Samstag, 29. Juni 2019

Die Dunkelheit zwischen den Sternen





















[ psychedelisch | proggig | chaotisch ]

Die Komödie Happy Metal von 2014 ist in vielen Belangen ein ziemlich grottenschlechter Film mit vielen dummen Klischees und wenig tatsächlichem Humor, seine Prämisse ist jedoch nicht uninteressant: Was würde passieren, wenn Mitglieder einer satanistischen Black Metal-Band durch widrige Umstände dazu gezwungen wären, sich als quirlige Hippies auszugeben und quirlige Hippiemusik zu spielen? Eine Frage, die eigentlich gar nicht so fern liegt, denn obwohl Hippietum und Metal mittlerweile quasi als komplett gegensetzliche Stereotype gelten, ist das in seiner historischen Entwicklung sozusagen der Urgroßvater des anderen. Aber wie das bei jüngeren Generationen so ist, entfremden sich diese zusehends von ihren Vorfahren und insbesondere Black Metal dürfte unter den vielen verschiedenen Sprösslingen noch immer das trotzigste und rebellischste Familienmitglied sein. Zumindest will man sich nicht unbedingt vorstellen, wie es ablaufen würde, wenn Vertreter*innen beider Szenen sich zum gemeinsamen Jammen treffen würden. Muss man aber auch gar nicht, denn seit nun inzwischen schon über zehn Jahren gibt es eine Band, die sich genau dieser Art von Musik widmet und das unwirkliche Crossover immer wieder forciert. Bereits seit 2007 suchen Orannsi Pazuzu aus dem finnischen Tampere den gemeinsamen Nenner von psychedlischem Acid Rock, Progrock, Noise und Black Metal, wobei die Anteile der verschiedenen Stilrichtungen immer wieder in unterschiedlichen Dosierungen einfließen. Und wo diese Experimente von großen Teilen des Untergrunds schon seit ihrem Debüt Muukalainen Puhuu von 2009 frenetisch gefeiert wurden, hielt ich die ganze Idee lange für eine ziemliche Schnapsidee. Wenn die Mission der Finnen die Suche nach der Psychedelik im extremen Metal war, so wurde deren Grundessenz in meinen Augen erst vor drei Jahren auf Värähtelijä gefunden, dem bisherigen Opus Magnum von Oranssi Pazuzu. Das ist okay, es braucht schließlich eine Weile um so eine Mischung glaubwürdig über die Bühne zu bringen, doch hier werden zum ersten Mal die entscheidenden Hebel gezogen. Mein Problem mit dem Stil der ersten drei Platten war zumeist, dass das Songwriting dort aus diversen mäßig kreativ zusammengekitteten Einflüssen bestand, die sich in Summe einfach nur nach sehr nerdigem Metal klangen. Die affigen Solierungen und nudeligen Strukturen erinnerten an furchtbare Prog-Bands wie Spocks Beard oder Dark Suns und man hatte den Eindruck, Oranssi Pazuzu würden Öl und Wasser mischen wollen. Värähtelijä macht diesen Fehler zum ersten Mal nicht und geht stattdessen eher organisch vor: Alle Songs hier klingen wie die Ergebnisse langwieriger Jams, die die Band gemeinsam aus dem Äther hebt und die vor allem von Zusammenspiel der einzelnen Elemente profitieren. Natürlich gibt es nach wie vor die spacigen Orgelsoli und nerdigen Momente, doch verschmelzen diese hier mit einem brachialen Gesamtkörper, der die meisten der sieben Tracks bestimmt. Was dabei vor allem gewinnt ist die Atmosphäre, die Oranssi Pazuzu erzeugen. Wenn es etwas großartiges gibt, das Black Metal und Acid Rock gemeinsam haben, dann ist es, gigantische Klangwände zu erzeugen und diese über lange Zeit vor sich her zu schieben. Värähtelijä kombiniert dabei die Düsternis von apokalyptischen Riff-Kaskaden mit der psychedelischen Weite des Spacerock zu einer Art bedrückenden, bleischweren Weltraummusik, die nichts vom seichten Rocket Man-Gedudel vieler SciFi-Popmusik hat. Bei Oranssi Pazuzu klingt das All nicht nach Sternen, sondern nach der Dunkelheit dazwischen, die sich schwarz und mysteriös über die Hörenden erbricht. Passend dazu fließen dabei auch viele Elemente aus Postpunk und Noiserock in dieses Album ein, die an gewissen Stellen sehr an die letzten Alben von Swans erinnern. Vor allem darin, dass es den Songs gelingt, einen klanglichen Sog zu entwickeln, der sich über Längen von teilweise zwölf Minuten intensiviert und in dem alles langsam verschwimmt. Was davon jetzt eher Metal ist und was Psychrock, ist am Ende ziemlich egal, weil Oranssi Pazuzu hier tatsächlich ein Amalgam schaffen, das irgendwie alles zugleich ist. Und das ist nicht nur im Vergleich zu ihrem früheren Output ein Meilenstein, sondern auch ganz generell. Värähtelijä ist ein Metal-Album das ich so sonst noch nirgends gehört habe und das die Schnapsidee, von der seine Schöpfer zehren, zu einer kreativen Marktlücke macht. Im Gesamtkontext der Metal-Szene vielleicht ein Nischenprodukt, aber ein meisterlich ausgearbeitetes.

Klingt ein bisschen wie:
the Botanist
VI: Flora

Swans
To Be Kind

Persönliche Höhepunkte: Saturaatio | Lahja | Hypnotisoitu Viharukous | Vasemman Käden Hierarkia | Havuluu | Valveavaruus

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Montag, 24. Juni 2019

How to Write an Alt-J Song





















[ schrullig | experimentell | eskapistisch ]

Schaut man sich zum Ende dieser Dekade das große Ganze mal in Ruhe an, dann sind Alt-J für mich persönlich eigentlich eine der enttäuschendsten Bands der letzten zehn Jahre. Dafür, wie großartig sie irgendwann mal angefangen haben, sind sie in der Zeit danach doch ziemlich schnell und direkt zu einer unsäglich nervigen Erscheinung geworden, die alle irgendwie noch akzeptieren, aber die niemand wirklich mag und deren jüngere Platten allesamt Fragezeichen bei mir hinterlassen. Spätestens seit This is All Yours von 2014 gehöre ich mehr oder weniger zum Lager der wenigen Alt-J-Skeptiker*innen auf dieser Welt, habe über Relaxer vor zwei Jahren einen bösartigen Artikel geschrieben (der mir einige hitzige Diskussionen einbrachte) und dieses dämliche Video mit den zwei bekifften Typen und der Loopmachine ist mein konstantes Mood, wenn es um diese Gruppe geht. Wie auch immer, wenn ich von meiner Enttäuschung über ihren neuerlichen Output rede, funktioniert dieser natürlich nicht losgelöst von ihren Anfängen, denn um tief zu fallen muss man bekanntlich erstmal oben sein. Und an dieser Stelle kommt An Awesome Wave ins Spiel, ihr immer noch absolut galaktisches Debütalbum. Ich vergesse manchmal, wie fantastisch diese erste Platte der Briten ist, weil ich immer wieder einzelne Songs davon losgelöst höre, die Leute in irgendwelchen Feel Good-Playlisten seit Äonen totnudeln und die deshalb nicht mehr das gleiche sind. Doch sobald ich irgendwann mal die Muse habe, mir tatsächlich das ganze Ding in voller Länge und im Optimalfall auf Kopfhörer oder Anlage anzuhören, weiß ich wieder, das diese LP hier des Pudels Kern ist. An Awesome Wave ist ein Album, das sowohl den Rummel rechtfertigt, der auch sieben Jahre später immer noch um diese Band gemacht wird als auch den großen Frust, den ich über sie inzwischen empfinde. Denn hier stellt sich eine Gruppe vor, die sich auf Anhieb, mit ihrem ersten richtigen Longplayer überhaupt, anschickt, einer der besten und originellsten Indiepop-Acts ihrer Zeit zu sein und damit zur allgemeinen Verblüffung auch noch abliefert. Diese Platte ist nicht nur durch ihre quirligen und eigenwilligen kompositorischen Ausreißer, Jon Newmans komisches Quetsch-Falsett, die toll umgesetzte Vokalpolyphonie und die verträumten Gitarrenparts besonders, sondern auch durch den Rahmen, der diesen Sachen hier gegeben wird. Die grandiose, raumgreifende Produktion von Mark Bishop und Charlie Andrew schafft es, jede einzelne Note, jeden noch so subtilen Drop und jede stimmliche Nuance von Newman und Kollegen zu filettieren und der interne klangliche Flow des Albums ist wie aus dem Lehrbuch. Das optimal stimmungsgebende Intro, danach Tessellate als pushende Leadsingle, die genial platzierten Interludes überall und das unvergleichliche Taro zum emotionalen Finale, das die dramaturgische Kreislinie vollendet - das alles macht An Awesome Wave aus dem Stand zu einem Meisterwerk, das mehr ist als nur die kreative, freaky Version von Woodkid und the XX. Alt-J bauen mit ihrer Musik ein Therabitia aus Klängen, das großes eskapistisches Potenzial hat, nicht zuletzt weil man nie so richtig versteht, was die eigentlich singen. Dieses Phänomen ist witzig, denn eigentlich ist das hier eine überdurchschnittlich ruhige LP, was sehr untypisch ist für das Debüt einer jungen Indieband mit solchen kompositorischen Möglichkeiten. Aber wenn man sich die Einzeltracks anschaut, ist das Bild schon sehr melancholisch: Kernsongs wie Matilda, Ms oder Tessellate sind Tracks, die bei vielen Bands im letzten Drittel der Platte gelandet werden, Alt-J jedoch setzen sie nicht nur in den Mittelteil beziehungsweise an den Anfang davon, sie machen sie sogar zu Singles. Paradoxerweise ist An Awesome Wave in meiner Erinnerung trotzdem nie subtil und zurückgehalten, sondern immer bunt, experimentell und bombastisch. Vielleicht ja deshalb, weil alles danach so unfassbar öde klang. Man muss aber auch fair mit den Briten sein: Zunächst mal ist es nie leicht, wenn man direkt mit seinem Debüt so dermaßen durch die Decke geht wie sie, zumal ihre Art von Musik 2012 eigentlich so langsam uncool wurde. Von der Pitchfork-NME-Blase der späten Nullerjahre waren Alt-J gemeinsam mit the XX die letzten richtig großen Profiteure, bevor das Kartenhaus zusammenstürzte und alle plötzlich nur noch Hiphop hörten. Die Zeiten danach wurden hart für Indiepop und Bands wie sie hatten alles zu verlieren. Da macht man schon mal dumme Sachen. Vielleicht war der individuelle Style dieser Gruppe aber auch tatsächlich ein Trick, der nur einmal so richtig funktioniert und danach zur eigenen Parodie wird, für die ein halber Joint und eine billige Loopmachine reicht. Oder Alt-J haben eine längere Krise zu überwinden, aus der sie sich mit ihrem nächsten Album hochjubelnd herauskatapultieren. Mutmaßungen sind an diesem Punkt immer noch erlaubt. Für den Moment steht jedenfalls fest, dass An Awesome Wave sowohl für ihre Schöpfer als auch für die Popmusik der letzten zehn Jahre eine definierende Platte geworden ist, die mit zunehmender Zahl mieser Nachfolger nur an Bedeutung gewinnt. Und so wie ich das einschätze, wird sie eine der Sachen sein, die von jetzt an bleiben, und sei es nur fragmentarisch in ein paar ollen Playlisten. Denn wenn es eine Sache gibt, die an eskapistischen Medien besonders toll ist, dann die, dass sie mit dem Alter besser werden.

Persönliche Höhepunkte: Intro | the Ripe & Ruin | Guitar | Something Good | Matilda | Ms | Fitzpleasure | Piano | Bloodflood | Taro

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Sonntag, 23. Juni 2019

Entartete Kunst





















[ postmodern | übertrieben | sakral ]

Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu sagen, dass Hunter Hunt-Hendrix inzwischen so etwas wie der Kanye West des Black Metal ist. So sehr wie er sich in den letzten zehn Jahren in der Szene unbeliebt gemacht hat und ihr Gesicht gleichzeitig auf lange Sicht geprägt hat, findet man für ihn keine passendere Metapher als die des egozentrischen Visionärs, der möglicherweise leicht einen an der Klatsche hat. Seine esoterisch angehauchten Interviews waren innerhalb der Community mehr als einmal die Zielscheibe bösartiger Memes und die pseudo-kulturwissenschaftlichen und philosophischen Manifeste, die er als Surplus seiner Musik regelmäßig veröffentlicht, werden ebenfalls gerne verlacht. Hendrix nimmt sich und seine Kunst extrem wichtig, was ihn von den Metal-Normalverbraucher*innen, die einfach nur Bock auf Geschrei und Blastbeats haben, immer wieder stark entfremdet hat. Ebenso wie bei Yeezy muss man aber auch bei ihm sagen, dass die Dinge, die ihn als öffentlichen Charakter schwierig machen, viel von der Genialität seiner Musik ausmachen. Denn obwohl seine Pamphlete über die Schöpfung des "transzendentalen Black Metal", die er städig postet, erstmal wie gequirlte Kacke klingen, hat er mit zahlreichen Projekten in der letzten Dekade gezeigt, wie so etwas aussehen könnte. Wobei der zentrale Baustein dieses Unterfangens immer Liturgy waren, deren beide Alben sozusagen den praktischen Teil seines großen Manifestes Transcendental Black Metal: A Vision of Apocalyptic Humanism darstellen. Und wo Aesthethica von 2011 zwar die LP war, die in der Szene den ganzen Bohei um Hendrix' Philosophien startete, ist es in meinen Augen der Nachfolger the Ark Work, der besagte Transzendenz wirklich umsetzte. Vor allem deshalb, weil es völlig hoffnungslos ist, sich dieser Platte mit den Maßstäben von Metal zu nähern. Zwar gibt es hier nach wie vor zahlreiche Elemente, die daran erinnern, doch sind diese bei weitem nicht definierend genug. Was hier passiert ist mindestens genauso sehr Chiptune, Hiphop, Shoegaze und barockes Madrigal wie Black Metal und der Sache ein eindeutiges Etikett zu geben, gibt man spätestens nach zwei Songs auf. Und spätestens hier beginnen Liturgy auch wieder zu polarisieren. Ich meine damit aber nicht unter irgendwelchen puristischen Vollhonks, von denen sich die New Yorker eh schon vor Jahren verabschiedet hatten, sondern tatsächlich unter ihren damaligen Fans. Fragt man mich, dann ist the Ark Work die Erfüllung der von Aesthetica gestellten Prophezeihung, nämlich die totale Überfremdung des eigenen Stils. Das Konzept Black Metal so aus den Angeln zu heben und dermaßen clever neu zu synthetisieren, ist für mich die große Leistung dieses Albums, die andere Perspektive ist jedoch ebenso verständlich. Wer die epischen Riff-Kaskaden und rappeligen Burstbeats (Eine Abwandlung des Blastbeats und Erfindung des Liturgy-Drummers Greg Fox) des Vorgängers mochte, könnte hier nämlich durchaus enttäuscht worden sein. Die gigantoesken Mäander ersetzt die Band hier durch glitchende Synth-Passagen, Drumcomputer und sogar Dudelsäcke, während Hunt-Hendrixs Gesang eher etwas stimmbrüchig als finster und dämonisch klingt. Und sich damit anzufreunden, fiel vielen trotz der cleveren Kontextualität leider schwer. Auch ich muss zugeben, dass the Ark Work bisweilen nervig klingt, hier kommt aber wiederum der Maßstab ins Spiel. Denn für mich ist dieser weniger wie beim Metal dabei, die Platte möglichst epochal klingen zu lassen, sondern eher bei den Sachen, die Leute wie James Ferraro oder Teile der Vaporwave-Bewegung zu dieser Zeit machten. Die neue Maßstäbe eher in der Produktion setzten als durch eigentliches Songwriting. Sowas beinhaltet dann zum Beispiel total übertriebene Höhen, der Verzicht auf klangfüllende Bässe und einen im allgemeinen sehr schrillen Sound zur Verschiebung der akustischen Komfortzone (im Prinzip also nichts anderes als Distortion oder Rückkopplung, nur dass unsere Ohren daran inzwischen gewöhnt sind). Was the Ark Work auch in klanglicher Hinsicht zu einem extrem visionären Projekt macht. Der traurige Unterschied ist letztlich nur, dass dieser Sound nie über die kleine Welt der Avantgarde hinausging. 2015 klang diese LP für mich nach Zukunft, nach dem Zusammenbruch von Genre-Konstrukten, nach heiligem Lärm und nach einem völlig neuen Produktionserlebnis. Und ein kleines bisschen glaube ich noch immer daran, dass dieses Album irgendwann mal wiederentdeckt wird, denn es ist als solches eine komplette Anomalie, die ich so sonst noch nie gehört habe. Vielleicht war es seiner Zeit einfach sehr weit voraus und es wird noch der Moment kommen, in dem es seine verdiente Anerkennung bekommt, so wie dieser Tage 808s & Heartbreaks von Kanye West. Höchstwahrscheinlich wird es aber eher ein musikalischer Insider bleiben, der verrückte Geniestreich eines komischen Kauzes, der seine eigenen Manifeste vertont. Was Hunter Hunt-Hendrix im übrigen auch noch immer tut. Seit the Ark Work hat er sich mehr und mehr in die Gefilde des Electronica verzogen, und mittlerweile unter anderem ein Ambient- und ein Trap-Album (!) veröffentlicht. Ob Liturgy noch einmal zurückkehren, ist indes ungewiss, aber das ist es irgendwie immer. Und wenn es das Ende sein sollte, dann kann diese Band sich zumindest nicht vorwerfen, ihren musikalischen Auftrag nicht erfüllt zu haben, nämlich die komplette Ausweidung des Black Metal.

Persönliche Höhepunkte: Fanfare | Follow | Kel Valhaal | Follow II | Quetzalcoatl | Haelegen | Reign Array | Vitriol

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Donnerstag, 20. Juni 2019

Ersguterjuse





















[ autobiografisch | facettenreich | emotional ]

In der vergangenen Dekade gab es im Bereich Deutschrap vielleicht so viele maßgebliche, stilverändernde Entwicklungen wie nie zuvor in dessen kurzer Geschichte. Cloudrap kam an und setzte sich fest, die ersten richtig großen Verkaufs- und Streamingrekorde wurden gebrochen, Bushido bekam den Integrations-Bambi (ugh!) und Kollegah zerlegte zusammen mit Farid Bang den Echo (ugh! ins Quadrat). Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich Deutschrap von einem stigmatisierten Spartengenre, dessen Anhängerschaft es im Mainstream stets schwer hatte, zu ebenjenem Mainstream entwickelt und ist Stand 2019 Thema Nummer eins in der deutschsprachigen Musiklandschaft. Und wo an der Oberfläche die großen Chart-Schlachten ausgefochten werden, wächst auch der Untergrund und die Indie-Szene zu einer selten gesehen Vielfalt, die ihrerseits Respekt verdient. Da gibt es die politisch woken Antifa-Crews wie die Antilopen, Sookee und Zugezogen Maskulin, die riesige Trap-Blase um AsadJohn und Timo Milbredt, komische Käuze wie Käptn Peng und die Tentakel von Delphi und ganz krasse Avantgardist*innen wie die Leute vom Sichtexot-Label. Eine der coolsten Nischen, die sich in dieser Zeit aufgetan haben, ist meiner Meinung nach aber die Rückkehr der süddeutschen Bubble aus Stuttgart und München, die gerade jetzt wieder so stark aufgestellt ist wie nie. Natürlich ist sie unter all den tollen und bunten Phänomenen nicht gerade eine sonderlich progressive, eher klassisch weißer männlicher Gymnasiasten-Kartoffelrap, aber es ist auch nicht so, als wäre ich nicht genau die Zielgruppe für sowas. Und folglich sind es eben diese Künstler wie Fatoni, Edgar Wasser, Dexter und die Mitglieder der Orsons, die bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Gerade in den letzten fünf Jahren übertrafen sich Platten wie Im Modus, Tilt!, Tourette-Syndrom, Tua und Alle Liebe nachträglich gegenseitig und da reden wir noch gar nicht von der gewaltigen Menge an Freetracks, Exclusives und Cypher-Performances, die auf YouTube kursieren. Bereits jetzt kann man hier also auf einen ziemlich beachtlichen Katalog an Musik zurückblicken. Jemand, der bei dieser Reizüberflutung bis vor kurzem gerne Mal unterging, war der Stuttgarter MC Juse Ju. Sein Name war unter Anhängern der anderen Rapper zwar schon lange bekannt und in der Findungsphase der heutigen Bubble gehörte er bereits zum Stammkader, doch war er eigentlich immer nur der Typ, der irgendwo den Feature-Part machte. Er war talentiert, aber nicht auffällig und dass er seinem BuddyDexter optisch sehr ähnlich sah, machte die Sache für ihn nicht gerade besser. Für mich war der Name Juse Ju lange Zeit tatsächlich nur ein Name und es brauchte eine sehr großzügige PR-Geste seiner erfolgreicheren Kollegen, um diesen Zustand zu verändern. Seitdem Fatoni ihn gemeinsam mit Enaka auf dem Single-Doppel Gravitationswellen 2016 und Im Modus ein Jahr später sehr prominent platzierte, war zu diesem Typen ein Gesicht geboren. Das eines weiteren spitzfindig-satirischen Rucksackrappers mit guten Punchlines. Dass er in Wahrheit aber zu den cleversten Künstlern seiner Sparte gehört und noch wesentlich mehr auf dem Kasten hat als wirkungsvolle Wortwitze, wurde erst im letzten letzten Frühjahr so richtig klar, als er sein drittes Mixtape Shibuya Crossing veröffentlichte. Unter all den Alben, die ich oben aufgezählt habe, ist dieses hier im Moment mein persönlicher Favorit, weil es so viele Ideen zusammenbringt und gleichzeitig noch extrem viel über den Menschen Juse Ju erzählt. Als ich kurz nach der Veröffentlichung das erste Mal einen Artikel über diese Platte schrieb, verglich ich seinen Ansatz mit dem von Kendrick Lamar auf Good Kid, m.A.A.d City, weil sie es schafft, intimes Storytelling mit ironischen, pubertären Punchlines und großartigen Bangern zu vereinen und das ganze am Ende trotzdem sehr kohärent zu gestalten. Natürlich hinkt dieser Vergleich, denn ein Konzeptalbum ist Shibuya Crossing eigentlich nicht. Zwar erzählt Juse Ju hier einige autobiographische Versatzstücke, doch sind diese weder zusammenhängend noch das einzige, was auf diesem Album passiert. Immer wieder geht es auch um die eher schlecht als recht laufende Karriere und das selbstverständnis hinter der Musik oder die menschlichen Abgründe, die der Rapper ständig reflektiert. Und obwohl es dabei eben kein durchgehendes Narrativ gibt, zeigt sich insgesamt doch viel Persönlichkeit in diesen Stücken und Geschichten. In Kirchheim Horizont, Bordertown, Pain is Love und dem Titeltrack geht es jeweils um prägende Lebensabschnitte seiner Teenagerzeit, wobei Juse Ju als begnadeter Storyteller überrascht. Andere Songs wiederum kennt man in ihrer Art und Weise schon einigermaßen aus seinem bisherigen Repertoire. Allen voran steht dabei natürlich die Leadsingle 7Eleven, die quasi als Spinoff der Fatoni-und-Enaka-Tracks funktioniert, aber auch Knete teilen oder Propaganda hätten schon vor diesem Album zu Juse Ju gepasst. Eine Facette, die ebenfalls relativ neu ist, sind die sehr düsteren Selbstreflexions-Nummern wie Milka Tender und Lovesongs, wobei gerade letzterer für mich einen Knotenpunkt für den Rapper darstellt. Mit reichlich Ehrlichkeit und auch ein bisschen Selbstzerfleischung stellt er hier seine Beziehungsunfähigkeit zur Disposition, die zwischen den Zeilen auch nur toxische Männlichkeit ist. Prägend ist der Song insofern, als dass er ein neues lyrisches Thema für Juse Ju aufmacht, welches er inzwischen auch auf neuen Tracks wie Männer bearbeitet hat. Oder zumindest hoffe ich, dass Texte von dieser Sorte bei ihm noch ein bisschen kommen (insbesondere weil wenige männliche Musiker, geschweige denn Rapper, über sowas Texte schreiben), denn es zeigt noch eine Facette mehr an diesem ohnehin schon guten Künstler. Unterm Strich ist das die großartige Sache an Shibuya Crossing: Die Platte beackert nicht nur ein großes Spektrum, sie macht auch den Eindruck, dass jedes dieser Themen wirklich wichtig für Juse Ju ist und er emotional darin verwickelt ist. Und im Vergleich zu seinen vorherigen Alben wird er dadurch hier plötzlich ein riesengroßes Stück interessanter. Wenn alles gut läuft, dann ist das hier erst der Anfang einer fantastischen Karriere mit vielen LPs, die vielleicht noch besser sind. Fürs erste sagt es aber schon einiges aus, dass ich nach nicht mal anderthalb Jahren keine Scheu habe, Shibuya Crossing als eine meiner liebsten Platten der letzten Dekade zu bezeichnen. Und ein kleiner Spoiler zum Schluss: So viel Deutschrap wird da ab jetzt nicht mehr kommen.

Persönliche Höhepunkte: Kirchheim Horizont | 7 Eleven | Propaganda | Lovesongs | Bordertown | Pain is Love | Milka Tender | Shibuya Crossing | Cloudrap

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Dienstag, 18. Juni 2019

Geschichten, die das Leben schreibt





















[ dramatisch | emotional | dynamisch ]

Betrachtet man die Dinge aus der Perspektive der Hardcore-Szene, so waren die ersten Jahre dieser Dekade eine der sicherlich kreativsten Perioden der gesamten Genre-Geschichte. Ungefähr zwischen 2010 und 2013 erschienen auf einen Haufen plötzlich eine ganze handvoll fantastischer Platten junger Bands wie Loma Prieta, Defeater, Title Fight und Touché Amoré, die es kurz so aussehen ließen, als würde diese Art von Musik das Gesicht der kommenden Jahre bestimmen. Musik, die wesentlich intelligenter war als die große Masse der Hardcore-Suppe, die großen Wert auf inhaltlich komplexe Narrative legte, klangliche Kreativität einbrachte und ihre Vorbilder im Posthardcore der späten Neunziger und frühen Zwotausender wie At the Drive-In, Refused und Converge fand. Die sonst gerne als Planschbecken toxisch maskuliner Brüllaffen angesehene Szene entwickelte in dieser Zeit einen völlig unverhofften Hang zu Poesie, Emotionalität und stilistischer Finesse, die man so bisher nur von den (damals noch bitter verachteten) Emo-Pionieren kannte. Natürlich erntete diese neue Hypersensibilität direkt sehr viel Spott und Häme sowohl innerhalb und außerhalb der HC-Bubble, doch die Hipster der Welt waren sich schnell einig: Das hier hatte echt Potenzial. Wobei vor allem ein Konglomerat von Bands aus dem Nordosten der USA für besondere Aufmerksamkeit sorgte, die ein gemeinsamer künstlerischer Antrieb zu verbinden schien. Mehr als alle anderen nutzten sie ihre Songs, um Emotionen roh und ungeschönt zu verarbeiten, was meistens bedeutete, dass ziemlich schwermütige, düstere und teilweise krass heftige Musik dabei herauskam. Und wo die Platten von Touché Amoré und Title Fight aus dieser Zeit definitiv keine leichte Unterhaltung sind, gibt es eine LP, die bis heute durch ihre intensive Negativität und Tragik den Status eines Opus Magnum für diesen Szene-Moment einnimmt: La Disputes Wildlife. Warum ausgerechnet dieses Album eine so exponierte Position bezieht, liegt auf der Hand, sobald man einmal richtig hingehört hat. Wie schwer das sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Denn Wildlife ist beim besten Willen keine Musik, die direkt funktioniert. Als ich die Platte im Winter 2011 das erste Mal hörte, fand ich sie zunächst furchtbar. Da war keinerlei Struktur, völlig zusammenhanglose Dynamiken, null kompositorische Anhaltspunkte und dieser Jordan Dreyer-Typ hatte ja mal überhaupt keine Stimme. Um festzustellen, dass sich hier alle musikalischen Entscheidungen nach dem lyrischen Inhalt ausrichteten und die gesamte Ästhetik der LP darauf aufbaut, musste ich zunächst die allgegenwärtige Sprachbarriere überwinden und mir die Mühe machen, Texte auch wirklich aufmerksam zu lesen. Danach wurde Wildlife sehr schnell zu einem meiner Lieblingalben. Begibt man sich in das Gefilde der inhaltlichen Auseinandersetzung, fällt es schwer, sich nicht zu verlieren. Die 14 Songs hier bilden ein loses Konzept, das sich zum einen mit Lebensgeschichten aus La Disputes Heimat Michigan (und den damit verbundenen Komplexen) auseinandersetzt, gleichzeitig aber auch intensiv das seelische Innenleben von Jordan Dreyer beleuchtet, das damit immer wieder konvergiert. Ein Erklärungsversuch: Viele Stücke hier handeln von Menschen, die durch übergreifende regionale Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und kollektivem Stigma schwere Schicksale erleiden, mit denen Dreyer sich teilweise tiefenpsychologisch auseinandersetzt. Aus diesen Einblicken schlägt er die Brücke zur eigenen Psyche, um die es kaum besser bestellt ist. Textlich ähneln diese Ausführungen, die sich immer mit wahren Begebenheiten befassen, mal Tagebucheinträgen, mal Traumbildern, mal Zeitungsartikel und mal Romanen, selten aber klassischen Songstrukturen. Der Gesang, wenn man ihn so nennen will, bewegt sich meist irgendwo zwischen zurückgehaltenen Screamo-Parts, weinerlichem Gesang und gesprochenem Text, ist aber in jedem Moment mit Emotionen aufgeladen und absolut ungestellt. Dreyers Stimme ist die tragende Säule dieser LP, um die sich alles gestaltet: Das Songwriting, die Produktion, die Anordung der Songs. Und diese Entscheidung ist letztendlich die wichtigste dieses Albums, denn nur dadurch sind diese Songs so lebendig. Nur so geht mir ein Track wie St. Paul Missionary Baptist Church Blues, der die Geschichte eines Kirchengebäudes durchleiert, persönlich so nahe. Nur so ist A Letter nicht nur ein weiterer jammeriger Emocore-Song und Safer in the Forest kein auswechselbares Ich-hasse-mein-Scheißkaff-Stück. Zwar sind Jordan Dreyers Lyrics die meiste Zeit über sehr melodramatisch, aber eben auch wahnsinnig erwachsen und zeigen menschliche Tragik so granular und farbenfroh, dass es nicht pubertär wirkt. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich nach wie vor King Park, der neunminütige Knotenpunkt von Wildlife und ein Song, der in der Fanbase von La Dispute inzwischen mindestens den Nimbus eines Stairway to Heaven hat. Darin geht es um den Tod eines Kindes, welches Opfer einer Drive-by-Schießerei auf einer Kreuzung in La Disputes Heimatstadt Grand Rapids wurde, was ja an sich schon heftig genug ist. Jordan Dreyer geht hier jedoch noch viele Schritte weiter und erforscht nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Folgen und Gefühle der Menschen drumherum. Es wird über die Familie des Kindes gesprochen, die die Beerdingung plant, die Zeug*innen am Tatort, die betroffenen Reaktionen der Nachbar*innen und nicht zuletzt auch über die Perspektive des Täters. Im dritten und letzten Teil des Songs wird geschildert, wie der Schütze untertaucht, während nach ihm faahndet wird und die Polizei ihn kurze Zeit später ausfindig macht. Das finale dramatische Aufbäumen des Songs ist eine Szene vor seinem Hotelzimmer, in der er zwischen Verurteilung und Freitod pendelt und Dreyer mit aller verbliebenen Energie die letzten Worte des Täters intoniert. Was La Dispute hier in einem machen, wäre Netflix heutzutage mindestens eine Miniserie wert und über das gesamte Album verteilt gibt es diverse solcher Stories, die der King Park-Story in Sachen Tragik nicht nachstehen. Und natürlich drückt die Band damit auf die Tränendrüse, allerdings wissen sie auch, wie. Die persönliche Haltlosigkeit im Mittelpunkt dieser LP wird übertragen auf eine kollektive menschliche Haltlosigkeit, die das lyrische Ich als nur eine von Millionen Personen versteht, die in einer grausamen, unfairen und komplizierten Welt den Boden verlieren. Was doppelt so krass ist, weil die Geschichten darüber alle wahr sind. La Dispute triggern auf ihrem gerade mal zweiten Longplayer Themen an, die sehr wenige Musiker*innen überhaupt je ansprechen, weil sie sehr schwierig zu kommunizieren sind und diese Tatsache macht Wildlife bis heute so besonders. Es ist nicht nur ein Ausnahmealbum im Kontext einer kurzlebigen Hardcore-Nische, sondern vielleicht auch im Kontext von Popmusik generell. Und in den neun Jahren seit seiner Veröffentlichung hat es nichts von seiner Intensität verloren. La Dispute selbst scheinen das sehr gut zu wissen und versuchen gar nicht erst, ihren Geniesreich zu wiederholen. Und auch was den Rest der damaligen Szene angeht, ging vieles davon den Weg aller coolen Dinge: Es wurde uncool. Heute gibt es Metalcore-Bands, die furchtbar kitschige und pretenziöse Platten nach Wildlife-Schnittmuster aufnehmen, die die Schönheit des Originals mitunter trüben. Tatsache ist aber, dass das Konzept noch immer zieht, wenn es richtig ausgeführt ist. Acts wie Sun Kil Moon oder Mount Eerie haben in den vergangenen Jahren ähnliche Erzählstile etabliert und wenn man ein bisschen um die Ecke denkt, hat sogar das letzte Album von David Bowie gewisse Ähnlichkeit mit diesem hier. Fazit bei Jedem davon: Am Ende sterben immer alle und das Leben geht trotzdem weiter. Ein bisschen gilt das auch für die paar großartigen Hardcore-Jahre.

Persönliche Höhepunkte: A Departure | Harder Harmonies | St. Paul Missionary Baptist Church Blues | A Letter | Safer in the Forest / Love Song for Poor Michigan | the Most Beautiful Bitter Fruit | King Park | Edward Benz, 27 Times | A Broken Jar | All Our Bruised Bodies and the Whole Heart Shrinks | You and I in Unison

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Sonntag, 16. Juni 2019

Nach der Beta gings bergab






















[ ätherisch | philosophisch | entspannt | progressiv ]

Es gab innerhalb der letzten zehn Jahre ein Zeitfenster, in dem ich Milo wahrscheinlich ziemlich konkurrenzlos als meinen Lieblingsrapper bezeichnet hätte. Besser als Kendrick, besser als Kanye, besser als Billy Woods, besser als Little Simz und auf jeden Fall besser als Bobby Tarantino. Größtenteils hatte diese Überzeugung damit zu tun, wie wenig er sich an traditionellen Rap-Maßstäben messen lässt. Unter den vielen tausend MC*s und Produzent*innen, die Hiphop in dieser Dekade stilistisch vorangebracht haben, ist er einer der ganz wenigen, die dabei einen Zustand der Transzendenz erreicht haben. Für Rory Ferreira ist seine Musik nicht Zweck eines künstlerischen Ausrucks um Applaus von irgendeiner Szene zu bekommen, sondern lediglich ein Medium, über welches er Texte befördert, die den entscheindenden Schritt weitergehen. Wo auch im Jahrzehnt des "progressiven Rap" die meisten Akteur*innen die gleichen inhaltlichen Standardpaletten nutzten, die seit den späten Neunzigern etabliert sind, dröselt Milo diese auf und erkennt dahinter die Freiheit zu plaudern. Seine Lyrics enthalten selten konkrete Stories oder deutliche Messages, eher sind die Beobachtungen und Erzählungen, die sich in kürzeren oder weiteren Abständen um einen sehr losen inhaltlichen Kern drehen. Damit ist er zwar bei weitem nicht der Erste, doch ist er in meinen Augen derjenige, der diese Idee bisher am schönsten, weil radikalsten, umgesetzt hat. Und A Toothpaste Suburb ist bis heute das größte Paradebeispiel dieser Art von Hiphop. Warum gerade diese LP in meinen Augen die bisher beste von Ferreira ist, erklärt sich an der Zeit, in der es erschien. Nachdem es aus der Zeit davor bereits unzählige Mixtapes (veröffentlichte, unveröffentlichte, extrem limitierte und wieder gelöschte) von Milo und seinem anderen Projekt Scallops Hotel gab, ist das hier ganz offiziell sein Debütalbum, welches damals bei Hellfyre Club erschien. Diese Verortung ist wichtig, da besagtes Indielabel um diese Zeit herum so etwas wie wie ein Think Tank für experimentelle Rapmusik war. Mit Open Mike Eagle, Busdriver, Nocando und Anderson.Paak versammelten sich hier viele Kolleg*innen und Vorbilder von Milo, was diese Plattenfirma zu einer Art Traumfabrik für ihn machte. Aber wie es meistens ist, wenn solche Träume wahr werden, entspricht das Ergebnis am Ende nicht immer den gesetzten Vorstellungen, weshalb Rory Ferreira nach nur einem Jahr wieder das Label verließ. Sein einziges Album für Hellfyre wird deshalb zum seltsamen Zwischenstand seiner Karriere. Nach seinen Mixtape-Jahren als Bedroom-Rapper und -Produzent erlebt man A Toothpaste Suburb als wesentlich professionelleres Projekt mit hochkarätigen Untergrund-Features, allerdings ist es stilistisch auch noch nicht ganz ausgereift. Retrospektiv kann man sagen, dass Milo erst auf späteren Platten etwas entwickelt, was man künstlerische Identität nennen kann. Was man hier hört, geht zwar auch bereits stark in diese Richtung, doch wird daran noch offensichtlich herumgedoktert. Letztlich ist es aber gerade dieser Schwebezustand, der diese LP für mich so interessant macht: Milos Stil ist hier noch nicht zur Formel verkommen und es gibt spannende musikalische Exkurse. Vor allem erkennt man hier aber den Anspruch, ein ordentliches und vollwertiges Album als Aufhänger für einen vielversprechenden Newcomer zu produzieren, während viele spätere Alben, so schön sie auch sind, eher wieder wie Mixtapes klingen. Hier hört man kurz, wie Milo als Teil der Musikindustrie geklungen hätte und entgegen aller Logik ist es eine Rechnung, die aufgeht.
Musikalisch ist A Toothpaste Suburb noch eher in die Indie-Instrumentals versessen, die zuvor schon die Schwester-EPs Things That Happen at Day und Things That Happen at Night prägte. Ferreira, der den Löwenanteil der Produktion und des Beat-Pickings wie üblich selbst bestreitet (Fun Fact: Einer der wenigen anderen Produzenten auf dieser LP ist der junge Iglooghost), zeigt sich dabei einmal mehr als begnadeter Loopdigger und -schnipsler, der mit Konventionen bricht. Unter allen Platten von Milo ist diese hier ingesamt sicherlich die ätherischste und schneidet klanglich des öfteren die Grenze zum Ambient. Die verpeilten und lethargisch vorgetragenen Rap-Parts passen dazu wie die Faust aufs Auge und haben viel Platz für ihre komplexen und dabei nicht selten verwirrenden Ausführungen. In scheibar unzusammenhängenden Narrativen redet Ferreira über seine aktuellen Lieblingsserien und darüber, was er letzte Woche gegessen hat, erzählt Anekdoten über seinen Kumpel Open Mike Eagle und wie gerne er bei sich in der Bude hockt und liest. Natürlich wäre das ganze nicht Milo, wenn er nicht auch noch alle paar Zeilen einen Verweis auf seine Lieblingsphilosophen droppen würde und dabei mitunter sehr konkret auf deren Werk einginge. Mehr als sonst wirkt er dabei wie ein unglaublicher Nerd, der zwar etwas seltsame Interessen hat und von dem man nicht immer weiß, was er wirklich sagen will, der aber trotzdem unglaublich sympathisch und faszinierend ist, ein bisschen so wie Abed aus Community. Und wenn er will, kann Milo dabei sehr viele Facetten abdecken. Dadurch, dass diese Platte stilistisch so lose ist, kann sie in einem Moment sehr humorvoll sein (in Salladhor Saan, Smuggler erzählt er davon, wie er sich geniert, Open Mike Eagle wegen eines Preamps anzurufen), im nächsten aber ernsthaft emotional und tiefsinnig (Just Us ist eines von vielen Stücken über seinen verstorbenen Bruder). Es geht um die eigene Fehlbarkeit und darum, sich manchmal ziemlich asozial zu fühlen. Darum, wie es ist, als Musiker keine Kohle zu haben und um die kleinen Fantasien, die man in den gedanklichen Zwischenräumen spinnt. Und wo diese Themen die meisten aller Platten von Milo bestimmen, ist A Toothpaste Suburb die mit dem schönsten Rahmen. Nur hier gibt es das grandiose Interlude am Ende von Fragrant Pee Farts, die extrem witzige Strophe von Kool AD in In Gaol und eine der seltsamsten Anderson.Paak-Hooks auf A Day Trip to the Nightosphere. Dinge, die Rory Ferreira später wahrscheinlich überflüssig findet, aber die hier einen großen Teil der Schönheit ausmachen. Bis heute bleibt Milo für mich ein unglaublich interessanter Rapper und einer, der das Zeug dazu hat, Hiphop an sich neu auszudeuten, mein Lieblingsrapper ist er aber nicht inzwischen mehr. Dafür hat er sich zu weit von der klanglichen Idee entfernt, die dieses Debütalbum so großartig machte. Statt einer Karriere als Szene-Juwel hat er sich für das Dasein eines musikalischen Eremiten entschieden, der zu hundert Prozent sein eigener Chef ist. Das ist definitiv ehrenhaft, aber wenn ich ehrlich bin, trauere ich schon ein bisschen dem kurzen Flirt hinterher, den er mit der Musikindustrie hatte.

Persönliche Höhepunkte: Salladhor Saan, Smuggler | Yafet's Song | Peanut Butter Sandwiches | Sanssouci Palace | In Gaol | Fragrant Pee Farts | Ought Implies Can and Cannot | Objectifying Rabbits | Argyle Sox (Hellfyre 5ever) | Just Us (A Reprise for Robert who will Never be Forgotten) | A Day Trip to the Nightosphere

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Dienstag, 11. Juni 2019

Sweet Escape





















[ niedlich | nostalgisch | harmonisch ]

Es gab bessere Zeiten dafür eine Popband zu sein als die vergangenen zehn Jahre. Wenn man sich die wirklich wichtigen Künstler*innen der letzten Dekade ansieht, so sind das meistens solche, die in ihrer Musik Debatten aufwarfen, sozialkritisch waren, mit ihrer Persönlichkeit polarisierten und/oder eine klare Message kommunizierten. Klassischer sinnentleerter Konsens-Pop hatte es derweil selbst selbst im sonst so heißluftigen Chart-Mainstream schwer, wenn man von der großen Cloudrap-Blase mal absieht. Natürlich ist das vordergründig erstmal eine sehr tolle Sache und spricht dafür, dass usergenerierte Aufmerksamkeitsökonomie nichts prinzipiell schlechtes ist. Trotzdem ist es in meinen Augen genauso wichtig, Popmusik auch als Rückzugsraum wahrzunehmen, der Abstand von wichtigen Problemen schafft und der unbedingt die Erlaubnis hat, sich mit Kleinlichkeiten zu beschäftigen und so zu tun, als wäre alles supergeil. Ganz besonders dann, wenn drumherum scheinbar die ganze Welt brennt. Und weil das gerade in den letzten Jahren immer wieder die unschöne Realität war, sind Bands wie Alvvays so wichtig. Als ich Antisocialites auf meinem alten Format 2017 zu meinem Lieblingsalbum der Saison erklärte, fühlte sich das erstmal irgendwie falsch an. Es war das Jahr zwei nach Donald Trump, das Jahr von G20, von #metoo, der AfD im Bundestag, der Zerstörung von Aleppo und scheußlichen Terroranschlägen auf dem ganzen Globus. Das Jahr, in dem wichtige, inhaltlich schwere Platten wie Flower Boy von Tyler, the Creator, Ctrl von SZA, Damn. von Kendrick Lamar und 4:44 von Jay-Z erschienen. Ein schnuckliges Indiepop-Nümmerchen wie das von Alvvays erschien dagegen ziemlich blauäugig, ja fast unverschämt. Molly Rankin singt von teenagerhaften Schwärmereien im Sonnenuntergang, während Shawn Carter sozioökonomische Konsequenzen der Sklavereigesellschaft aufdeckt. Wo hier seichte Surf-Harmonien nostalgisch Sixties-Pop reanimieren, spricht Cardi B mit ihrer Musik die Sprache einer Generation. Ein besonders wokes Album ist Antisocialites definitiv nicht. Trotzdem ist es für mich persönlich gerade deshalb ein Zeitdokument. Weil es eine Zuflucht bietet vor all den bösen Sachen, die inzwischen sehr alltäglich sind und ich es manchmal brauche, um kurz abzuschalten. Diese LP zu hören ist wie Bridget Jones gucken nach einem Beziehungsstreit oder Rauchen nach dem Krankenhausbesuch: Eigentlich total widersinnig, aber es hilft für den Moment. Und wie. Die gesamte Aufmachung von Antisocialites ist ein perfekter musikalischer Safe Space, der sich wärmend um die Hörenden legt und ihnen gut zuspricht. Melancholisch genug, um die eigene schlechte Laune abzufangen und euphorisch genug, um positive Vibes einzugeben erzeugt diese LP ein starkes Moment von Sehnsucht, aber eines von der schönen Sorte. Unterstützt wird diese Wirkung noch dadurch, wie unkompliziert diese LP klingt. Kein Instrumentalpart ist hier clever verschachtelt, keine Songstruktur krampfhaft interessant, keine Textzeile zu konkret. Über allem liegt genau die richtige Menge klanglicher Weichzeichner und das Songwriting ist gerade charakteristisch genug, um für fiese Ohrwürmer zu sorgen, nicht aber um sich stundenlang damit befassen zu müssen. Es wird Menschen geben, die das langweilig finden, aber in meinen Augen ist diese Art von Songs nahezu die Perfektionierung von Popmusik: Musik, die im Gedächnis bleibt, ohne zu viel Denkerei zu erfordern und die große Gefühle erzeugt, ohne viel sagen zu müssen. Und klar kann es in dieser Welt nicht nur das geben. Es braucht auch diejenigen, die die Missstände ansprechen und musikalische Formeln weiter entwickeln. Aber es sind eben nicht nur die, die damit wichtige Arbeit leisten und es schaffen, Menschen zu berühren. Manchmal sind die ach so sinnentleerten und doofen Pop-Kasper darin sogar viel besser, weil sie es erlauben, zu verdrängen. Der letzte Song auf Antisocialites trägt den Namen Forget About Life und handelt davon, wie widrige Umstände oft das eigene Handeln bestimmen. Der Track ist ein melancholisches Plädoyer für die Ignoranz und findet das Glück im persönlichen Rückzug aus dem Schlachtfeld des Alltags. Eine Lebensweisheit lässt sich daraus sicher nicht machen, aber man fühlt schon, was Molly Rankin damit sagen will. Und letztendlich funktioniert er als perfekte Metapher für dieses komplette Album: Ändern wird sich dadurch ganz bestimmt nichts, aber es ist schön, dass es sowas gibt.

Persönliche Höhepunkte: In Undertow | Dreams Tonite | Plimsoll Punks | Not Your Baby | Lollipop (Ode to Jim) | Saved By A Waif

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Sonntag, 9. Juni 2019

Thanks for Your Support!



[ proggig | instrumental | ätherisch | gewaltig ]

Einer der vielen Vorteile, die der Einbruch der traditionellen Musikindustrie in den letzten zehn Jahren mit sich brachte ist sicherlich der, dass es mittlerweile wesentlich einfacher ist, einen Draht zwischen Schaffenden und Fans aufrecht zu erhalten. Nicht nur sind soziale Netzwerke ein tolles Kommunikations- und PR-Medium, welches man für ebendiese Zwecke auch herrlich ad absurdum führen kann, es kann auch direkt dazu dienen, sich die für ein Projekt notwendige Unterstützung bei den Verbrauchenden selbst zu holen. Was gerade für kleinere Bands und Künstler*innen bedeutete, sich eventuell auch mal das große produktionstechnische Besteck leisten zu können. Galleonsfigur dieser Entwicklung ist seit etlichen Jahren Amanda Palmer, die von den 1,2 Millionen Dollar, die sie 2012 von ihren Fans für the Grand Theft Orchestra bekam, wahrscheinlich noch immer gut ihre Brötchen kauft. Die Phänotypen Fan-finanzierter Musik sind aber seitdem ebenso vielfältig geworden wie die Künstler*innen, die sie in Anspruch nehmen und so gibt es auch abseits der großen Erfolgsgeschichten ein paar tolle Alben, die ohne die Hilfe der Hörer*innenschaft sicherlich nicht möglich gewesen wären. Womit wir bei Sioum wären. Die instrumentale Progrock-Band aus Chicago ist nun wirklich alles andere als eine große Nummer: Ihre offizielle Seite dümpelt auf Facebook momentan bei etwas über 2500 Likes herum, ihr letztes Karriere-Highlight war eine Support-Show für Zeal & Ardor vor einigen Wochen und ihre magere Diskografie zählt bis jetzt gerade mal zwei richtige Alben. Gegründet wurde das Trio um die beiden Zdrinc-Brüder Dorian und Arthur 2008 und führt seitdem die Existenz eines klassischen Bandcamp-Acts. Wo das für die meisten Bands aber bedeuten würde, dass ihre Musik wohl wenig mehr als ein Hobby bleibt, haben Sioum seit jeher sehr bewusst an diejenigen vermarktet, die sich auch wirklich dafür interessieren. Soll heißen: Indem die Drei für einen relativ kleinen Markt produzieren, können sie in die Einzelheiten der Platte viel mehr Arbeit stecken und Fans, die diese Arbeit durch Spenden mitfinanzieren, können sie am Ende nicht nur eine neue LP präsentieren, sondern ein multimediales Gesamterlebnis. Schon das preiswerteste Download-Paket von I Am Mortal But Was Fiend umfasst so schöne kleine Extras wie ein digitales Booklet, inhaltliche Ausführungen zum Konzept der LP und individuelle Artworks zu jedem Song. Das ist so wunderbar detailverliebt, dass man gar nicht spekulieren will, was Sioum sich für ein Vinyl-Release (das es leider bis heute nicht gibt) wohl überlegt hätten. Man erlebt hier Musikschaffende, die ihr Publikum nicht als zahlendes und Säle füllendes Nutzvieh vestehen wie viele Labels, sondern solche, die es durch liebevolle Produkte an sich binden. Und das merkt man hier letztlich nicht nur an der Aufmachung, sondern auch an der Musik selbst. Strukturell gesehen unterscheidet sich I Am Mortal But Was Fiend eigentlich nicht groß vom Output der meisten Instrumentalrock-Acts aus der Bandcamp-Blase, Sioum spielen eine Mischung aus Post- und Progrock, die sich irgendwo zwischen den Russian Circles, Pelican und Between the Buried and Me einpendelt. Bisweilen sind auch dezente Einflüsse aus den Gefilden des Chiptune mit dabei (einige der Mitglieder schreiben nebenbei noch Soundtracks für Indiespiele), aber sonst ist das hier prinzipiell keine große Sache. Besonders wird es erst, wenn man hört, wie diese Klänge hier aufbereitet werden. Und dabei spreche ich jetzt vor allem mit den Nerds unter euch: Dieses Album ist eine technische Wundertüte. Wer auf Dinge wie Polyrhythmien, wahnwitzige Solo-Parts und exotische Tonleitern steht, sollte hier definitiv ein paar Schönheiten finden. Und obwohl ich meine Wenigkeit absolut nicht zu dieser Gattung Musikfan zähle, bin auch ich von einigen technischen Spielereien dieser LP tief beeindruckt. Tatsächlich ist das schöne hier aber, dass die große Gniedelei zwar da ist, jedoch nicht zu viel Raum einnimmt. Sioum sind (zumindest hier noch) keiner dieser Acts wie Animals As Leaders oder Periphery, bei denen die Songs quasi nur das notwendige Beiwerk für endloses Prog-Genudel sind, sondern im Zentrum des Geschehens stehen. Auf I Am Mortal hat man größtenteils eher den Eindruck, eine sehr technisch ausgefuchste und nerdige Postrock-Platte zu hören. Was, wenn man es so sieht, wiederum den Vorteil hat, dass hier eben nur selten auf die bewährten Crescendo-Formeln zurückgegriffen wird, sondern einzelne Motive viel cleverer verschachtelt sind. Wie und ob überhaupt das ganze letztlich einzuornden ist, ist mir mittlerweile eigentlich ziemlich egal. Das Resultat ist jedoch ein Album, das aus diesem Zustand sehr viel Kreativität bezieht. Motive wie das thrillerhafte Field Recording in Pillars, der rapide Tempoanzug von Arthur Zdrinc am Schlagzeug (auch in Pillars) oder das dampfhämmernde Postmetal-Riffing in Shift hört man doch eher selten auf solchen Platten und ich finde sie zumeist nicht weniger als genial. Hinzu kommt noch, dass I Am Mortal mit einem extrem filigranen Sound daherkommt, der schon dann beeindrucken würde, wenn das hier nicht das Debütalbum einer Gurkentruppe ohne Label-Backing wäre. Das zeigt jedoch ein weiteres Mal, dass diese Band bereit ist, für einen akkuraten Fanservice auch mal mehr zu leisten als das Mindestnotwendige. Weshalb dieses Album auch über zehn Jahre ein absolut faszinierendes Stück Musik geblieben ist und in der vegetierenden Post/Prog-Welt eine der Platten, die überlebt. Weil sie sich aus Leidenschaft nährt und von einer sehr kleinen, aber hingebungsvollen Community durchgebracht wird. Weil sie ihren Job sorgfältig macht. Das sind die kleinen Märchen, die die Bandcamp-Ära schreibt. Wobei ich der Fairness halber auch sagen muss, dass ich Sioums zweite LP Yet Further von 2016 für ziemlichen Kram halte, deren sechs Jahre in der Crowdfunding-Produktions-Pipeline leider komplett verschwendet waren und über deren Enttäuschung mich auch ein Doppelvinyl mit Gatefold, Artbook und 8Bit-Bonus-EP nicht trösten konnten. Manchmal scheitert es eben auch einfach an der Musik selbst.

Persönliche Höhepunkte: Upon Awakening | Pillars | Shift | Chambers | Fields (Ocean of Silence) | Collapse

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Samstag, 8. Juni 2019

Piano Man






















[ dramatisch | poetisch | romantisch ]

Mir fallen tatsächlich sehr wenige Künstler*innen ein, die es in der Geschichte der Popmusik geschafft haben, so etwas wie Standardwerke für die Perfektionierung eines bestimmten Instruments zu erschaffen. Die Quasi die Maestro*sas ihres spezifischen Handwerks sind und deren Repertoire man auf ewig mit ausschließlich diesem einen Gerät verbindet. Der große Name zur elektrischen Gitarre wird sicherlich auch für die nächsten 50 Jahre Jimi Hendrix lauten, niemand spielte die Trompete wie Miles Davis es tat, J Dilla war ein Virtuose am MPC3000 und jemand wie Joanna Newsom hat ein eher exotisches Instrument wie die Harfe zum Aufhänger ihrer kompletten Karriere gemacht. Für andere Bereiche wiederum gibt es diese klaren Allgemeinplätze nicht. Zum Beispiel beim Klavier, einem Instrument mit mindestens so viel Pop-Tradition wie der klassischen Fender. Klar fallen einem Namen ein wie Stevie Wonder, Ray Charles, Ben Folds oder meinetwegen auch Billy Joel, aber die eine große Koriphäe, auf die sich alle einigen können, gibt es nicht. Dabei ist der Grund, warum ich mir diese Frage seit einer Weile überhaupt stelle in ihrer eigenen Lösung bedingt: Denn das (in meinen Augen) ultimative Pianopop-Album existiert bereits, fernab aller üblichen Definitionsbereiche. Es wurde 2013 von Moonface veröffentlicht und hört auf den Namen Julia With Blue Jeans On. Besagte Platte ist die zweite Solo-LP des Kanadiers Spencer Krug, dem ehemaligen (und neuen) Frontmann von Wolf Parade, der zwischen 2011 und 2018 unter diesem Pseudonym arbeitete und, je nachdem wie man zählt, drei bis fünf Alben veröffentlichte. Wenn man sich darunter nun lediglich jene ansieht, die er dabei ohne die Hilfe seiner Backingband Siinai veröffentlichte, wird klar, dass er in dieser Zeit ein sehr analytischer Künstler war. Für jeden seiner Longplayer beschränkte sich Moonface auf ein festes Setting von Instrumenten, mithilfe derer er den kompletten Songwriting- und Aufnahmeprozess bestritt. Seine erste EP trug den Titel Marimba and Shit Drums, sein LP-Debüt Organ Music Not Vibraphone Like I'd Hoped. Pretty obvious bis hierhin. Doch wo diese Platten doch noch sehr den Habitus nerdiger Klangexperimente mit sich trugen, hauchte Krug dieser Idee zwei Jahre später mit Julia auch künstlerisches Leben ein. Denn diesmal war ihm ein Albumkonzept nicht genug. Neben der musikalischen Zielsetzung, die kompletten 48 Minuten nur mit Klavier und Stimme zu füllen, kommt hier ein umfangreiches inhaltliches Konzept, das fast noch ambitionierter war. In 10 Songs erzählt der Songwriter hier die Geschichte des Endes von Wolf Parade und wie er sein erfolgreiches Musikerdasein in Kanada aufgibt, um zu seiner großen Liebe (Julia) nach Finnland zu ziehen. Eine unsterbliche Lovestory, die mich wahrscheinlich schon ergriffen hätte, hätte man sie mir am Telefon erzählt. Im Zusammenspiel mit der Musik wird das ganze hier jedoch ein dramatisches Meisterwerk, ein groteskes Musical von bizarrer Romantik, in dem Spencer Krug alle Rollen selbst besetzt. Und das nur mit einem einzigen Klavier.
Das wunderbare an der Konvergenz der beiden Konzepte hier ist, wie sehr sie sich gegenseitig abfangen: Eine Platte mit nur einem Instrument kann schnell langweilig werden, deshalb gibt uns Moonface eine packende Story und wirft sich gesanglich in gewaltige Posen. Weil diese aber droht, pathetisch zu werden, kleidet er sie mit einem einzigen Begleitmedium aus, das gleichsam edel und mächtig klingen kann. Er nimmt keinen Platz mit waghalsigen Arrangements weg, weiß sich aber im gewonnenen Raum auszubreiten. Er nimmt den Fokus nicht von den zentralen, poetischen Texten, gibt ihnen aber auch die richtige Plattform, um mehr zu sein als nur gesungenes Wort. In diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig ist, wie exzellent diese Platte klingt. Klar, viele Spuren gab es hier sicher nicht zu schieben und die Postproduktion dürfte so dankbar gewesen sein wie die weniger Pop-Alben, dafür wurden bei diesen Aufnahmen hörbar Dinge wie Raumklang und dem "inneren Sound" des Instruments berücksichtigt. Nur so hört man hier im Endergebnis die vielen Nuancen, die sich beim Spielen herausbilden und das Hörerlebnis um ein weiteres Steigern. Spencer Krug jongliert mit den Extremen des Materials, setzt enorme Dramatik in einzelne Töne und händelt eine Dynamik, die beachtlich ist. Was bemerkenswert ist, denn technisch virtuos spielt er hier eigentlich nie. In keinem Moment dieser LP erlebt man schnelle Wechselgriffe, solistische Höhenflüge oder große tonale Sperenzchen. Was Krug hier spielt, sind Popsongs mit recht simplen Melodien, die bisweilen vielleicht sogar ein bisschen hölzern wirken. Am Ende macht gerade das sie aber so unglaublich stark. November 2011, vielleicht mein Lieblingsstück hier, ist technisch gesehen fast mit einem der berühmt-berüchtigten "Four-Chord-Songs" zu verwechseln, schafft aber gerade mit dieser klaren Struktur auch den größten Pop-Moment der Platte. Tragik entsteht immer dann, wenn Krug schwere Akkordgriffe herabfallen lässt wie in Black is Back in Style und Finesse, wenn er in den höheren Registern soliert, wie in Barbarian. Die wirklichen Aha-Momente entstehen aber immer dann, wenn dynamische Extreme kollidieren und im besten Fall noch den lyrischen Inhalt rahmen. Ganz besonders brilliant wird diese Übung im Titelsong der LP ausgeführt, in dem Moment, wo nach 20 Minuten Album das erste Mal Julias Name fällt. Wer diese zwei Zeilen übersteht, ohne Gänsehaut zu kriegen, ist in meinen Augen diese ganze Platte nicht wert. Von allem großen romantischen Gesten ist diese mit Abstand die übermenschlichste und eine, die fast ein bisschen too much ist. Und sicher: Julia With Blue Jeans On kann bisweilen ein sehr melodramatisches Stück Musik sein. Die Liebeserklärungen von Spencer Krug sind die eines Teenagers, der ein paarmal zu oft Shakespeare gelesen hat und finden in Dimensionen statt, in denen es um Göttlichkeit, Todessehnsucht, Himmel und Hölle geht. Gefühllose Menschen würden dafür womöglich den Begriff "Kitsch" heranziehen. Und es ist schwierig, dieses Argument von der Hand zu weisen. Außer eben damit, dass diese LP verdammt nochmal das so ziemlich romantischste ist, was ich in den letzten zehn Jahren gehört habe und diese Leute einfach mal keine Ahnung haben. Julia With Blue Jeans On ist eine wahre Liebesgeschichte, erzählt auf einem Album voller Lovesongs, gespielt von einem Typen, der eine Dreiviertelstunde ein Klavier maltretiert. Come on! Gegen so viel relationship goals stinken sogar Sonny und Cher ziemlich ab. Noch dazu ist es eine musikalische Meisterleistung mit einem Sound zum niederknien und ein makelloses kompositorisches Gesamtkunstwerk. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass ich inzwischen zuerst an diese Platte denke, wenn es um klavierbasiertes Pop-Songwriting geht. Und das, obwohl sie gerade Mal sechs Jahre auf dem Buckel hat und Moonface keinen Leumund als großer Pianist genießt. Der Punkt ist, dass diese LP nicht nur das Instrument von der besten Seite präsentiert, sondern es auch inhaltlich wirksam einsetzt. Und das hat eben noch niemand so wie Spencer Krug gemacht. Change my mind.

Persönliche Höhepunkte: Barbarian | November 2011 | Dreamy Summer | Julia With Blue Jeans On | Love the House You're In | Black is Back in Style | Your Chariot Awaits