Sonntag, 17. Oktober 2021

Schräge Sachen im Schlafzimmer

Tirzah - Colourgrade TIRZAH
Colourgrade
Domino
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ avantgardistisch | dillettantisch | schräg ]

Wenn ich 2021 so über die Musik von Tirzah Mastin nachdenke und darüber, wie ich mich in der Vergangenheit damit beschäftigt habe, habe ich auch nach drei Jahren noch immer irgendwie das Gefühl, dass diese Künstlerin wahnsinnig unterschätzt wird. Und das nicht nur von der medialen Öffentlichkeit, die von ihrem Output bis dato (leider) verhäktnismäßig wenig Notiz nimmt, sondern auch von mir selbst, der ihr Debütalbum Devotion vor drei Jahren immerhin als eine der besten Platten der damaligen Saison listete. Ein Teil von mir ist dabei einfach der Meinung, dass in der unscheinbaren Londonerin eine verborgene kreative Kraft steckt, die ganz einfach noch niemand - vielleicht nicht mal sie selbst - so wirklich erkannt hat und die ihre letzte Evolutionsstufe noch lange nicht erreicht hat. Warum ich das denke? Weil ich es erstaunlich finde, wie unfassbar clever ihr Erstling an vielen Stellen schon kompositorisch arbeitete. Wie wenige Künstler*innen versteht es Tirzah darauf, einen sehr ansprechend und spannend performten und aufgenommenen Song mit extrem spartanischen Mitteln aufzubauen, die andere Leute nicht mal für ihre räudigsten Demotapes verwenden würden. Überall in den Fugen ihres Debüts hört man schrottige Keyboards, sehr grob gehaltenes Editing und bestenfalls mittelmäßige Aufnahmequalität, die aber in keinem Moment absichtlich LoFi oder garagig wirken. Im Gegenteil, Devotion ist für mich nach wie vor ein Album mit einem extrem aufregenden Sound und für ein Beweis, was das Modell Schlafzimmerpop leisten kann, wenn jemand wirklich kreativ an die Sache herangeht. Wobei Kreativität sicherlich das beste Stichwort ist, um den Übergang zu Colourgrade, ihrem jüngst erschienenen Nachfolger, zu schaffen. Denn was auf dem Erstling vor drei Jahren bestenfalls eine leichte Neigung zu experimentellen Sounds und ungewöhnlicher Instrumentierung war, ist hier der Faktor, der im wesentlichen diese LP ausmacht. Will sagen, dass Tirzah hier den schnuffligen Bedroom-R'n'B von Devotion quasi komplett durch eine Ästhetik von Experimentalpop ersetzt hat, die wesentlich schroffer und herausfordernder ist. Was sie hier tut, ist eher mit der tiefenanalytischen Pop-Laborarbeit einer Julia Holter oder Holly Herndon vergleichbar als selbst mit den schrägsten Sachen, die sich im Defitionsbereich des Alternativen R'n'B so finden und wesentlich weniger gemütlich. Faszinierend ist es deshalb aber umso mehr. Ebenso wie den jüngeren Platten von Holter hört man auch Colourgrade an, wie herrlich verspielt es in jeder Faser ist und wie viel Neugier in der Synthese dieser Songs steckt. Wobei Songs in diesem Fall nicht mal ein dehnbarer Begriff ist, weil es trotz des extrem avantgardistischen Naturells dieser LP immer geschafft wird, noch irgendwo eine zusammenhängende Gesangspassage oder Gitarren-/Synthmelodie unterzubringen, die alles mehr oder weniger bindet. Und hier zahlt sich dann doch wieder Tirzahs songwriterisches Geheimtalent aus, die ein weiteres Mal halbwegs harmonische Strukturen aus Material baut, das eigentlich völlig an jeder Eingängigkeit vorbei geht. Besseres Equipment hat sie dafür inzwischen auch gefunden, trotzdem hört man an nicht wenigen Stellen wieder die gleichen Billo-Keyboards wie auf Devotion, die inzwischen fast schon einen Wiedererkennungeffekt haben. Wobei ich auch nur bedingt sagen würde, dass Colourgrade zu diesem Ausgangspunkt tatsächlich eine Erweiterung ist. Viel eher nimmt Tirzah sich hier die wesentlichsten Elemente ihrer ersten LP und versucht mit deren Hilfe nochmal etwas komplett neues. Und obwohl ich mir schon ein bisschen wünschen würde, dass sie die gemütliche und intime Version ihrer selbst damit nicht komplett begräbt, muss ich schon sagen, dass diese neue Inkarnation ihr weitaus mehr Möglichkeiten einräumt als alles vorher. Dass sie diese in Zukunft zu nutzen weiß, steht für mich dabei völlig außer Frage.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Colourgrade | Tectonic | Hive Mind | Beating | Sleeping | Crepescular Rays | Send Me | Hips

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Holly Herndon
Proto
 
James Ferraro
Skid Row
 
 

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