Montag, 18. Mai 2015

Zunge im Fleischwolf

HOLLY HERNDON
Platform
4AD
2015















Dass Gesang schon immer das musikalische Medium ist, welches die meisten Möglichkeiten zum Experimentieren bietet, wird uns immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Seien es die vielen verschiedenen Variationen, mit denen Hardcore und Heavy Metal vokalistisch übermalt wird, der Exhibitionismus von Soul-Stimmen oder das magische Gadget im HipHop, das man als Flow bezeichnet. Eine, die sich die Grenzerfahrungen dieses Mediums zur Aufgabe gemacht hat, ist die junge Amerikanerin Holly Herndon. Auf ihren bisherigen Veröffentlichungen, deren Höhepunkt dieses Debüralbum ist, setzt sie sich vor allem durch elektronische Verzerrung auf eine Art mit Vocals auseinander, die bis dato noch nicht häufig zu hören waren. Auf Tracks wie Chorus oder Home zerschnippelt die Künstlerin aus Tennessee ihren Gesang bis zur Unkenntlichkeit und verhackstückt das ganze in einem Mix, der die Idee hinter dem Einsatz der Stimme vollkommen abstrahiert. Entfernt kennen wir diese Herangehensweise schon von Kollegen wie Thom Yorke, Björk oder der Vaporwave-Szene, doch Herndon ist unter ihnen definitiv die größte Streberin. Wo es bei den meisten am Ende doch noch um die Vermittlung einer Botschaft durch Worte geht, ist bei ihr der Klang das bestimmende Element, den sie zwecks dessen auch ohne jede Scham modifiziert. Von ihren Aufnahmen hört man hier größtenteils nur Schnipsel, die in dreistester Form übereinander gelegt und gepitcht sind, sodass ihre Stimme am Ende eher wie ein Instrument wirkt. Zwar gibt es hier tatsächlich auch Songs mit Lyrics, wie beispielsweise Morning Sun, doch auch hier wird Gesang nebenbei sozusagen als instrumentale Begleitung verwendet. Über das Ergebnis kann man dann viel sagen, nicht jedoch, dass Herndon ihren Job nicht beherrschen würde. Zwischen Popsongs, elektronischem Sample-Massaker, Ambient-Teilen und teilweise klassisch anmutenden Momenten ist die Sängerin zu jedem Zeitpunkt kreativ, waghalsig und in gewisser Weise sogar ästhetisch. Das Verständnis von Komposition hat sie dabei aus der avantgardistischen Vapor-Ecke, was einigen Hörern vielleicht übel aufstößt. Doch Herndon zeigt sich hier auch als wesentlich versiertere Künstlerin, die mit ihrer Musik ein Ziel verfolgt. So gut wie jeder Song hier hat eine neue Idee, die jedes Mal zufriedenstellend umgesetzt wird, so dass es hier nie langweilig wird. Am Ende werden es zwar wieder die Vapor-Leute sein, die Platform am meisten feiern, doch man sollte wissen, dass dieses Album mehr zu bieten hat als das. Ich für meinen Teil kann dafür bürgen.
9/11

Beste Songs: Chorus / Morning Sun / Locker Leak / Lonely at the Top

Nicht mein Fall: Interference

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