Samstag, 26. September 2020

Keyboardsolo für Jesus

 Neal Morse - Sola Gratia

 
[ musiktheatralisch | retroproggig | religiös ]

Wenn man wie ich jetzt schon ein paar Jahre länger dabei ist, regelmäßig über Musik zu schreiben und dabei auch mehrere stilistische Findungsphasen durchlaufen hat, ist es unabdingbar, dass sich der generelle Musikgeschmack auf dem Weg dahin mitunter dramatisch verändert, und meiner Ansicht nach ist es eine der besten Sachen, die bei einer solchen Beschäftigung passieren kann. Interessant ist, dass es dabei auch immer wieder Marker gibt, die diese Veränderung sehr deutlich spürbar machen. Platten, bei denen man ganz genau weiß, dass man darüber vor wenigen Jahren noch ganz anders gedacht hätte. Und der Hauptgrund, warum ich heute über Sola Gratia von Neal Morse schreiben möchte, ist der, dass sie genau so eine ist und ich mir ziemlich sicher bin, dass vor acht Jahren, als ich diesen Mist hier anfing, so ein Album nicht mal mit dem Arsch angeguckt hätte. Die Parameter, in diesem Falle vor allem ihr Interpret, sprechen hier nämlich schon für sich. Bekannt ist Neal Morse, Sänger, Multiinstrumenalist und Komponist mit einem riesigen musikalischen Œuvre, vor allem durch seine Mitgliedschaft in den Bands Spock's Beard und Transatlantic, beides Formationen aus den tiefsten Tabuzonen des Neunziger-Prog, die ich bis heute tunlichst gemieden habe. Ferner ist sein Solo-Output, der seit 1999 etwa 60 (!) Alben umfasst, zusätzlich dem diffusen Feld der christlichen Rockmusik zuzuordnen, in dem er sich seit einiger Zeit auch zunehmend dem Bereich Musiktheater zuwendet. Und Sola Gratia vereint all diese Unantastbarkeiten als christliches Retroprog-Musical über die Lebensgeschichte des Paulus von Tarsus auch noch konsequent in einem Album. Schon allein diese Beschreibung hätte vor wenigen Jahren gereicht, um mein Interesse direkt im Keim zu ersticken. Glücklicherweise bekam ich diese im Vorfeld dieser LP nicht zugesteckt und hörte vor ein paar Tagen ganz unbescholten erste Teile der Platte, die mich irgendwie begeisterten. Und als ich vor ein paar Tagen dann den ganzen Kontext dazu recherchierte, fand ich das Ding schon zu geil, um irgendwelche Abscheu darüber zu empfinden. Wobei man sich hier definitiv keine Illusionen machen sollte: Sola Gratia ist musikalisch genauso kitschig, wie es von der Idee her klingt. Als Musical mit christlicher Heldenreise als Themenbezug hat es durchaus die großen Schmalz-Momente eines Jesus Christ Superstar und Neal Morse ist nicht gerade ein Sänger, der sich bemüht, diesen Pathos zu schmälern. Nimmt man dazu die verklausulierten Prog-Eskapaden, die hier stattfinden und die etwas billige Hochglanz-Produktion inklusive programmiertem Schlagzeug und minutenlangen Keyboardsolos, ist das hier schon ein ganz schöner Brocken. Ein Brocken allerdings, der sich durch seine vielen Extreme auch selbst angenehm ausbalanciert. Als monumentale Prog-Oper würde das hier normalerweise Gefahr laufen, völlig überkompliziert und technisch zu sein, doch gibt der schnulzige Musical-Aspekt dem ganzen etwas getragenes, das das Tempo wunderbar drosselt. Andersherum ist vieles hier eben nicht ganz so ätzend kitschig wie ein "richtiges" Musical, weil zwischendurch eben doch mal ein freaky Gitarrensolo oder kantiger Metal-Moment reinplatzt. Besonders gelungen finde ich hier jedoch die lyrische Arbeit, die sowohl für die Verhältnisse von Prog-Storykonzepten als auch für Musiktheater extrem gut geworden sind. Dadurch, dass hier eben nicht die Songs missbraucht werden, um eine Handlung voranzubringen, sondern der Fokus auf dem inneren Konflikt der Hauptfigur liegt (die ich vorher auch nur sehr sporadisch kannte, aber es geht wohl irgendwie um die Entdeckung der Bedeutung von Jesus oder so), wirkt das hier wesentlich echter und nicht eine Sekunde lang bemüht. Die biblische Thematik der Geschichte hilft dabei sogar immens, da sie für diese Gedankenwälzungen als Vorlage schon viel hergibt. Klar gibt es dabei ein paar ulkige Momente und das hymnische Ende in the Glory of the Lord ist definitiv überzogen, aber tonal passt wenigstens alles zusammen. Was noch besser dadurch wird, dass fast alle Songs hier extrem smooth ineinander übergehen, klangliche Brücken von einem Punkt der Geschichte zum anderen bauen und es ein kompositorisches Hauptmotiv gibt, dass immer wieder auftaucht. Dramaturgisch ist das hier also auf jeden Fall eine Eins mit Sternchen, in Sachen Prog-Ästhetik zumindest überzeugender als die allermeisten Platten in dieser Stilistik. Sicher bin ich am Ende des Tages noch immer ein bisschen selbst überrascht, wie gut ich diese LP finde, wenn ich mir die innewohnenden Strukturen anschaue, aber auch irgendwie nicht. Sola Gratia nimmt die Attribute, die ich normalerweise an den Bestandteilen Retroprog und modernes Musiktheater hasse und dividiert sie durch sich selbst aus. Womit das hier die Platte wird, die so vielen anderen Versuchen zeigt, wie man es richtig macht. Dass es dabei ausgerechnet ein christliches Rockalbum aus der Feder des Typen von Spock's Beard ist, ist da fast schon ein witziger Nebenaspekt. Und für die eigentliche Qualität des ganzen sowieso völlig unwichtig.




Hat was von
Andrew Lloyd Webber & Tim Rice
Jesus Christ Superstar

Rush
2112

Persönliche Höhepunkte
Overture | In the Name of the Lord | Ballyhoo (the Chosen Ones) | March of the Pharisees | Overflow | Warmer Than the Sunshine | Never Change | Seemingly Sincere | the Light On the Road to Damascus | Now I Can See / the Great Commission

Nicht mein Fall
-

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