Montag, 7. September 2020

1000kilosonars Oldies: Meine Lieblingsplatten 1964

 


 
 
 

Obwohl die letzte Liste dieser Art jetzt gerade Mal ein paar Monate alt ist, sind es für mich gefühlt mehrere Jahre gewesen, die ich gebraucht habe, um diesen Artikel fertigzustellen, und wenn ihr ihn jetzt vor euch habt, werdet ihr hoffentlich wenigstens ein bisschen merken, wieso. Vordergründig vielleicht dadurch, dass die Liste merklich größer geworden ist und mehr als doppelt so viele Einträge umfasst, aber auch dadurch, dass er sich inhaltlich verändert hat. Die Gründe dafür liegen vor allem darin, dass ich diese Variante von Posts jetzt gerade lange genug mache, dass ich im Vorfeld diesmal genauer sondieren konnte, was ich davon eigentlicht so richtig möchte. Zwei wesentliche Sachen haben sich dabei bisher herauskristallisiert. Zum einen, dass ich mich nicht mehr auf zehn Platten festlegen will, sondern hier mit dem arbeite, was ich finde. Wenn ich also nur fünf Alben aus einer jeweiligen Saison empfehlenswert finde, sind es nur fünf, wenn es fünfzig sind, sind es fünfzig. Das wird ab jetzt jedes Mal unterschiedlich sein. Zweitens konnte ich nach vier solcher Listen inzwischen besser einschätzen, wonach ich suche, weshalb ich das Raster dessen, was ich für diese Posts höre, grundlegend angepasst habe. Das ist verfahrenstechnisch zwar eher ein Prozess, der hinter den Kulissen stattfindet und von dem in der fertigen Liste nicht viel übrig bleibt, aber es bedeutet mehr oder weniger, dass ich diesmal mehr gehört als zuvor und auch gezielt nach obskuren und weirden Veröffentlichungen gesucht habe, was sich denke ich auch ausgezahlt hat. Was aber auch heißt, dass die Arbeit, so eine Liste zu machen, ab jetzt wesentlich länger dauert als vorher. Dafür ist das Ergebnis umfassender und die Wahrscheinlichkeit, dass ich euch hier wirklich Tipps geben kann, die man anderswo vielleicht nicht findet, größer. Es geht mir nicht darum, jetzt eine nachhaltige Variante zu schaffen, wie ich diese Art von Posts angehe, ich merke nur, dass sie sich zu einem zentralen Teil dieses Formats entwickeln und dem möchte ich gerecht werden. Ich hoffe, ihr seid damit einverstanden.
 
Wenn es einen wesentlichen Unterschied musikalischer Natur zu den vorherigen Listen gibt, dann dass wir 1964 endlich aus der eisernen Dominanz von US-amerikanischem Jazz - vorzugsweise Hardbop - herauskommen. Zum Teil hat das damit zu tun, wie ich hier mein Raster erweitert habe, es ist aber auch ganz klar ein Zeichen der Zeit. Die Beatles sind inzwischen ein globales Phänomen, Rock setzt sich langsam ernsthaft durch und die alte Welt des Jazz beginnt langsam Platz zu machen für eine neue Generation Pop. Exportweltmeister in diesem Jahr ist dabei definitiv Brasilien mit haufenweise tollen Alben aus der Umbruchsphase zwischen Samba-Jazz und Neuer brasilianischer Popmusik, die die ersten Wellen von Psychedelik gen Westen sendet. Aber auch die britische Invasion, das Folk-Revival in den USA und die ersten Knospen von Ska werden in diesem Jahr ernst. Der wesentliche Unterschied ist dabei, dass gewisse Formen von Rock- und Popmusik jetzt auch in seriös vermarktet werden und nicht mehr nur als schmissige Tanzmusik durchgehen. Vom Prog und Acid der ausgehenden Sechziger ist das zwar auch noch weit entfernt, aber es bewegt sich vorwärts. Und mit dem breiteren Bild, dass ich hier zumindest skizziert bekommen habe, werden eben nicht nur die allseits bekannten Bewegungen wie Beatlemania und Bob Dylan deutlich, die die Pophistorie vorschreibt, sondern auch die vielen Momente dazwischen, die langsam aber sicher den Weg in das bunte Pop-Jahrzehnt freigeben, als das wir die Sechziger kennen und das hier in seine erste große Pop-Phase einsteigt.




Stevie Wonder - Stevie at the Beach
21. STEVIE WONDER
Stevie at the Beach

Tamla
Dass Stevie Wonder tatsächlich ein ziemliches Wunderkind war, zeigt sich allein an dem Fakt, dass er dieses Album (sein viertes!) im zarten Alter von 14 Jahren veröffentlichte. Und obwohl das irgendwie auch bedeutet, dass die Platte kein großes künstlerisches Statement ist, kommt sie doch erstaunlich stilvoll und bunt rüber. Zwischen Do-Wop-Soul, Surfrock und cineastischen Instrumentals arbeitet der junge Stevie hier eine äußerst beachtliche Palette ab, die in ein paar bleibenden Hits und sogar einem recht spannenden Gesamtergebnis resultiert. Wenn man will, kann man die Geschichte des großen Musiker Stevie Wonder also durchaus hier beginnen.


Anspieltipps: Castles in the Sand | Ebb Flow | Red Sails in the Sunset ____________________________________________________________________
 
Woody Guthrie - Woody Guthrie Sings Folk Songs, Vol. 2
20. WOODY GUTHRIE
Woody Guthrie Sings Folk Songs, Vol. 2
Folkways
Wer Woody Guthrie als Teil des Sechziger-Folk-Revivals einordnet, hat keine Ahnung. Wenn überhaupt ist er so etwas wie der Großonkel der Bewegung, der schon 20 Jahre vorher das Erbe des amerikanischen Volkliedgutes aufpolierte und dabei mitunter auch politische Statements setzte. Und obwohl diese Aufnahmen hier von 1964 sind, zeigen sie doch, wie viel rudimentärer Guthries klanglicher Ansatz ist und wie tief dieser Typ noch im Country und Blues des vergangenen Jahrhunderts verwurzelt ist. Gibt es online leider nur als richtig beschissene Bootleg-Variante mit übersteuerndem Sound und bis dato auch leider kein gescheites physisches Rerelease. Macht das gute Songwriting aber trotzdem nicht kaputt.
 
Anpieltipps: Talking Hard Work | Hen Cackle | Danville Girl | the Wreck of Old 97
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Wayne Shorter - Night Dreamer 19. WAYNE SHORTER
Night Dreamer
Blue Note
Night Dreamer ist Wayne Shorters erstes Album für Blue Note Records und Rudy van Gelder, dem man seine personellen Verfädelungen mit den Heiligtümern des Bop definitiv anhört. Gerade frisch bei den Jazz Messengers ausgetreten, ist das hier ein Nebenerwerb aus seiner Zeit in der Band von John Coltrane, bevor er noch im selben Jahr zu Miles Davis wechselte. Eine Momentaufnahme innerhalb eines rapiden Aufstiegs, die einen noch recht wilden und ruhelosen Musiker präsentiert, der noch stark die Einflüsse seiner Meister mit sich herumträgt. Was bei diesen Namen aber natürlich auch ein Qualitätssiegel ist.
 
 
 
Anspieltipps: Night Dreamer | Virgo
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Millie - My Boy Lollipop 18. MILLIE SMALL
My Boy Lollipop
Combo
Ich habe mich viele Male gefragt, warum dieses Album auf dieser Liste gelandet ist, und einen rationalen Grund finde ich ehrlich gesagt nicht. Millie Small ist ein enervierendes Teenie-One Hit-Wonder mit einer unglaublich nervtötenden Stimme und der ewig gleiche Backbeat dieser 18 (!) Songs verursacht bei mir wahnhafte Zustände. Trotzdem liebe ich jeden einzelnen davon. Abgesehen davon ist es erstaunlich, dass es 1964 ausgerechnet diese 14-jährige war, die die ersten Knospen der jamaikanischen Ska-Bewegung über den Atlantik nach England und damit in den Pop-Mainstream brachte. Und im Gegensatz zu Prince Buster oder den Skatalites ist sie jetzt auch in dieser Liste. Ja nun.

Anspieltipps: My Boy Lollipop | Oh Henry | Be My Guest
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Pete Seeger - Freight Train
17. PETE SEEGER
Freight Train
World Record Club
Als in den frühen Sechzigern das Folk-Revival in den USA aufkochte, war Pete Seeger in diesem Bereich schon lange ein Veteran. Seit den Fünfzigern aktiv, waren seine politischen Protestsongs zunächst oft indiziert worden, was ihn für die jungen Leute des Movements zu einer Ikone machte. Freight Train ist eine der Platten, auf der seine Kunst wunderbar kompakt abgebildet ist und sein ganz persönlicher Stil mit am schönsten strahlt. Vielleicht nicht so cool und artsy wie Dylan oder Phil Ochs, aber irgendwie wunderbar ehrlich und authentisch. Auch wenn ein paar Songs aus heutiger Perspektive nicht mehr ganz so revolutionär klingen.


 
Anspieltipps: Coyote | T.B. Blues | Oh, What A Beautiful City | Careless Love
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Mary Lou Williams - Mary Lou Williams 16. MARY LOU WILLIAMS
Mary Lou Williams
Mary
Auf gut dokumentierten Musikseiten findet man mitunter zwei Versionen dieser LP: Einmal diese als selbstbetiteltes Album von Mary Lou Williams sowie eine von 1965 mit dem Titel Black Christ of the Andes. Beide sind prinzipiell das gleiche und damit eine der faszinierendsten Platten, die ich für diese Liste gehört habe. Williams und ihre Band spielen hier eine sehr willkürliche Auswahl aus zeitgenössischem Modaljazz, Swing und Soul, aber auch aus Gospel-Versatzstücken und Choralwerken, die fast an europäische Klassik erinnern. Der Vibe reicht dabei von beschwingt und flockig bis ernsthaft sakral und spirituell. Eine sehr verhuschte und mystische Platte, die aber in den besten Momenten einen magischen Bann aufbaut.

Anspieltipps: St. Martin de Porres | It Ain't Nescessarily So | A Grand Night for Swinging
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Norma Jean - Let's Go All the Way 15. NORMA JEAN
Let's Go All the Way
RCA Victor
Nein, nicht die Metalcore-Band Norma Jean und auch nicht Marylin Monroe, sondern 'Pretty Miss Norma Jean' Beasler, die Country-Schablone aus Oklahoma und ihr Debüt Let's Go All the Way. Das meiner bescheidenen Meinung nach alles ist, was man sich von einem stereotypen Genre-Album wünschen kann: Midtempo-Divebar-Nummern mit Walking Bass, ordentlich Pedalsteel und Streicher, dazu eine Stimme wie der Prototyp von Dolly Parton und jede Menge starkes Songwriting: Das Ergebnis ist eine Platte, die den Klischee Country unmissverstädnlich ausdefiniert und ganz nebenbei einen Hit nach dem anderen abliefert. Muss man nicht mögen, aber mag man wahrscheinlich ganz automatisch, wenn man ein Herz für Americana hat.

Anspieltipps: Memories From the Past | One Way Ticket to the Blues | Let's Go All the Way | Lonesome Number One | I Don't Love You Anymore
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Coltrane - Live at Birdland14. JOHN COLTRANE
Live at Birdland
Impulse!
Keine Sechziger-Selektion ohne Papa John, auch diesmal wieder mit einem Live-Album. Ich persönlich mag ja gerade diese Phase von ihm sehr gerne, in der er verstärkt auch mit dem Sopransaxofon arbeitet, das seinen Songs etwas mehr Action und Bumms verpasst. Abgesehen davon greifen die bewährten Coltrane-Parameter: Tolle Chemie der Bandmitglieder, die auch in langen Jams die Spannung aufrechterhalten, schicke dynamische Verschiebungen, die ein großes kompositorisches Spektrum aufmachen und natürlich geniale Soli vom Meister selbst. Sprich wieder eine dieser Platten, mit denen man sehr wenig falsch machen kann.

 
Anspieltipps: Afro Blue | Alabama
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Jorge Ben - Sacundin Ben samba 13. JORGE BEN
Sacundin Ben Samba
Philips
Samba Esquema Novo war ein Jahr zuvor das Album, mit dem Jorge Ben sich und seine völlig neue Denkart von Samba-Jazz auf der Pop-Landkarte positionierte, Sacundin Ben Samba ist anschließend der Feinschliff des Ganzen. Wer den Prototyp der neuen brasilianischen Popmusik mit ein bisschen mehr Feuerwerk und Tamtam hören will, findet hier sicherlich so einige Favoriten und wer einfach nur Jorge und seine Gitarre hören will, hat hier trotzdem noch genauso viel davon. Für mich persönlich kommen hier beide Ästhetiken sehr schön zusammen und zementieren diesen Typen als ein Ausnahmetalent des Bossa Nova, das hier auch bestimmt nicht zum letzten Mal auftaucht.

 
Anspieltipps: Anjo Azul | Carnaval Triste | A Princesa O Plebeu | Pula Baú 
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Aretha Franklin - Runnin' Out of Fools

12. ARETHA FRANKLIN
Runnin' Out of Fools
Columbia
1964 war Aretha Franklin noch nicht die Künstlerin, als die sie später unsterblich wurde und haderte noch zusehends mit einem von ihrer Plattenfirma aufgebauten Girl-Next-Door-Image. Und obgleich Runnin' Out of Fools als Coveralbum von luftigen Teenie-One-Hit-Wondern nicht unbedingt zu dessen Subversion gedacht war, zeigen sich hier die ersten Umrisse der Soul-Ikone Franklin, die in Songs wie I Can't Wait Until I See My Baby's Face oder Walk On By einfach immer ein bisschen krasser performt und so immerhin schon mal Charakter zeigt. Ein Album aus dem Kokon dieser Künstlerin, das zwar noch ziemlich brav ist, aber es eigentlich schon lange nicht mehr sein will.
 
Anpieltipps: Walk On By | the Shoop Shoop Song | You'll Lose A Good Thing | It's Just A Matter of Time
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Nina Simone - Folksy Nina 11. NINA SIMONE
Folksy Nina
Colpix
Wer Nina Simone lieben lernen will, muss ihre Livealben hören. Gerade in dieser sonst etwas awkwarden frühen Phase ihrer Karriere sind diese extrem charismatisch und lassen tief blicken, wie weit ihr künstlerisches Oeuvre schon damals war. Folksy Nina ist eine Sammlung verschiedener Stücke, primär aus der europäischen Klassik und dem Blues, aber auch aus Mittelasien oder Israel. Neben der schieren Vielfalt an Impulsen ist dabei vor allem Simones Leistung als Sängerin beeindruckend, die sich mit jeder Faser in ihre Performance hineinwirft und etwas erschafft, das den diffusen Soul-Begriff transzendiert, bevor dieser überhaupt reichtig entwickelt ist. Und dabei ist das noch nicht mal ihr bestes Album in dieser Saison.

 
Anspieltipps:
Silver City Bound | When I Was A Young Girl | the 12th of Never
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10. BEN E. KING
Young Boy Blues
Clarion
Hätte ich nicht gedacht, dass sich der ewig als One Hit-Wonder verschriene Ben E. King auch mittelfristig als Quell toller Alben herausstellt, die mich nachhaltig begeistern. Mehr noch, gerade Young Boy Blues ist für mich inzwischen einer der spürbaren Berührungspunkte zwischem dem Do-Wop der Fünfziger und einer Sache, die sehr dem ähnelt, was sich ein paar Jahre später als Soul durchsetzen würde. Einfach, weil King in diesen Songs jemand ist, der sich traut, auch mal mit ein bisschen Pfeffer zu singen und die besagte Seele in das zu legen, was er hier tut. Mit dem praktischen Nebeneffekt, dass er meistens auch noch unverschämt catchy ist. Spätestens mit dieser LP ein unterschätzter Pionier seiner Zeit.

Anspieltipps: Young Boy Blues | Ecstasy | Here Comes the Night | My Heart Cries for You | Gloria
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Los Brincos - Los Brincos
09. LOS BRINCOS
Los Brincos
Novola
Das einzige (indirekte) British Invasion-Album in dieser Liste kommt aus Madrid und zeigt sehr wirkungsvoll, was das Phänomen Beatlemania zu dieser Zeit in ganz Europa anrichtete. Die Brincos sind in ihrer Wesensart ein eindeutiger Klon der Fab Four, der mal auf spanisch, mal auf einem recht rudimentären Englisch singt und keinerlei Hehl aus seinen Einflüssen macht. Was sie sie auf eine witzige Art cooler macht als die echten Beatles damals, weil ihr niedlicher Dillettantismus einfach so viel wilder und rabiater klingt als die gebügelten Jungs aus Liverpool. Vielleicht liegt es auch ein bisschen daran, dass diese Songs nicht schon tausendfach totgedudelt sind. Erfrischend ist es auf jeden Fall.

Anspieltipps: Es Para Ti | Nira | Flamenco | Shag It | Es Como Un Sueño | What's the Matter With You | No Soy Malo
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08. CARLOS & LUCÍLIA DO CARMO
Fado Em Tom Major
(Label unbekannt)
Noch eine dieser sehr mysteriösen Platten, über die man online wenig und sehr widersprüchliches findet, aber die einfach total faszinierend sind. Fest steht in diesem Fall, dass Fado Em Tom Major das einzige gemeinsame Album des großen portugiesischen Sängers (und späteren Eurovisions-Teilnehmers) Carlos do Carmo mit seiner vielleicht noch berühmteren Mutter Lucília ist, die man heute wahrscheinlich als eine Art Split-LP bezeichnen würde. Mit seinen klassischen Fado-Ansätzen und dem fast noch in den Vierzigern hängengebliebenen Sound definitiv das konservativste Album dieser Liste.

 
 
Anspieltipps: Saudade Mal Do Fado | Leu Em Todos Olhos | Rainha Santa | Fica Comido Saudade
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Ana Lúcia - Canta triste

07. ANA LÚCIA
Canta Triste
RGE Discos
Ana Lúcia Buchele da Silva Souza ist eine faszinierend mysteriöse Figur der Musikhistorie, die gleich einem Geist am Anfang der Sechziger auftaucht, drei ziemlich gute Bossa Nova-Platten aufnimmt und über die abgesehen davon wenig mehr - nicht mal ein klares Geburtsdatum - zu finden ist. Als Vermächtnis der Sängerin zählt bis heute vor allem das ebenfalls etwas geisterhafte Canta Triste, das eines der schönsten Dokumente brasilianischer Popmusik zu dieser Zeit ist, aber damit auch in einem Vakuum stattfindet. Die Songs sind melancholische Schlager mit Jazz- und Folk-Einschlag und herrlich pittoresker Patina, bei denen mir aber immer ein kleiner Schauer über den Rücken läuft.

Anspieltipps: Andam Dizendo | Derradeira Primavera | Acalanto | Diz Que Fui Por Aí | Valsa de Eurídice
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Muddy Waters - Folk Singer06. MUDDY WATERS
The Folk Singer
Chess Records
Dieses Album war für Muddy Waters 1964 das Ende einer längeren musikalischen Findungsphase, bei dem Chess Records versuchte, den Songwriter als Twist- und Rock'n'Roll-Künstler zu rebranden. Nachdem dieses Experiment kläglich scheiterte, ist diese LP die feierliche Rückkehr zu den Wurzeln des Blues und als solches extra rudimentär und klassisch. Die minimalistische Art der Aufnahme, bei der Waters teilweise nur akustisch sich selbst begleitet, ist verhuscht und intim, weshalb the Folk Singer nicht umsonst die Erfindung des Begriffs "unplugged" angedichtet wird. Ein stiller Klassiker des Blues und eines der Highlights dieses Ausnahmekünstlers.

 
Anspieltipps: My Home is the Delta | You Gonna Need My Help | County Boy | the Same Thing | My John the Conqueror Root
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The New Lost City Ramblers - String Band Instrumentals 05. THE NEW LOST CITY RAMBLERS
String Band Instrumentals
Folkways
Dass Pete Seeger cool ist, haben wir ja jetzt schon geklärt, meine persönliche Rose für diese Saison geht aber an seinen Halbbruder Mike und seine New Lost City Ramblers. Die machen auf String Band Instrumentals (Etikettenschwindel: Es wird hier durchaus gesungen) zwar eher dokumentarische Arbeit in den Bereichen Country und Folk, sind darin aber umso besser und reichhaltiger. Insgesamt 21 amerikanische Weisen sind hier versammelt, die dann auch mit dem Maximum an Oldschool-Hingabe performt werden. Quasi sowas wie der O Brother, Where Art Thou-Soundtrack, nur in der ersten Instanz des Remakes.

 
Anspieltipps: Victory Rag | Blackeyed Susie | Cowboy Waltz | the New Lost Train Blues
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Nina Simone - Nina Simone in Concert04. NINA SIMONE
In Concert
Philips
Dass Nina Simone gut ist, wusste ich schon lange, aber dieses Album war vor ein paar Monaten das erste Mal, dass ich wirklich verzaubert von dieser Künstlerin war und ernsthaft begonnen habe, den ganzen Bohei zu verstehen, der um sie gemacht wird. Denn dieses Album ist in seinen besten Momenten nicht weniger als magisch und verpuppt eine unfassbate Leidenschaft in alles, was es anpackt. Billige Schlager von George Gershwin, Kurt Weill und Jack Hammer werden hier zu großen poetischen Statements und stehen gleichberechtigt neben Eigenkompositionen, die im gleichen Momenten tragisch und zum Schreien sind. Das alles in eine einzige Konzertaufnahme zu verpacken, bekommen wenige so magnetisierend hin.

Anspieltipps: Plain Gold Ring | Pirate Jenny | Old Jim Crow | Mississippi Goddam
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The Dubliners - The Dubliners 03. THE DUBLINERS
The Dubliners
Transatlantic
Was Woody Guthrie und die Seeger-Brüder Anfang der Sechziger in den Staaten an volkstümlicher Konservierungsarbeit leisteten, dafür waren auf der anderen Seite des Atlantiks - in diesem Fall exklusiv in Irland - die Dubliners verantwortlich. Was ihr Debüt besonders macht ist aber nicht nur eine sehr puristische dokumentarische Seele, sondern auch ihre fantastische Leistung als Performer, die hier in vielen teilweise live eingespielten Songs zum tragen kommt. Faszinierend nicht zuletzt durch den extrem reduzierten Sound und die spärliche, teils gänzlich fehlende Instrumentierung. Ein spannendes Album mit vielen Facetten, das nicht nur Fans von irischer Volksmusik neugierig machen dürfte.

Anspieltipps: the Wild Rover | the Ragman's Ball | Preab San Ol | the Rocky Road to Dublin | Swallow's Tail | Jar of Porter
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Walter Wanderley - Entre Nós 02. WALTER WANDERLEY, SEU CONJUNTO E ORQUESTRA
Entre Nós
Philips
Keine Ahnung, was 1964 plötzlich mit Walter Wanderley los was, aber es gefällt mir sehr. Der Typ, der Anfang der Sechziger mit hauptverantwortlich für einige der schlimmsten Fahrstuhlmusik-Releases im Bereich Bossa Nova war, wird in dieser Saison plötzlich zum innovativen Vorreiter der frischen Pop-Prägung des Genres, teilweise sogar mit psychedelischen Anwandlungen. Das schlüpfrige Porno-Keyboard kann er sich zwar noch immer nicht so richtig verkneifen, doch ist es hier bewusstes Stilmittel statt nervtötendes Leitmotiv. Ein definitiver Sieg für den Spaß im brasilianischen Pop dieser Zeit.

 
Anpieltipps: Telefono | Berimbau | Samba Das Cores | Pula Bau | Chuve Chuva
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Charles Mingus - Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus01. CHARLES MINGUS
Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus
Impulse!
Es ist jammerschade, dass die wahrscheinlich kreativste künstlerische Phase des Charles Mingus Mitte der Sechziger mit einer seiner härtesten persönlichen und existenziellen Krisen einherging, die dieses Album hier lange vor seiner Zeit zum letzten großen Klassiker des legendären Bassisten machen. Nach dem filigranen und elitären Black Saint and the Sinner Lady eher ein simples Post-Bop-Ding, allerdings mit der typisch mingus'schen, etwas windschiefen und rappeligen Kompositorik, die es zu diesem besonderen Erlebnis und meinem Favoriten dieses Jahres macht.

 
 
Anspieltipps: II B.S. | I X Love | Mood Indigo | Better Get Hit in Yo' Soul

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