Montag, 1. Juli 2019

Mutmaßungen über Hendrik





















[ düster | poetisch | verwegen ]

Das große Postpunk-Revival des letzten Jahrzehnts brauchte nicht lange, um auch im deutschsprachigen Raum überall seine Spuren zu hinterlassen und eine ganze Welle neuer Bands über die Szenelandschaft zu spülen. Am dominantesten geschah das sicherlich in Form der Stuttgarter Zelle um die Nerven, Karies und Human Abfall, doch auch überall sonst schossen diverse gute und weniger gute Bands aus dem Boden: Van Holzen in Ulm, Baical in Halle und Leipzig, Friends of Gas in München, Plattenbau und Vordemfall in Berlin. Mit Max Gruber und Drangsal fand die Renaissance letztlich sogar ihren Weg in den Mainstream und auf die Festival-Lineups der letzten Sommer. Stilistisch war dabei in den meisten Fällen aber wenig zu holen. Der allgegenwärtige Fluchtpunkt, der den englischsprachigen Kolleg*innen Joy Divisions Unknown Pleasures war, war für die deutsche Szene Monarchie & Alltag von den Fehlfarben, wirkliche Originalität fand selten statt. Auch Messer aus Münster sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme, der Sound ihrer bisher drei Alben trägt dasselbe Patchouli der poetischen Düsternis und verwegenen Melancholie, das die (meistens recht peinlichen) ersten Gehversuche des Goth auf deutschem Boden so schön romantisch verklärt. Wenn es darum geht, was hier neues zum Selbstverständnis des Postpunk beigetragen wurde, sind Messer mit ihren kryptischen Texten und ihrem klanglichen Abziehbild von Achtziger-New Wave eher keine Hilfe. Wenn man allerdings davon spricht, welche Band die Kür mit der besten Formnote absolviert hat, stehen die Münsteraner für mich ganz vorne mit dabei. Insbesondere ihr zweites Album Die Unsichtbaren von 2013 ist ein absolutes Lehrbuchbeispiel für perfekt abgestimmten Revivalismus und von der ganzen stilistischen Einordung mal losgelöst betrachtet einfach ein richtig gutes Stück Musik. Das liegt zum einen ganz klar an der kompositorischen Finesse, mit der Messer hier arbeiten: Starke Hooks, starke Riffs, dezente aber klar definierte Schlagzeugparts und vor allem ein perfekt in Position gemixter Bass. Man merkt deutlich, dass die Songs hier nicht die aufgekratzten Schnellschüsse sind, die man lange von vielen Stuttgarter Bands hörte, sondern ausgeklügelte Rocksongs, die mitunter, wie bei Neonlicht, sogar mächtige Ohrwürmer sind. Wenn es darum geht, was dieses Album wirklich besonders macht, lautet die einzig gültige Antwort aber Hendrik Otremba. Der Sänger, Texter und Charakterkopf von Messer ist in fast allen Belangen die ästhetische Triebfeder dieser Platte und ganz nebenbei eine der wenigen wirklich faszinierenden Figuren im neuen deutschen Postpunk. Er ist nicht nur Musiker, sondern auch Maler (von ihm stammt das Artwork von Die Unsichtbaren), sowie Publizist und Schriftsteller. 2016 veröffentlichte er parallel zum dritten Messer-Album Jalousie seinen Debütroman Über uns der Schaum. Wo er dabei aber mehr und mehr die Attitüde eines blasierten Bohèmiens an den Tag legte und mir einige Ideen auf der letzten LP damals doch zu kalkuliert kunstig waren, steht er hier noch auf dem Sprungbrett zum pretenziösen. Die Stücke sind poetisch und durchweg sehr abstrakt und mystisch, aber eben nicht völlig schräg. In ihrer vagen, mit Begriffen jonglierenden Art und Weise erinnern sie mich an die Lyrik von Negroman, nur in weniger schlurfig und dafür ziemlich kafkaesk und romantisch. Worum es geht, kann man dabei bestenfalls erahnen, doch Otremba hat hier eine sprachliche Eleganz, die dieses Album sehr eigen macht. Für Inhaltsfanatische ist das dann logischerweise eher nichts, man muss das schon irgendwie mögen. Für mich persönlich ist es aber genau diese Ästhetik, die Die Unsichtbaren neben Fun von den Nerven zu einer der wenigen Platten macht, die im Zuge des deutschen Postpunk-Revivals einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben und die ich immer noch mit der gleichen Euphorie höre wie vor sechs Jahren. Insofern muss ich dann auch definitiv sagen, dass diese LP in meinen Augen ziemlich unterschätzt ist, wird sie doch im Gegensatz zu den Alben der Stuttgarter Zelle oder Drangsal noch immer unter Ferner liefen gehandelt. Sicher, Messer haben weder etwas neu erfunden noch irgendjemandem in die Seele geleuchtet, sie haben einfach nur ein sehr gutes Stück Musik aufgenommen. Von denen es aber so viele aus dieser musikalischen Nische gar nicht gibt.

Klingt ein bisschen wie:
Die Art
Das Schiff

Dvrchnvll
Treibhaus EP

Persönliche Höhepunkte: Angeschossen | Die kapieren nicht | Tollwut (Mit Schaum vorm Mund) | Staub | Neonlicht | Das Versteck der Muräne | Es gibt etwas | Platzpatronen | Süßer Tee

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