Sonntag, 10. Mai 2015

Das Wort zum Sonntag: Classic!?

Der Anlass für den heutigen Post ist ein Ereignis, welches seine Spuren eigentlich schon das ganze Jahr über durch die Musikszene zieht und das wahrscheinlich auch kein so schnelles Ende finden wird. Spätestens wenn im Dezember die Resümees für 2015 gezogen werden, wird die Frage danach wieder auftauchen: Ist Kendrick Lamars To Pimp A Butterfly bereits jetzt ein Klassiker? Ich würde so etwas nicht ansprechen, wenn nicht schon viele namhafte Kenner und Kollegen diese These aufgestellt haben und sie seit einigen Monaten unaufhaltsam durch die Blogosphere geistert. Was dabei aber sehr wichtig ist, ist eindeutig die Spreu vom Weizen zu trennen. Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen den Aussagen "To Pimp A Butterfly ist das beste HipHop-Album unserer Generation." und "To Pimp A Butterfly ist ein Klassiker." Denn bei ersterem reden wir von Meinungen von Einzelnen, qualitativen Einschätzungen und einer Aussage, die wesentlich weniger bedeutingsschwanger ist. Dieser Behauptung kann ich widersprechen und trotzdem besteht darüber noch die Möglichkeit zur Diskussion. Das Wort "Klassiker" dagegen ist ein echtes Schwergewicht, bei dem eigentlich hundertprozentige Akzeptanz aller Beteiligten vorausgesetzt ist. Es ist vielleicht einfacher, das an einem anderen Beispiel zu erklären. Wenn man über Nirvanas Nevermind redet, wird es sicherlich eine Person X geben, die dieses Album nur ganz okay oder gar furchtbar findet. Das ist dann ihre Meinung und die muss man akzeptieren. Würde diese Person aber abstreiten, dass Nevermind ein Klassiker ist, hätte er ganz einfach Unrecht. Diese Platte hat die Rockmusik nachhaltig geprägt und ist aus der Musikgeschichte heute nicht mehr wegzudenken. Es gibt Zahlen, Zeitzeugen und Fakten, die das belegen. Im Falle dieses Longplayers ist die Zuordnung zugegebenermaßen ziemlich einfach. Jedem, der schon mal Smells Like Teen Spirit gehört hat, ist der historische Status von Nirvana bekannt und damit völlig indiskutabel. Nimmt man allerdings eine Platte wie Radioheads Kid A, kann man schon wieder viel debattieren. Und so ist es mit den meisten bekannteren und größeren Alben aus den letzten 60 Jahren. Es gibt welche, die darin einen wahren Klassiker sehen und welche, die genau das anzweifeln. Und demnach ist es auch völlig okay, wenn man bestimmte als "classic album" gebrandmarkte Werke nicht mag. Ich beispielsweise konnte mich noch nie mit den Ramones anfreunden, habe meine Probleme mit den Beatles und finde den Status, den AC/DC bei vielen ernsthaften Musikhörern genießen, äußerst bedenklich. Aber dass all diese Künstler Musikgeschichte geschrieben haben, muss ich wohl oder übel hinnehmen. Während ich vielleicht nebenbei ein paar persönliche Klassiker habe, die nur in meinem Leben einen wichtigen Einfluss hatten, wie Hop Along oder Zombie Joe.
Aber zurück zu Kendrick Lamar. Die Frage, ob eine bestimmte Platte als würdig für diese Art von Status gilt, hängt sicherlich ein bisschen von der Zahl und Art von Befürwortern ab. Allerdings ist ein ganz anderer Faktor bei solch einem Prozess meiner Meinung nach der entscheidende: Zeit. Nur wenn ein Werk eine gewisse Langzeitwirkung hat, man über Jahre davon redet, es andere Künstler beeinflusst und nach einer langen Phase der Reifung vielleicht sogar so etwas wie Nostalgie hervorruft, kann es sich mit Fug und Recht Klassiker nennen. Und bei einem gerade mal zwei Monate alten Album ist eine gewisse Skepsis nur gesund. Sicherlich sehen viele To Pimp A Butterfly als vielleicht besten HipHop-Longplayer dieses Jahrzehnts. Doch wer weiß, ob nicht in ein paar Monaten ein noch größeres Meisterwerk erscheint und Lamars Kunststück wiederum in den Schatten stellt. Auch hier hilft wieder das Beispiel von Nevermind als Verdeutlichung. Anfang der Neunziger dachten viele Experten, dass Soundgarden der große Wurf für den Grunge gelingen würde. Chris Cornell und Kollegen waren eine der ältesten Bands der Szene in Seattle und die ersten mit einem Major-Deal. Eigentlich rechnete niemand mit den jungen Provinz-Possen Nirvana, die dann jedoch die große Explosion des alternativen Rock vollbrachten und Badmotorfinger trotz eines Achtungserfolgs auf lange Sicht weit hinter sich zurück ließen. Der Faktor Zeit kann also vieles verändern. Das vielleicht klassischste Album der Pop-Geschichte, Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band von den Beatles, erntete bei seiner ursprünglichen Veröffentlichung eher durchwachsene Resonanz und wurde sogar als kolossale Albernheit verspottet. Heute wissen wir, was dieser Geniestreich für die Musik der kommenden Jahrzehnte getan hat. Natürlich gibt es auch Beispiele für Platten, die direkt zu Klassikern wurden wie Dark Side of the Moon von Pink Floyd oder OK Computer von Radiohead. Allerdings hat die Zeit hier auch das bestätigt, was damals prognostiziert wurde. Als Gegenthese kann ich hier nur all die Leute anführen, die um 2010 behaupteten, dass James Ferraro die Zukunft der Popmusik sei, und über die wir schon fünf Jahre später herzlich lachen. Und Kendrick Lamar ist wieder so ein Fall. Er wird von allen geliebt, hat ein Album gemacht, dessen Qualitäten sogar ich als Skeptiker nicht leugnen kann und das ein starkes politisches sowie gesellschaftliches Statement abgibt. Berechtigte Zweifel hege ich trotzdem: Klanglich wird auf To Pimp A Butterfly vor allem Jazz als Bindemittel genutzt. Nicht unbedingt eine Musikrichtung, die besonders Zukunftsweisend ist. Außerdem sind Lamars Texte sehr komplex und haben teilweise einen schwer verständlichen geschichtlichen oder gar religiösen Überbau. Faktoren, die für mich kein so schnelles Urteil rechtfertigen. Solche Äußerungen sollte man meiner Meinung nach frühestens in fünf bis zehn Jahren tätigen. Allerdings will ich ebenfalls nicht altklug tun und behaupten, ich hätte nicht auch meine Prognosen. In den letzten Jahren sind durchaus einige Platten erschienen, die ich in näherer Zukunft als Klassiker sehe. Sunbather von Deafheaven oder so gut wie alles, was Death Grips seit 2011 machen sind solche Kandidaten. In diesen Veröffentlichungen habe ich auch schon das erkannt, was viele momentan in To Pimp A Butterfly sehen. In die Zukunft kann ich aber genau so wenig schauen wie diese Leute und bin daher vorerst mal ganz ruhig. An der Erfahrung, dass es durchschnittlich zwanzig Jahre dauert, bis man über so etwas urteilen kann, ist ja auch was dran. Das, was gerade mit Künstlern wie Aphex Twin, Oasis oder Green Day passiert, kann man sich für die Musik von heute noch gar nicht ausmalen. Weswegen meine Antwort auf die Frage, ob To Pimp A Butterfly schon jetzt ein Klassiker ist, ein eindeutiges Nein ist. Es obliegt nicht unserer Generation, das zu entscheiden. Wir können später nur mal erzählen, wie es war, dabei zu sein.

Weiterlesen:
Review zu To Pimp A Butterfly (Kendrick Lamar):
zum Review

CWTE auf Facebook

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen