Sonntag, 16. Juni 2019

Nach der Beta gings bergab






















[ ätherisch | philosophisch | entspannt | progressiv ]

Es gab innerhalb der letzten zehn Jahre ein Zeitfenster, in dem ich Milo wahrscheinlich ziemlich konkurrenzlos als meinen Lieblingsrapper bezeichnet hätte. Besser als Kendrick, besser als Kanye, besser als Billy Woods, besser als Little Simz und auf jeden Fall besser als Bobby Tarantino. Größtenteils hatte diese Überzeugung damit zu tun, wie wenig er sich an traditionellen Rap-Maßstäben messen lässt. Unter den vielen tausend MC*s und Produzent*innen, die Hiphop in dieser Dekade stilistisch vorangebracht haben, ist er einer der ganz wenigen, die dabei einen Zustand der Transzendenz erreicht haben. Für Rory Ferreira ist seine Musik nicht Zweck eines künstlerischen Ausrucks um Applaus von irgendeiner Szene zu bekommen, sondern lediglich ein Medium, über welches er Texte befördert, die den entscheindenden Schritt weitergehen. Wo auch im Jahrzehnt des "progressiven Rap" die meisten Akteur*innen die gleichen inhaltlichen Standardpaletten nutzten, die seit den späten Neunzigern etabliert sind, dröselt Milo diese auf und erkennt dahinter die Freiheit zu plaudern. Seine Lyrics enthalten selten konkrete Stories oder deutliche Messages, eher sind die Beobachtungen und Erzählungen, die sich in kürzeren oder weiteren Abständen um einen sehr losen inhaltlichen Kern drehen. Damit ist er zwar bei weitem nicht der Erste, doch ist er in meinen Augen derjenige, der diese Idee bisher am schönsten, weil radikalsten, umgesetzt hat. Und A Toothpaste Suburb ist bis heute das größte Paradebeispiel dieser Art von Hiphop. Warum gerade diese LP in meinen Augen die bisher beste von Ferreira ist, erklärt sich an der Zeit, in der es erschien. Nachdem es aus der Zeit davor bereits unzählige Mixtapes (veröffentlichte, unveröffentlichte, extrem limitierte und wieder gelöschte) von Milo und seinem anderen Projekt Scallops Hotel gab, ist das hier ganz offiziell sein Debütalbum, welches damals bei Hellfyre Club erschien. Diese Verortung ist wichtig, da besagtes Indielabel um diese Zeit herum so etwas wie wie ein Think Tank für experimentelle Rapmusik war. Mit Open Mike Eagle, Busdriver, Nocando und Anderson.Paak versammelten sich hier viele Kolleg*innen und Vorbilder von Milo, was diese Plattenfirma zu einer Art Traumfabrik für ihn machte. Aber wie es meistens ist, wenn solche Träume wahr werden, entspricht das Ergebnis am Ende nicht immer den gesetzten Vorstellungen, weshalb Rory Ferreira nach nur einem Jahr wieder das Label verließ. Sein einziges Album für Hellfyre wird deshalb zum seltsamen Zwischenstand seiner Karriere. Nach seinen Mixtape-Jahren als Bedroom-Rapper und -Produzent erlebt man A Toothpaste Suburb als wesentlich professionelleres Projekt mit hochkarätigen Untergrund-Features, allerdings ist es stilistisch auch noch nicht ganz ausgereift. Retrospektiv kann man sagen, dass Milo erst auf späteren Platten etwas entwickelt, was man künstlerische Identität nennen kann. Was man hier hört, geht zwar auch bereits stark in diese Richtung, doch wird daran noch offensichtlich herumgedoktert. Letztlich ist es aber gerade dieser Schwebezustand, der diese LP für mich so interessant macht: Milos Stil ist hier noch nicht zur Formel verkommen und es gibt spannende musikalische Exkurse. Vor allem erkennt man hier aber den Anspruch, ein ordentliches und vollwertiges Album als Aufhänger für einen vielversprechenden Newcomer zu produzieren, während viele spätere Alben, so schön sie auch sind, eher wieder wie Mixtapes klingen. Hier hört man kurz, wie Milo als Teil der Musikindustrie geklungen hätte und entgegen aller Logik ist es eine Rechnung, die aufgeht.
Musikalisch ist A Toothpaste Suburb noch eher in die Indie-Instrumentals versessen, die zuvor schon die Schwester-EPs Things That Happen at Day und Things That Happen at Night prägte. Ferreira, der den Löwenanteil der Produktion und des Beat-Pickings wie üblich selbst bestreitet (Fun Fact: Einer der wenigen anderen Produzenten auf dieser LP ist der junge Iglooghost), zeigt sich dabei einmal mehr als begnadeter Loopdigger und -schnipsler, der mit Konventionen bricht. Unter allen Platten von Milo ist diese hier ingesamt sicherlich die ätherischste und schneidet klanglich des öfteren die Grenze zum Ambient. Die verpeilten und lethargisch vorgetragenen Rap-Parts passen dazu wie die Faust aufs Auge und haben viel Platz für ihre komplexen und dabei nicht selten verwirrenden Ausführungen. In scheibar unzusammenhängenden Narrativen redet Ferreira über seine aktuellen Lieblingsserien und darüber, was er letzte Woche gegessen hat, erzählt Anekdoten über seinen Kumpel Open Mike Eagle und wie gerne er bei sich in der Bude hockt und liest. Natürlich wäre das ganze nicht Milo, wenn er nicht auch noch alle paar Zeilen einen Verweis auf seine Lieblingsphilosophen droppen würde und dabei mitunter sehr konkret auf deren Werk einginge. Mehr als sonst wirkt er dabei wie ein unglaublicher Nerd, der zwar etwas seltsame Interessen hat und von dem man nicht immer weiß, was er wirklich sagen will, der aber trotzdem unglaublich sympathisch und faszinierend ist, ein bisschen so wie Abed aus Community. Und wenn er will, kann Milo dabei sehr viele Facetten abdecken. Dadurch, dass diese Platte stilistisch so lose ist, kann sie in einem Moment sehr humorvoll sein (in Salladhor Saan, Smuggler erzählt er davon, wie er sich geniert, Open Mike Eagle wegen eines Preamps anzurufen), im nächsten aber ernsthaft emotional und tiefsinnig (Just Us ist eines von vielen Stücken über seinen verstorbenen Bruder). Es geht um die eigene Fehlbarkeit und darum, sich manchmal ziemlich asozial zu fühlen. Darum, wie es ist, als Musiker keine Kohle zu haben und um die kleinen Fantasien, die man in den gedanklichen Zwischenräumen spinnt. Und wo diese Themen die meisten aller Platten von Milo bestimmen, ist A Toothpaste Suburb die mit dem schönsten Rahmen. Nur hier gibt es das grandiose Interlude am Ende von Fragrant Pee Farts, die extrem witzige Strophe von Kool AD in In Gaol und eine der seltsamsten Anderson.Paak-Hooks auf A Day Trip to the Nightosphere. Dinge, die Rory Ferreira später wahrscheinlich überflüssig findet, aber die hier einen großen Teil der Schönheit ausmachen. Bis heute bleibt Milo für mich ein unglaublich interessanter Rapper und einer, der das Zeug dazu hat, Hiphop an sich neu auszudeuten, mein Lieblingsrapper ist er aber nicht inzwischen mehr. Dafür hat er sich zu weit von der klanglichen Idee entfernt, die dieses Debütalbum so großartig machte. Statt einer Karriere als Szene-Juwel hat er sich für das Dasein eines musikalischen Eremiten entschieden, der zu hundert Prozent sein eigener Chef ist. Das ist definitiv ehrenhaft, aber wenn ich ehrlich bin, trauere ich schon ein bisschen dem kurzen Flirt hinterher, den er mit der Musikindustrie hatte.

Persönliche Höhepunkte: Salladhor Saan, Smuggler | Yafet's Song | Peanut Butter Sandwiches | Sanssouci Palace | In Gaol | Fragrant Pee Farts | Ought Implies Can and Cannot | Objectifying Rabbits | Argyle Sox (Hellfyre 5ever) | Just Us (A Reprise for Robert who will Never be Forgotten) | A Day Trip to the Nightosphere

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