Dienstag, 18. Juni 2019

Geschichten, die das Leben schreibt





















[ dramatisch | emotional | dynamisch ]

Betrachtet man die Dinge aus der Perspektive der Hardcore-Szene, so waren die ersten Jahre dieser Dekade eine der sicherlich kreativsten Perioden der gesamten Genre-Geschichte. Ungefähr zwischen 2010 und 2013 erschienen auf einen Haufen plötzlich eine ganze handvoll fantastischer Platten junger Bands wie Loma Prieta, Defeater, Title Fight und Touché Amoré, die es kurz so aussehen ließen, als würde diese Art von Musik das Gesicht der kommenden Jahre bestimmen. Musik, die wesentlich intelligenter war als die große Masse der Hardcore-Suppe, die großen Wert auf inhaltlich komplexe Narrative legte, klangliche Kreativität einbrachte und ihre Vorbilder im Posthardcore der späten Neunziger und frühen Zwotausender wie At the Drive-In, Refused und Converge fand. Die sonst gerne als Planschbecken toxisch maskuliner Brüllaffen angesehene Szene entwickelte in dieser Zeit einen völlig unverhofften Hang zu Poesie, Emotionalität und stilistischer Finesse, die man so bisher nur von den (damals noch bitter verachteten) Emo-Pionieren kannte. Natürlich erntete diese neue Hypersensibilität direkt sehr viel Spott und Häme sowohl innerhalb und außerhalb der HC-Bubble, doch die Hipster der Welt waren sich schnell einig: Das hier hatte echt Potenzial. Wobei vor allem ein Konglomerat von Bands aus dem Nordosten der USA für besondere Aufmerksamkeit sorgte, die ein gemeinsamer künstlerischer Antrieb zu verbinden schien. Mehr als alle anderen nutzten sie ihre Songs, um Emotionen roh und ungeschönt zu verarbeiten, was meistens bedeutete, dass ziemlich schwermütige, düstere und teilweise krass heftige Musik dabei herauskam. Und wo die Platten von Touché Amoré und Title Fight aus dieser Zeit definitiv keine leichte Unterhaltung sind, gibt es eine LP, die bis heute durch ihre intensive Negativität und Tragik den Status eines Opus Magnum für diesen Szene-Moment einnimmt: La Disputes Wildlife. Warum ausgerechnet dieses Album eine so exponierte Position bezieht, liegt auf der Hand, sobald man einmal richtig hingehört hat. Wie schwer das sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Denn Wildlife ist beim besten Willen keine Musik, die direkt funktioniert. Als ich die Platte im Winter 2011 das erste Mal hörte, fand ich sie zunächst furchtbar. Da war keinerlei Struktur, völlig zusammenhanglose Dynamiken, null kompositorische Anhaltspunkte und dieser Jordan Dreyer-Typ hatte ja mal überhaupt keine Stimme. Um festzustellen, dass sich hier alle musikalischen Entscheidungen nach dem lyrischen Inhalt ausrichteten und die gesamte Ästhetik der LP darauf aufbaut, musste ich zunächst die allgegenwärtige Sprachbarriere überwinden und mir die Mühe machen, Texte auch wirklich aufmerksam zu lesen. Danach wurde Wildlife sehr schnell zu einem meiner Lieblingalben. Begibt man sich in das Gefilde der inhaltlichen Auseinandersetzung, fällt es schwer, sich nicht zu verlieren. Die 14 Songs hier bilden ein loses Konzept, das sich zum einen mit Lebensgeschichten aus La Disputes Heimat Michigan (und den damit verbundenen Komplexen) auseinandersetzt, gleichzeitig aber auch intensiv das seelische Innenleben von Jordan Dreyer beleuchtet, das damit immer wieder konvergiert. Ein Erklärungsversuch: Viele Stücke hier handeln von Menschen, die durch übergreifende regionale Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und kollektivem Stigma schwere Schicksale erleiden, mit denen Dreyer sich teilweise tiefenpsychologisch auseinandersetzt. Aus diesen Einblicken schlägt er die Brücke zur eigenen Psyche, um die es kaum besser bestellt ist. Textlich ähneln diese Ausführungen, die sich immer mit wahren Begebenheiten befassen, mal Tagebucheinträgen, mal Traumbildern, mal Zeitungsartikel und mal Romanen, selten aber klassischen Songstrukturen. Der Gesang, wenn man ihn so nennen will, bewegt sich meist irgendwo zwischen zurückgehaltenen Screamo-Parts, weinerlichem Gesang und gesprochenem Text, ist aber in jedem Moment mit Emotionen aufgeladen und absolut ungestellt. Dreyers Stimme ist die tragende Säule dieser LP, um die sich alles gestaltet: Das Songwriting, die Produktion, die Anordung der Songs. Und diese Entscheidung ist letztendlich die wichtigste dieses Albums, denn nur dadurch sind diese Songs so lebendig. Nur so geht mir ein Track wie St. Paul Missionary Baptist Church Blues, der die Geschichte eines Kirchengebäudes durchleiert, persönlich so nahe. Nur so ist A Letter nicht nur ein weiterer jammeriger Emocore-Song und Safer in the Forest kein auswechselbares Ich-hasse-mein-Scheißkaff-Stück. Zwar sind Jordan Dreyers Lyrics die meiste Zeit über sehr melodramatisch, aber eben auch wahnsinnig erwachsen und zeigen menschliche Tragik so granular und farbenfroh, dass es nicht pubertär wirkt. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich nach wie vor King Park, der neunminütige Knotenpunkt von Wildlife und ein Song, der in der Fanbase von La Dispute inzwischen mindestens den Nimbus eines Stairway to Heaven hat. Darin geht es um den Tod eines Kindes, welches Opfer einer Drive-by-Schießerei auf einer Kreuzung in La Disputes Heimatstadt Grand Rapids wurde, was ja an sich schon heftig genug ist. Jordan Dreyer geht hier jedoch noch viele Schritte weiter und erforscht nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Folgen und Gefühle der Menschen drumherum. Es wird über die Familie des Kindes gesprochen, die die Beerdingung plant, die Zeug*innen am Tatort, die betroffenen Reaktionen der Nachbar*innen und nicht zuletzt auch über die Perspektive des Täters. Im dritten und letzten Teil des Songs wird geschildert, wie der Schütze untertaucht, während nach ihm faahndet wird und die Polizei ihn kurze Zeit später ausfindig macht. Das finale dramatische Aufbäumen des Songs ist eine Szene vor seinem Hotelzimmer, in der er zwischen Verurteilung und Freitod pendelt und Dreyer mit aller verbliebenen Energie die letzten Worte des Täters intoniert. Was La Dispute hier in einem machen, wäre Netflix heutzutage mindestens eine Miniserie wert und über das gesamte Album verteilt gibt es diverse solcher Stories, die der King Park-Story in Sachen Tragik nicht nachstehen. Und natürlich drückt die Band damit auf die Tränendrüse, allerdings wissen sie auch, wie. Die persönliche Haltlosigkeit im Mittelpunkt dieser LP wird übertragen auf eine kollektive menschliche Haltlosigkeit, die das lyrische Ich als nur eine von Millionen Personen versteht, die in einer grausamen, unfairen und komplizierten Welt den Boden verlieren. Was doppelt so krass ist, weil die Geschichten darüber alle wahr sind. La Dispute triggern auf ihrem gerade mal zweiten Longplayer Themen an, die sehr wenige Musiker*innen überhaupt je ansprechen, weil sie sehr schwierig zu kommunizieren sind und diese Tatsache macht Wildlife bis heute so besonders. Es ist nicht nur ein Ausnahmealbum im Kontext einer kurzlebigen Hardcore-Nische, sondern vielleicht auch im Kontext von Popmusik generell. Und in den neun Jahren seit seiner Veröffentlichung hat es nichts von seiner Intensität verloren. La Dispute selbst scheinen das sehr gut zu wissen und versuchen gar nicht erst, ihren Geniesreich zu wiederholen. Und auch was den Rest der damaligen Szene angeht, ging vieles davon den Weg aller coolen Dinge: Es wurde uncool. Heute gibt es Metalcore-Bands, die furchtbar kitschige und pretenziöse Platten nach Wildlife-Schnittmuster aufnehmen, die die Schönheit des Originals mitunter trüben. Tatsache ist aber, dass das Konzept noch immer zieht, wenn es richtig ausgeführt ist. Acts wie Sun Kil Moon oder Mount Eerie haben in den vergangenen Jahren ähnliche Erzählstile etabliert und wenn man ein bisschen um die Ecke denkt, hat sogar das letzte Album von David Bowie gewisse Ähnlichkeit mit diesem hier. Fazit bei Jedem davon: Am Ende sterben immer alle und das Leben geht trotzdem weiter. Ein bisschen gilt das auch für die paar großartigen Hardcore-Jahre.

Persönliche Höhepunkte: A Departure | Harder Harmonies | St. Paul Missionary Baptist Church Blues | A Letter | Safer in the Forest / Love Song for Poor Michigan | the Most Beautiful Bitter Fruit | King Park | Edward Benz, 27 Times | A Broken Jar | All Our Bruised Bodies and the Whole Heart Shrinks | You and I in Unison

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