Montag, 21. September 2020

Afterdark

沙漠鱿鱼 - 上海/香港
 

[ urban | melancholisch | mystisch | nachtaktiv ]

Eine ganze Weile ist es her, dass ich auf diesem Format über so ein Album gesprochen habe. Und für diejenigen, die jetzt nicht wissen, was ich meine: Ihr wisst es eigentlich ganz genau. Die Indizien sind nämlich alle da. Gestelzte Titel auf Hanzi-Schrift, ein melancholisch wirkendes, großstädisches Covermotiv mit verhaltenen Blau-, Türkis- und Rosatönen, dazu ein gewisser Hauch des mystischen, der das ganze umgibt: Mit dieser LP haben wir einen offenkundigen Fall von Vaporwave vor uns. Nicht nur das, eben genannte Umrisspunkte legen sogar die Vermutung nahe, dass es sich hier um eines jener besonders atmosphärischen Produkte handelt, die seit etwa 2014 eher dem Ambient-Ableger der Szene vorbehalten sind. Langwierige, synthetisch angefütterte Melancholie-Projekte, die nach verregneten Nächten in ostasistischen Metropolen klingen und nach der Romantik des Anonymen. Platten, die mich immer ein bisschen an die Bücher von Haruki Murakami erinnern, in denen seltsame Figuren sich nächtens an gesichtslosen Orten begegnen und von Fremden zu Vertrauten werden. Ich erkläre das so ausführlich, weil 上海/香港 genau so ein Album ist, und ihm zumindest oberflächlich diese sonderbare Eigenschaftslosigkeit und Fremdartigkeit anhaftet, die diese Musik häufig mit sich bringt. Ein ätherisches Ambient-Album mit urbanen Vibes, das man auf den ersten Blick mit keinem Namen oder Charakter verbindet und das so flüchtig zu sein scheint wie eines von Millionen Gesichtern im Trubel einer Großstadt. Schaut man etwas genauer nach, ist es jedoch ziemlich einfach, hinter den Vorhang zu blicken: 沙漠鱿鱼 oder "Desert Squid" ist ein Zusammenschluss des US-Amerikanischen Producers Uncle Squidz und dem britischen Künstler Desert Sand Feels Warm at Night, beide ihrerseits relativ junge Gesichter in der Szene-Landschaft und durch keine nachvollziehbare stilistische Bande verknüpft. Wo der eine bereits seit 2018 einen ähnlich ambienten Stil pflegt, ist der Andere im wesentlichen durch einen trashigen Youtube-Kanal und einen zwanzigminütigen Vapor-Remix von Kanye West-Songs bekannt. Aber wie auch immer die beiden hier zueinander gefunden haben, was sie gemeinsam hier aufbauen, ist einigermaßen erstaunlich. Nicht nur deshalb, weil sie als zwei eher grünohrige Künstler*innen gerade ein bisschen aus dem inneren Kreis der Vaporwave-Blase ausbrechen, sondern auch, weil das seine Gründe hat. Wenn man will, funktioniert 上海/香港 auch genauso gut ohne jeglichen Szene-Kontext als gute synthetische Ambient-Platte, die es großartig schafft, einen fesselnden Vibe aufzubauen. Dabei helfen Desert Squid hier nicht nur ätherische Samples und Synths, bei denen vor allem die romantischen Piano-Passagen glänzen, sondern auch durch Field Recordings von belebten Straßen, Nieselregen und U-Bahnhöfen, die das ganze fast ein bisschen cineastisch wirken lassen. Auch gewinne zumindest ich durch die Anordnung der Tracks das Gefühl, hier den Soundtrack einer Nacht von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen zu erleben, auch wenn das an dieser Stelle reine Interpretationssache ist. Das ist aber auch irgendwie der Punkt des Ganzen: 上海/香港 definiert seinen Vibe gerade so sehr aus, dass es beim Hören jede Menge Fantasie anregt und Assoziationen zulässt, die an vielen Punkten die Deutungsklarheit eines typischen Ambient-Projektes übersteigen. Für manche ist es vielleicht ein Problem, ich hingegen finde es in den besten Momenten inspirierend. Und es wird am Ende des Tages ja niemand gezwungen, hier an Murakami oder Coppola zu denken. Es ist eben nur sehr naheliegend.
 


 
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