Montag, 9. Oktober 2017

Organische Chemie

Auf der Suche nach guten Elektro-Platten im Jahr 2017 gerate ich Anfang Oktober langsam ein bisschen in Torschlusspanik. Die Saison ist quasi fast zu Ende und noch immer fehlt es ihr irgendwie an elektronischen Longplayern, die mich wirklich vollends überzeugen. Sicher, es gab einige ziemlich solide Kandidaten in den vergangenen Monaten und an Überraschungen mangelte es auch nicht, doch was mit fehlt, ist irgendwie die LP, die mich so richtig vom Sessel reißt. Bisher hat das höchstens Brian Eno geschafft und der zählt nicht, weil er kein schlechtes Album machen kann. Neuer Versuch jetzt also mit Four Tet, und wieso eigentlich nicht. Kieran Hebden ist seit Jahren einer der rennomiertesten modernen Produzenten und einige seiner älteren Platten wie Rounds und There is Love in You gelten mittlerweile als kleine Klassiker. Und obwohl sein Output in den letzten Jahren eher weniger in meiner Gunst stand, halte ich doch einiges auf den Londoner und nach vielen unüberschaubaren Kleinst-Releases, die zuletzt seine Diskografie prägten freute ich mich hier direkt ein bisschen auf sein erstes richtiges Album seit 2013. Meine Hoffnung war, dass Hebden im gegebenen Rahmen eines vernünftigen Gesamtkontextes vielleicht wieder sein ganzes Talent erblühen lassen könnte und eine "richtige" LP wohl besser für ihn sprechen würde als viele einzelne Tracks. Und wie erhofft hat der Brite hier genau das geschafft. New Energy kann man als Titel ziemlich wörtlich nehmen, denn diese 14 Songs sind davon so voll wie lange nichts mehr von ihm. Zwar ist die stilistische Ausrichtung irgendwo an der Grenze zwischen Ambient und Minimal Elektro nicht unbedingt sehr actionreich, aber die Klangkulissen, die Hebden hier malt, sind deshalb nicht minder lebendig. Besagte "Energie" der Stücke bezieht sich weniger auf deren allgemeinen Sound, als auf den Mikrokosmos, der ihm innewohnt. Ich würde jetzt den Vergleich des Ameisenhaufens bringen, aber den habe ich schon bei Eno genug strapaziert. Wobei er stimmt: Die gesamte Platte verhält sich wie eine einzige organische Masse, aus der hin und wieder ein bestimmtes Detail heraussticht, das alles noch ein bisschen schöner macht. Die akustische Gitarre in Two Thousand and Seventeen, die House-Momente in You Are Loved und SW9 9SL oder die getragenen Minecraft-Streicher in 10 Midi: Alles hier ist sehr stimmig, nimmt sich aber dennoch heraus, in gewissen Intervallen experimentell zu sein, bisweilen sogar retro. Gerade im Mittelteil der Platte schleichen sich Momente ein, die sehr Neunziger sind und auffällig an die Warp-Künstler*innen der damaligen Zeit erinnern. Das ist einigermaßen neu für Four Tet, aber keinesfalls schlecht. Immerhin sorgt es dafür, dass die Songs zum Teil auch echt tanzbar werden. Was aber auf keinen Fall abschrecken soll: Der hauptsächliche Part dieses Albums ist angenehm gechillt und sphärisch, was ja auch seinen Wert hat. Vor allem, weil Hebden beides ziemlich meisterlich beherrscht. Das Ergebnis ist am Ende eine sehr runde Elektro-LP, die mit ihrem ansprechenden Mix auch Experiment, Chillout, Nostalgie und einer Prise Techno genau meinen Nerv trifft. Den Longplayer, den ich zu Anfang beschrieben habe, stellte ich mir die ganze Zeit eigentlich anders vor, aber dennoch glaube ich, ihn in New Energy gefunden zu haben. Kieran Hebden beweist hier unglaublich viel Stil, Fingerspitzengefühl und Soul auf einem Album, das ihn mir als Künstler wieder verkaufen kann. Vielleicht eines der Comebacks des Jahres...





Persönliche Highlights: Two Thousand Seventeen / L.A. Trance / Tremper / Lush / You Are Loved / SW9 9SL / 10 Midi / Memories / Daughter / Planet

Nicht mein Fall: Scientists


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen