hier gerne auch mal üppig durchinstrumentiert sein können. Dabei sind die acht neuen Tracks in mancherlei Hinsicht eine Neuorientierung des Konzepts der Gruppe, an vielen Punkten aber vor allem ein Rückbezug auf ihren klassischen Sound. Neben oberflächlichen Geschichten wie der Tatsache, dass es hier erstmals einen richtigen Albumtitel gibt oder die Platte jetzt beim exklusiven Nobel-Indie XL Recordings verlegt wird, sticht dabei vor allem ein Faktor als Besonderheit hervor: Dass auf so gut wie jedem Song hier der brasilianische Bossa Nova-Veteran Arthur Verocai als Feature aufgeführt ist und das ganze hier schon fast wieder zu einer vollwertigen Kollaboration macht. Natürlich wäre auch ein solches Unterfangen für Badbadnotgood nicht das erste Mal und in den meisten Fällen schadete es ihrem Output nicht im geringsten, nur ist dieses hier die erste derartige Zusammenarbeit, bei der es nicht im wesentlichen um Gesangsbeiträge oder Rap-Strophen geht, sondern um instrumentale Kompositionen. Wobei das spannende dabei ist, dass diese klangästhetisch dann doch wieder sehr an die ersten beiden Alben der Kanadier erinnern. Soll heißen: Auf Talk Memory wird keine Sekunde lang gesungen, dafür wieder jene elaborierten Melodie-Teppiche ausgerollt, auf denen die Band herrlich subtil flexen kann. Weil Badbadnotgood aber zwischendurch gelernt haben, Popmusik zu spielen, hört sich das ganze inzwischen nicht mehr ansatzweise so düster und verhalten an wie früher, sondern regelrecht elegant und maximalistisch. Verucai als versierter Arrangeur zaubert jede Menge coole orchestrale Windungen in die Tracks des Trios, zu denen sich dann auch vereinzelt geniale Instrumentalisten wie Karriem Riggins, Terrace Martin oder Laraaji gesellen, die ihrerseits ganz tolle Arbeit machen. Man kann also generell sagen, dass Talk Memory prinzipiell wieder zu den Wurzeln von Badbadnotgood zurückkehrt, dabei aber alles mitnimmt, was während der letzten zehn Jahre dazugekommen ist. Und damit für alle Fans ein ziemlich guter Kompromiss sein sollte. Ich persönlich preferiere zwar noch immer die Eingängigkeit und Vielschichtigkeit, die die Band vor der Pause so gut etabliert hatte, das hier ist aber auf eine ganz andere Weise ein sehr gelungenes Stück Musik, das ich mordsmäßig respektiere. Wobei die Hauptsache ja auch eh ist, dass die Jungs überhaupt wieder zusammen Songs schreiben. So gut hätten sie dann nicht mal sein müssen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Signal From the Noise | Unfolding (Momentum 73) | Beside April | Love Proceeding | Beside April (Reprise) | Talk Meaning

Nicht mein Fall
-


Hat was von
R + R = Now
Collagically Speaking

Portico Quartet
Terrain


Donnerstag, 21. Oktober 2021

Vorsichtig Optimistisch

Porches - All Day Gentle Hold !PORCHES
All Day Gentle Hold!
Domino
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ optimistisch | farbenfroh | windschief ]

Wann immer ich hier über den Künstler Aaron Maine aka Porches schreibe, scheint mein wesentlicher Fokus darauf zu liegen, wie unfassbar cool vor fünf Jahren sein zweites Album Pool war. Und obwohl ich diesen Standpunkt noch immer vehement verteidige und besagte LP an dieser Stelle sehr gerne nochmal allen empfehlen möchte, die sie nicht kennen, würde das allein nicht reichen, um mich auch 2021 noch neugierig auf eine seiner Platten zu machen. Um es anders zu sagen: Wäre Maines musikalischer Katalog nicht über die gesamte Hälfte der Zwotausendzehner hinweg ziemlich stark gewesen, wäre er wohl inzwischen niemand, den ich hier noch so ausführlich besprechen würde. Wobei auch seine künstlerische Wandlung in dieser Zeit eine durchaus spannende ist, die mich immer wieder aufs neue packt. Als er 2015 von Domino Records unter Vertrag genommen wurde und dort erstmal das Referenzwerk Pool veröffentlichte, spielte er noch eine ziemlich leichtfüßige Mischung aus softem R'n'B, Versatzstücken von Chillwave und retrofixiertem Achtzigerpop, die seine beiden folgenden Alben the House und Ricky Music jedoch konsequent reduzierten und abkühlten, bis am Ende nur noch eine sehr minimalistische und trockene Form von Alt-R'n'B übrig war, deren Ästhetik eigentlich eine komplett andere war. Weshalb ich auch gespannt war, wohin Maines Reise von hier aus hingehen würde. Anderthalb Jahre später lautet die Antwort auf All Day Gentle Hold!: Ein kräftiges Stück in Richtung Optimismus und damit auch ein bisschen zurück zum einstigen Sound von Porches. Wenn auch nicht unbedingt auf direktem Weg. Denn dass die neue Platte wieder farbenfroher und lebensfreudiger klingt, ist in erster Linie ein Automatismus, der sich aus ihrem Vorgänger bedingt. Nach dem reichlich düsteren und stellenweise monotonen Ricky Music hätte es wahrscheinlich keine realistische Möglichkeit gegeben, klanglich noch frostiger und eintöniger zu werden, weshalb viele Tracks hier trotz nach wie vor starkem Depri-Faktor verhältnismäßig fröhlich klingen. Was spannend ist, ist viel eher der Weg dahin, der auf All Day Gentle Hold vor allem über Indie- und Emorock führt. Ein bisschen ist das ganze dabei auch ein Throwback zu Maines Tagen als Bedroompop-Künstler auf Bandcamp, in denen Porches noch im wesentlichen Garagenrock machten, allerdings spürt man hier auch alle stilistischen Pfade, die das Projekt seitdem durchwandert hat. So klingen Songs wie Watergetsinside oder Swarovski wieder ziemlich nach dem alten Pool-Sound, I Miss That oder In A Fashion bleiben noch sehr im Stil der letzten beiden Platten verhaftet und was Grab the Phone und Comedown Song ganz zum Schluss machen, erinnert an eine sehr schicke und intellektuelle Variante dessen, was Lil Peep und XXXtentacion auf ihren letzten Alben andeuteten. So oder so ist das Ergebnis aber mal wieder ein extrem spannendes und das Songwriting ein im typisch Maine'schen Sinne überzeugendes. Es braucht nach den letzten Sachen vielleicht erstmal ein kleines bisschen Eingewöhnungszeit, aber wenn man Porches auf den letzten vier Alben mochte, wird einem über kurz oder lang wahrscheinlich auch das gefallen. Womit es sich ein weiteres mal lohnt, diesen Künstler weiter zu verfolgen.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
I Miss That | Swimming Big | Back3School | Swarovski | Watergetsinside | In A Fashion | Grab the Phone | Comedown Song (Gunk)

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Tirzah
Devotion

070 Shake
Modus Vivendi


Mittwoch, 20. Oktober 2021

Kein Zufall

Juse Ju - JuNi
JUSE JU
Juni
Groove Attack
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ pessimistisch | selbstbewusst | nachdenklich ]

Als Juse Ju im Herbst 2018 mit seinem vierten Album Shibuya Crossing für mich relativ unerwartet eine der besten Deutschrap-Platten der damaligen Saison veröffentlichte, ging ich davon aus, die Nummer wäre ein Glückstreffer gewesen. Es war eine LP, deren Qualität zwar da war, aber ziemlich auf tönernen Füßen stand und sich darüber hinaus sehr wenig planvoll anfühlte. Ganz zu schweigen davon, dass ihr Interpret für mich zu diesem Zeitpunkt jemand war, der generell eher durchwachsene Musik machte. Drei Jahre später kann ich resümieren, dass besagtes Album für den Kirchheimer der Beginn einer Erfolgs- und Hochwertigkeitssträhne war, der ihn Stand 2021 zu einem Rapper macht, von dem ich einiges Erwarten kann. Sicher, mit Millenium war der einzige richtige Longplayer, den Juse Ju seitdem veröffentlichte, nicht unbedingt der Hammer, doch gab es der starken Momente dennoch mehr als genug. Gerade in Form von Singles und Kleinformaten ging in der Zeit seit 2020 ordentlich die Post ab und es gab Phasen, in denen quasi jeden Monat ein weiterer Riesenhit von diesem Typen erschien. Dass nicht alle von denen jetzt den Weg auf seine neueste LP geschafft haben, ist dabei vielleicht ein bisschen schade, macht aber auch irgendwie Sinn. Weil der Juse Ju von heute eben nicht mehr nur Musik macht, um ein Album zu promoten, sondern zunehmend auch tagesaktuelle Statements abgeben will, die für so etwas zeitloses wie einen Longplayer eher weniger funktionieren. Trotzdem freue ich mich zu sagen, dass JuNi als produktorientierter Longplayer auch endlich wieder einer ist, der gerade darin sehr gut aufgeht und nach dem etwas verkorksten Millenium der Nachfolger ist, den Shibuya Crossing verdient hat. Mit einem Juse Ju an der Spitze, der wiederum damit überrascht, was für eine weitreichende Palette an Emotionen und Gedanken er hier anschneidet. Wobei es durchaus einen kleinen Weg braucht, um zu diesen Momenten durchzudringen. Denn in großen Teilen der ersten Hälfte ist JuNi doch erstmal ein recht ahnbares Album, das auch gerne Mal Formeln von alten Platten wiederholt und dabei auch vermeidbare Fehler macht. Es kann daran liegen, dass Songs wie Mittelschicht Männers, How Dare You oder Eine kleine Frage die Elemente der LP sind, die man schon am längsten vorher kannte, doch habe ich hier an vielen Stellen das Gefühl, Ideen und Konflikte der wiedergekäut zu bekommen, die eigentlich schon lange abgehandelt waren. Juse stichelt dabei ziemlich intelligent gegen Rapperkolleg*innen, Querdenker*innen und toxische Maskulinität, findet aber kaum wirklich neue Narrative. Und spätestens wenn in Legit Dauergast Fatoni für einen Part auftaucht, ist das zwar irgendwie süß und traditionsbewusst, aber auch maximal ausgelutscht. Weshalb ich eigentlich nach den ersten fünf Songs dachte, JuNi würde eine weitere eher langweilige LP von Juse werden. Bis er im zweiten Akt des Dramas dann eben doch noch das Ruder herumreißt und nicht nur eine ganze Ecke interessanter wird, sondern sogar eine mir noch völlig neue Facette seines Songwritings zeigt. Gemeint ist damit vor allem der Mittelteil, bestehend aus den Stücken Gargoyle, Gleisbett und dem Titeltrack, die in emotional sehr finsteres Territorium vordringen, in denen man Juse Ju voher selten gesehen hat. Sicher gab es früher schon Nummern wie Lovesongs, Claras Verhältnis oder Milka Tender, die ungemütlich und rauh waren, aber das hier ist was anderes. Hier werden Themen wie Zynismus, Imposter Syndrome, Depressionen und Gewaltbereitschaft sehr selbstzersetzend angeschnitten, wobei sich der Künstler so kaputt zeigt wie noch nie vorher. Das ist dann plötzlich wahnsinnig stark und hat wieder diesen Überraschungseffekt, den ich an Shibuya Crossing so schätzte. Vor allem, weil danach noch lange nicht Schluss ist. Zwar geht die Platte mit Speedrun, Bye Bye und Nicenstein wieder etwas auf leichtere Themen zu, die sind aber ebenfalls wesentlich cooler ausformuliert als die auf der ersten Hälfte der LP und funktionieren damit einfach viel viel besser. Und spätestens wenn Juse Ju mit dem Closer Sorry, Kid zum Ende nochmal einen seiner schönsten biografischen Storytelling-Tracks auspackt (in denen er für mich immer noch am besten ist), setzt er dem Ding irgendwie die Krone auf und ist wieder in der Topform, in der ich ihn zuletzt so gerne gesehen habe. Weshalb dieses Album als Gesamtheit trotz seiner deutlichen Mängel eines ist, das mich extrem mit diesem Künstler versöhnt. Es ist wie ein sehr leckerer Kuchen, der leider an der Vorderseite schon etwas angebissen ist. Das mindert schon irgendwie den Wert des ganzen Dinges und auf den beknabberten Teil kann ich verzichten, der Rest ist deshalb aber trotzdem nicht weniger lecker. Und mit Zutaten kennt dieser Rapper sich inzwischen auf jeden Fall richtig gut aus. Fehlt nur noch, dass die Abstimmung an manchen Stellen etwas knackiger wird. Aber noch sind wir ja mittendrin im musikalischen Homerun des Juse Ju.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Intro | Der Gargoyle | JuNi | Gleisbett | Speedrun | Nicenstein | Bye Bye | Sorry, Kid

Nicht mein Fall
Mittelschicht Männers | How Dare You


Hat was von
Maeckes
Tilt

Antilopen Gang
Anarchie & Alltag