Freitag, 20. Oktober 2017

Annie, You're A Star

Für viele Menschen, die sich für Musik interessieren, ist Annie Clark aka St. Vincent in den letzten zehn Jahren eine ziemlich wichtige Musikerin gewesen, die mit Platten wie Actor und Strange Mercy elementare Impulse für den Artpop des neuen Jahrtausends lieferte. Angesichts dieser Tatsachen finde ich es schade, dass ich selbst nie so richtig eine Meinung zu ihrem Output hatte. Ich mag zwar viele ihrer Sachen ganz gerne, aber sie waren für mich selbst nie so große Highlights wie wahrscheinlich für die meisten anderen. Und dass sie sich momentan in der größten stilistischen Umbruchsphase ihrer Karriere befindet, hilft da nicht wirklich. Nachdem sie sich zuletzt mit ihrem selbstbetitelten Album von 2014 endgültig in die Richtung des experimentellen Pop bewegte und danach ziemlich lange Ruhe war, veröffentlicht sie mit Masseduction nun ihr bisher vielleicht gefälligstes Material überhaupt. Die 13 neuen Songs sind wesentlich näher am Mainstream als alles, was die Songwriterin aus Oklahoma bisher machte und erinnern statt an Tori Amos und Björk eher an Lily Allen, Madonna oder Matthew Bellamy. An sich ist das gar kein blöder Move, da Clark schon immer irgendwie alles gut konnte und ich ihr einen derartigen Crossover durchaus zutraue. Nur ist Masseduction am Ende gar kein Crossover geworden, sondern ein astreines Pop-Album. Und noch dazu ein ziemlich gutes. Ich war zu Anfang zugegebenermaßen etwas verstört von den zahlreichen erotischen Anspielungen in den Texten, den ulkigen, quietschbunten Elektro-Instrumentals und nicht zuletzt von diesem komplett verpeilten Artwork, aber im Gesamtkontext macht alles irgendwie Sinn. Diese Platte ist ein mehr oder weniger konzeptuelles Album, das sich sehr weit gefasst mit hedonistischer Millenial-Kultur beschäftigt und dazu eben einen passend knalligen Sound findet. Es gibt hier viele verkaterte Liebeslieder, Tracks über schlechte Partys und guten Sex, über Zigaretten und Viagra. Das ganze ist ein sehr schöner Rahmen, in dem alles geregelt und trotzdem mit dem richtigen Maß an Kreativität abläuft und Annie Clark nicht weniger strahlen kann als auf ihren vorherigen Platten. Dass trotzdem ein paar Stücke aus dem Muster herausfallen, ist da eher eine doofe Nebenwirkung. Pills ist mir ein kleines bisschen zu hektisch, Happy Birthday, Johnny passt als bodenständige Country-Ballade eher wenig zum Rest der LP und Fear the Future übertreibt es ein bisschen mit dem rummeligen Elektropop-Ansatz. Dafür gibt es mit dem fetzigen Sugarboy, dem niedlichen New York und dem sehr New-Wavigen Titelsong ein paar echte Highlights hier. Nicht jeder Song hier ist ein Treffer ins Schwarze, aber mit den meisten Songs übertrifft Annie Clark zumindest meine anfänglichen Erwartungen. Ein durchwachsenes Album mit gutem Hintergedanken ist immer noch besser als ein sinnloser Stilbruch ohne richtigen Plan. Und auch wenn Masseduction nicht unbedingt zu den besten Platten von St. Vincent zählt, schafft es doch ein relativ neues Kapitel ihrer musikalischen Identität, von dem ich durchaus mehr vertragen könnte. Sollte diese Frau am Ende doch noch zum Popstar werden? Vielleicht würde ich dann endlich wissen, was ich von ihr halten soll...





Persönliche Highlights: Hang On Me / Masseduction / Sugarboy / New York / Slow Disco

Nicht mein Fall: Happy Birthday, Johnny / Fear the Future

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