Montag, 16. Oktober 2017

In Echt: Am Ende der Unschuld

Es sieht ganz so aus, als wollten Sigur Rós ihr eigenes Klischee loswerden. Zumindest ist von der Band, die einst so dafür gefeiert wurde, die isländische Pastorale neu zu erfinden und die musikalische Umsetzung von Geysiren und Vulkanen zu sein, im Moment nicht unbedingt viel zu sehen. Die Bühnenkostüme sind eingemottet, gespielt wird in legeren T-Shirts und Jogginghose (letzteres zumindest bei Georg Hólm), die Lichtshow könnte man durchaus als futuristisch beschreiben und die drei Musiker selbst legen heute alles daran, ihre innere Noiserock-Mentalität zutage zu fördern. An diesem Abend in Frankfurt am Main kommt die Musik dann tatsächlich auch nur von diesen Dreien. Kein halbes Orchester, keine Backing-Vocals und kein zweites Schlagzeug haben Sigur Rós im Gepäck, stattdessen hat mittlerweile jeder von ihnen einen eigenen Drum-Computer. Dass die Isländer in den letzten Jahren einen weiten Weg gemacht haben, wird hier unbestreitbar zur Schau gestellt. Hinsichtlich dieses fast provokativ un-Sigur-Rós-mäßigen Auftretens ist es allerdings erstaunlich, dass ein relativ klassisches und vor allem gediegenes Set gespielt wird. Besonders in der ersten Hälfte des Konzerts bedient sich die Band neben vielen neuen Songs vornehmlich an Tracks des unbetitelten "weißen" Albums, einer ihrer stillsten Platten. Für jemanden wie mich, der nach wie vor jede Menge Material von Kveikur erwartet hatte, ist das zumindest eine Überraschung, wenn auch alles andere als eine Enttäuschung. Denn egal was Sigur Rós live anpacken, sie schaffen es von der ersten Sekunde an, eine ausverkaufte Location mit 4000 Menschen zu verhexen. In der Jahrhunderthalle herrschte diesen Samstag gute zwei Stunden lang eine atemberaubende Magie, und das trotz einiger nicht zu übersehender technischer Pannen und einem stimmlich nicht ganz so fitten Frontsänger (der es dennoch schafft, einen perfekten Falsettton über 40 Sekunden lang A Capella zu performen). Schon bei der Eröffnung mit dem bisher unveröffentlichten Stück Á wird einem spürbar anders, und als ein bisschen später mit Glósoli der erste kleine Hit angestimmt wird, lösen sich auch die letzten Knoten. Das Zusammenspiel aus Musik und Lichtshow wirkt atemberaubend und nicht so durchinszeniert, wie es wahrscheinlich ist. Und statt isländischen Landschaften abstrakte polygonische Gebilde und CGI-Wasser zu sehen, ist irgendwie auch ein bisschen erfrischend. Was jedoch noch beeindruckender ist, ist die Tatsache, hier keiner wirklichen Show zuzusehen, sondern Musikern, die hart arbeiten. Das komplette Set über steht das Trio merklich unter Strom und rackert sich erstaunlich wenig routiniert durch die 14 Songs. Vor allem bei Drummer Hólm merkt man die Anspannung, der zwischendurch seinen Tontechniker wegen fehlendem Monitoring anherrscht. Ohnehin ist die Technik an diesem Abend der vielleicht größte Spielverderber. Nachdem bereits im vierten Song Dauðalagið (heute in extrem lärmig) irgendetwas mit Jónsis Effektgerät nicht stimmt, wird Fljótavík kurzerhand nicht gespielt. Die erste Hälfte des Konzerts endet daher etwas holprig mit den beiden neuen Stücken Niður und Varða, letzteres hat mit Bassist Orri Dýrason am Klavier allerdings eine ganz spezielle Sahnehaube. Trotzdem ist man froh, dass zum zweiten Teil des Sets dann alle Reibungen behoben sind. Denn hier wird es Setlist-technisch erst so richtig interessant. Beim aufwärmenden, ebenfalls neuen Óveður lässt die neue Lichtshow erstmals ihr komplettes Ausmaß erahnen und spätestens im nachfolgenden Sæglópur erlebt das Konzert seinen ersten großen Stadion-Moment. Stroboskop, eine doppelte LED-Leinwand und Röhrenleuchtelemente machen einen der größten Tracks der Band zur audiovisuellen Achterbahnfahrt. Sowas ist dann ehrlich gesagt auch von Coldplay nicht mehr weit entfernt. Noch schöner ist nur, dass die nachfolgenden Fan-Favoriten Ný Batterí, Vaka und Festival dem in Sachen Show-Spektakel kaum nachstehen. Mit Kveikur hängen Sigur Rós sogar noch das Stück dran, das auf meiner persönlichen Wunschliste für diesen Abend stand (und wie erwartet abreißt). Mit einem erneut extrem lärmigen Popplagið schließt das Trio danach seine Performance ab, nicht ohne dabei zünftig ein paar Instrumente zu verwüsten. Besonders Jónsi lässt sich am Schluss zu ein paar ziemlichen Rockstar-Gesten hinreißen. Aber vielleicht sind die Sigur Rós von 2017 ja auch genau das: Rockstars. Wer in einer Woche Tour mehrere Hallen ausverkauft und es dabei jeden Abend jeder einzelnen Person darin so besorgt wie an diesem Abend, der ist auf keinen Fall eine kleine Indie-Nischenband. Und wer nach dem Konzert noch daran zweifelt, dass dem so ist, dem dürfte ein Blick auf die happigen Getränke- und Merch-Preise weiterhelfen. Doch es ist zumindest aufmunternd, dass diese drei Musiker darüber hinweg nicht scheiße geworden sind. Als nach insgesamt gut zwei Stunden Dauerlauf das sinngebende Wort "takk" auf dem LED-Screen erscheint und die Band sich verbeugt, wirkt es kein bisschen weniger glaubwürdig als vermutlich vor zehn oder zwanzig Jahren. Das, was diese Suppe hier fett macht, ist das Band zwischen Musikern und Fans. Und die Dankbarkeit, die Sigur Rós seit jeher so zelebrieren, beruht nach wie vor auf Gegenseitigkeit. Das ist zum Glück auch dann noch so, wenn sie nicht mehr die isländischen Postrock-Posterboys sein wollen.

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