Sonntag, 3. Mai 2015

Teenagerliebe

TOCOTRONIC
Tocotronic (das rote Album)
Vertigo
2015















Man hat das Gefühl, Tocotronic wissen nicht so ganz, wohin mit ihrer Freiheit. Schon seit einigen Jahren schleppen sich die Hamburger von Album zu Album, sind die intelligenteste Popband Deutschlands, aber können damit nichts anfangen. Schall & Wahn, ihre letzte richtig gute Platte, ist fünf Jahre her und schon da hatte man ein bisschen das Gefühl, dass hier nur weiter gemacht wurde, weil man weiter machen musste. Danach kam mit Wie wir leben wollen 2013 der negative Höhepunkt des Frühherbstes von Tocotronic und der Zeitpunkt, an dem man sich ernsthaft Sorgen um die Band machen musste. Zwischen literarischer Überhöhung und Hit-Ambitionen verloren Dirk von Lowtzow und Kollegen die Bodenhaftung und damit so gut wie jeglichen Anhaltspunkt. Man vermisste zum ersten Mal die Zeit, in der sie noch ganz normale Rockmusik machten. Und für das rote Album sah es zunächst nicht besser aus. Denn obwohl sich die Hamburger hier mit dem Thema Liebe und damit mit einer zutiefst menschlichen Angelegenheit auseinandersetzen, waren die ersten Songs der Platte eher ernüchternd. Wo Prolog noch etwas abgefahren, aber an sich in Ordnung war, musste man sich an die Erwachsenen schon eher gewöhnen. Dass Lowtzows Texte eigenartig sind, ist nichts neues, doch seit wann nervt die Rezitation selbiger denn so furchtbar? Wenn der Sänger in gestochenem Dozenten-Deutsch über Leidenschaft singt, fühlt man sich doch unangenehm an von prüden Biolehrern gehaltenen Sexualkunde-Unterricht in der Grundschule erinnert. Und so läuft das leider auf dem ganzen Album. Songs wie Chaos oder Zucker sind eigentlich unproblematisch und sogar bedingt romantisch, doch so grauenvoll umgesetzt, dass man sich schon fragt, ob das noch Kunst ist. Ziemlich oft habe ich hier das Gefühl, dass eine nicht-musikalische Darbietung der Texte ein besseres Ergebnis hervorgebracht hätte. Lyrik ist nicht das Problem von Tocotronic, eher das ziemlich lahme Drumherum. Wobei auch das alles schon besser funktioniert als auf dem Vorgänger. Sobald die Band die Gitarre in die Hand nimmt, kann eigentlich nichts schief gehen. Von Synthesizern und Bläsern hätten sie hier jedoch lieber die Finger gelassen. Es gibt absolut furchtbare Momente auf das rote Album, doch generell strahlt die Platte doch wieder die mysteriöse Faszination aus, die Tocotronic jedes Mal verbreiten. Man versteht nicht viel davon, doch irgendwie kann man es nicht hassen. Auch wenn man gerne möchte. Man kann sich am Ende darauf einigen, dass es Stärken und Schwächen auf dieser Scheibe gibt und dass es hier nach Wie wir leben wollen wieder ein Stück aufwärts geht. Obwohl auch meine Sorgen noch nicht ganz getilgt sind. Die ruhelose Spätphase von Tocotronic geht also immer noch weiter.
8/11

Beste Songs: Solidarität / Spiralen / Sie irren / Diese Nacht

Nicht mein Fall: die Erwachsenen / Rebel Boy

Weiterlesen:
Review zu Libertatia (Ja, Panik):
zum Review

Review zu Krieg & Krieg (Vierkanttretlager):
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