Samstag, 16. Oktober 2021

Songs für die Ewigkeit: Von Alto Cedro nach Marcané

Buena Vista Social Club - Buena Vista Social Club
BUENA VISTA SOCIAL CLUB
Chan Chan
aus dem Album Buena Vista Social Club
1997









 
 
Auf die Gefahr hin, hier direkt das übelste Klischee zu bedienen: Das 1997 veröffentlichte, selbstbetitelte Debütalbum des Buena Vista Social Club ist in meinen Augen eine unfassbar wirkungsvolle musikalische Kapsel, die in sich das klangliche Gefühl einer komplett anderen Welt trägt. Nicht nur das der folkloristischen Tradition des Son Cubano, die hier über den cleveren Pop-Kolonialisierer Ry Cooder in die Herzen der Welt gebracht wurde, sie ist eine der wenigen Platten ihrer Art, die mehr schafft. Die nicht nur dokumentarisch das abzeichnet, was ein westliches Publikum an den verborgenen Sounds der dritten Welt potenziell fasziniert, sondern eine, die in den besten Momenten tatsächlich diese Welt vor Augen führt. In diesem Fall die sonnigen Straßenzüge von Havanna, auf denen alte Paschas mit ihren Muscle Cars logieren, runzlige Abuelitas dicke Zigarren paffen und Kinder an der Hafenpromenade mit den Wellen fangen spielen. Szenen, die man natürlich auch aus dem dazugehörigen Dokufilm von Wim Wenders kennt, die für mich aber schlagartig reanimiert werden, sobald ich die Musik dieses Albums höre. Ein Album, zu dem Chan Chan für mich seit jeher das omnipräsente Tor ist. Ein Song, den ich seit meiner Kindheit nun inzwischen schon tausende Male gehört habe und der trotzdem nie seine unglaublich dichte Magie verliert. Und dabei ist es eigentlich auch irgendwie ein Stück, dessen universelle Beliebtheit irgendwie zu seinem Fluch geworden ist. Gemeinsam mit der LP, die es eröffnet, gehört es irgendwie zum Grundstock weltgewandter Popmusik, auf die sich die kulturbeflissene Boomer-Generation eines gewissen Klientels irgendwie einigen kann und steht im Plattenregal meistens direkt neben Legend von Bob Marley und irgendeinem X-beliebigen Putumayo-Sampler. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wahrscheinlich kein Album während meiner Kindheit so oft zu Hause lief wie dieses und auch die meisten Freund*innen meiner Eltern es besaßen. Dass ich es dabei nicht irgendwann totgenudelt habe, ist eigentlich ein kleines Wunder. Besonders im Fall von Chan Chan, das als Opener ja quasi die Visitenkarte der LP ist. Wobei meine Theorie ist, dass dieser Song einer ist, mit dem ich irgendwie gewachsen bin. Nicht nur in der Hinsicht, dass er mir anscheinend mit jedem Mal besser gefällt, sondern auch in der, dass ich ihn immer mehr verstehe. Über die Jahre, die ich den Track exzessiv gehört habe, habe ich eine Liebe für die Feinheiten in der Komposition gefunden, habe aus ihm die verschiedenen Einflüsse des Son Cubano herausgelesen (die Rhythmik hat etwas sehr afrikanisches, die Gitarrenarbeit ist fast ein bisschen bluesig, der Gesang erinnert an Fado und Tango) und im Zuge dieses Artikels sogar meine dürftigen Spanischkenntnisse zur Aufarbeitung des Textes angewendet. Wobei alles irgendwie dazu beigetragen hat, dass ich immer mehr fasziniert von der Arbeit bin, die hier kompositorisch geleistet wird. Wobei hier auch spätestens der Hinweis erfolgen muss, dass der Buena Vista Social Club den Song gar nicht geschrieben hat. Zumindest nicht direkt. Das Original des Titels wurde bereits 1984 von Compay Segundo veröffentlicht, der allerdings auch selbst Mitglied des Clubs war. Insofern ist das hier nicht im eigentlichen Sinne ein Cover, sondern eher eine Wiederaufnahme. Und als solche eine geniale, denn so cool ich die ursprüngliche Version auch finde, so sehr bin ich auch Fan von Imbrahim Ferrers unverwechselbaren Timbre, das hier einfach viel mehr Soul reinbringt. Außerdem profitiert die BVSC-Variante in meinen Augen von der dichteren Band-Instrumentierung, dem softeren Tempo und vor allem der hochklassigen Produktion von Ry Cooder. 
 
 
 
 
Für einen Opener ist der Track mit seinem smoothen, melancholischen Vibe eher ungewöhnlich, schafft gerade dadurch aber auch die optimale Atmosphäre, die diese LP prägt. Und kehrt als softer Einstieg den Platz auf, den kurze Zeit später das flippige De Camino A La Vereda braucht, um den tanzbaren Aktionspart des Albums einzuleiten. Als Moodsetter ist es also die bestmögliche Wahl und bleibt für mich auch trotzdem der beste Song der ganzen LP. Vor allem auch jetzt, da ich ein bisschen mehr über seinen Inhalt und seine Lyrics weiß, die mich noch mal auf eine ganz andere Weise extrem fasziniert haben. Wobei ich an dieser Stelle auch noch einmal meinen tiefen Respekt für Compay Segundo aussprechen muss, der hier fast schon literarische Arbeit leistet. Vieles an diesem Text erinnert mich an die Motive des den lateinamerikanischen Magischen Realismus von Gabriel García Márquez oder Isabel Allende, die man aus der Belletristik kennt. Denn zwar gibt es hier recht klare Narrative des kubanischen Landlebens und historischer Folklore, dabei allerdings keine konkrete Handlung oder Botschaft, sondern eher nebulöse Poesie. Das Stück hat an vielen Stellen die Ästhetik eines Volksliedes, beschreibt aber etwas sehr viel abstrakteres. Segundo selbst sagt, er hätte die Lyrics einem Traum nachempfunden, was angesichts der erzählerischen Zusammenhänge auf jeden Fall Sinn ergibt. Im eröffnenden Refrain wird der Alltag eines Wanderarbeiters angedeutet, der von Ort zu Ort zieht, später allerdings auch die 'Charaktere' Chan Chan und Juanica etabliert, mit der das Stück eher in die Handlungswelt eines Lovesongs kippt. Danach geht es wieder um die Arbeit der Zuckerrohrernte, die Orte, zu denen die beiden reisen und immer wieder um das Finden von Sand, mit dem die beiden ein Haus bauen wollen. Einen Überblick zu finden, ist also sicherlich auch ohne Sprachbarriere eine Herausforderung, wobei der Text an sich in meinen Augen dadurch nur gewinnt. Zwischendurch wird es sogar mal ziemlich erotisch, was definitiv eine Sache ist, die ich von so einem Song nicht erwartet hätte. Wenn man sich etwas weitergehend mit den Lyrics des Buena Vista Social Club beschäftigt (wobei der besagte Wim Wenders-Film eine große Hilfe sein kann), gibt es viele ähnlich geschriebene Songs, die meisten davon sind allerdings klassische Liebes- oder Volkslieder. Chan Chan fällt als sehr traumwandlerisches, surreales Stück irgendwie aus dieser Fassung und passt aus irgendeinem Grund trotzdem perfekt dazu. Gerade auch mit seinem erhabenen, etwas mystischen Klanggerüst, das mich jedes Mal gemütlich in das Erlebnis dieses Albums einschaukelt. Mit einer ganzen Reihe Songs, über die es sich lohnt, nochmal separate Artikel zu schreiben. Das letzte Mal wird das hier also bestimmt nicht gewesen sein.

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