Sonntag, 14. Juli 2019

You're Special






























[ mystisch | akustisch | simpel | magisch ]

Die Geschichte der Popmusik ist durchsetzt mit Künstler*innen, die die Parameter dessen, was kreativ und technisch möglich ist, immer wieder aufgebrochen haben. Die sich mit neuen Methoden auseinandersetzten, experimentierten, Risiken eingingen oder auch einfach nur rotzfrech waren. Diesen Leuten gehören die Plätze in den Geschichtsbüchern und auf jeden Fall mit Recht. Doch gibt es auch eine ganz andere Gattung, die ihrerseits gerne den Ruf als größte Musiker*innen aller Zeiten genießt und sich seit Anbeginn des Pop nicht vertreiben lässt: Leute, die es mit nicht mehr als einer Gitarre (wahlweise einem Klavier oder ähnlichem) schaffen, gigantische Songs zu schreiben. Die Robert Johnsons, Bob Dylans, Joni Mitchells, John Frusciantes, Justin Vernons und Elliott Smithses dieser Erde, die seit Menschengedenken auch durch die innovativste Studiotechnik und die schrägsten Szene-Bewegungen nicht totzukriegen sind und auch in den nächsten hundert Jahren nicht scheiße werden. Die New Yorker Songwriterin Adrianne Lenker ist seit letztem Oktober eine von ihnen. Die hauptberuflich als Sängerin von Big Thief arbeitende Endzwanzigerin hat zwar noch keine so umfangreiche Diskografie und die Platte, über die ich hier sprechen werde, ist gerade Mal acht Monate alt, doch ich wusste ehrlich gesagt schon beim ersten Hören sehr genau, womit ich es hier zu tun habe. Die 33 Minuten von Abysskiss sind Magie, und zwar ohne jede Trickserei. Und mit jedem Mal, das dieses Album seit seinem Erscheinen bei mir lief (und das war nicht selten) hat sich diese Gewissheit zementiert. Adrianne Lenker macht große Kunst, oder kann es zumindest, wenn sie will. Es brauchte zumindest erst diese LP, um ihr ganzes Potenzial zu entfalten. Bereits vorher, auf den bis dahin zwei Platten mit Big Thief sowie einigen Solosachen, schimmerte das große Talent durch, das diese Frau für elfenhafte, intime Gitarrensongs hatte, doch kam es nie ganz zur Geltung. Lenker hatte den nötigen Charaker und die kompositorischen Chops, doch noch nicht das Durchsetzungsvermögen und die Melodien. Auf Abysskiss entwickelt sie das alles aus dem Stand und zeigt ihre musikalische Persönlichkeit in voller Schönheit. Für so minimalistischen Akustikpop, wie sie ihn spielt, ist diese das A und O. Zum ersten Mal in ihrer Karriere hat man hier so etwas wie einen Wiedererkennungswert, der ihre Songs deutlich abgrenzt. Sicher, ansatzweise erinnert mich vieles auf diesem Album auch an Kolleginnen wie Emíliana Torrini oder Jessica Pratt, beides Songwriterinnen mit ähnlichem Sound, doch ich kann einen Lenker inzwischen deutlich von anderen Stilen unterscheiden. Die zierlichen Lautmalereien, die naive und doch klare Vokalisation, die folkigen Ansätze im sonst sehr Loop-haften Gitarrenspiel: das alles sind nuancierte Eigenarten der New Yorkerin, die diese zehn Tracks unglaublich speziell machen. Was hier als großes Plus noch hinzukommt, ist die unglaublich detaillierte Produktion von niemand geringerem als Luke Temple (ebenfalls ein Songwriter, für den ich in Zukunft noch große Hoffnungen habe), der hier viel Schönheit aus eben jenen Nuancen herausholt. Viele Leute hätten Lenkers Aufnahmen als intimes Rohmaterial stehenlassen, das durch seine ungeschönte Emotionalität überzeugt, Temple hingegen macht daraus ein Kopfhörer-Album. Nicht nur klingt jede Note hier unglaublich klar und sorgsam aufgenommen, an vielen Stellen verstecken die beiden auch musikalische Easter Eggs, die man erst mit richtigem Equipment und Format wirklich hören kann. Elemente wie der Drumcomputer in Symbol oder die zweite Gitarre in Blue and Red Horses sind Sachen, für die sich die meisten Künstler*innen überhaupt nicht die Mühe geben würden, doch wenn man sie hier einmal hört, machen sie den Gesamteindruck um ein Vielfaches schöner. Bis heute entdecke ich an verschiedenen Stellen Details, die ich vorher noch nicht gehört hatte und jedes Mal runden diese die Songs noch ein bisschen weiter ab. Es wäre allerdings auch nicht groß anders gewesen, hätte ich diese audiophilen Extras nie entdeckt und Abysskiss konsequent auf Handylautsprechern gehört. Diese Platte ist so oder so genial. Sie ist ein Kleinod akustischer Folkmusik und für Adrianne Lenker ab jetzt eine Messlatte, die sie vielleicht nicht so schnell wieder erreicht. Einige der hier erstmals veröffentlichten Titel landeten im April diesen Jahres als neue Aufnahmen auch auf der aktuellen LP von Big Thief, waren dort aber nicht ansatzweise so gut wie hier. Das zeigte mir einmal mehr, dass Adrianne Lenker diese Musik nicht einfach so auf Abruf macht, sondern Abysskiss ein ziemlicher Sechser im Lotto ist. Ein besonderes Album in jeder Hinsicht, das für mich etwas bedeutet. Weshalb es auch keine Frage ist, dass ich es nach nur acht Monaten als "Schönheit der Dekade" anführe. Obwohl es hoffentlich nicht die letzte bleibt.

Klingt ein bisschen wie:
Jessica Pratt
Quiet Signs

Emíliana Torrini
the Fishermans Wife

Persönliche Höhepunkte: Terminal Paradise | From | Womb | Cradle | Symbol | Abyss Kiss | What Can You Say | 10 Miles

1000kilosonar bei Twitter

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