Freitag, 5. Juli 2019

Vorstadtkinder





















[ nostalgisch | rockig | konzeptuell ]

Stand 2019 ist es ziemlich realistisch, dass Arcade Fire in näherer Zukunft erstmal nicht mehr das künstlerische Niveau erreichen werden, das sie zuletzt 2010 auf the Suburbs hatten. Ihre letzten beiden Platten waren schon okay, aber man erkannte hier eben nicht mehr die Band, die die zweite Hälfte der Zwotausender mit ihrem unkonventionellen Sound quasi komplett umgekrämpelt hatte und innerhalb der Pitchfork-Bubble zeitweise einen fast royalen Status genoss. Die Band, die 2011 eine riesige Euphorie auslöste, weil sie als erste Indieband den Grammy für das beste Album des Jahres bekam (man dachte damals, jetzt würde sich alles ändern 😆) und zusammen mit Guns'n'Roses und Blink-182 Headliner bei Reading und Leeds war. Wenn ich jetzt an diese Phase denke, erscheint es mir manchmal ein bisschen albern, wie omnipräsent und aufgeplustert Arcade Fire damals waren. Auf der anderen Seite war das alles auch gerechtfertigt, denn the Suburbs ist in meinen Augen ohne jeden Zweifel der überragende Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere. Es gibt Leute, die diesen Titel nach wie vor dem völlig überbewerteten Debüt Funeral zusprechen, aber die wollen eigentlich nur bei den Coolen dazugehören. Diese LP ist besser, weil die KanadierInnen hier musikalisch ausgewachsen sind, aber noch nicht zu überheblich für ihre eigene Musik. Weil sie hier ein Gesamtkunstwerk erschaffen, aber auch nicht gleich eine Oper. Weil sie sich hier an neuen, ungewöhnlichen Stilen ausprobieren, aber sich nicht daran festklammern. Vor allem aber, weil sie hier im wesentlichen Musik für sich selbst machen. The Suburbs ist ein Album über Nostalgie, über Jugend, über Isolation und Freundschaft, in dem Win Butler und Régine Chassange viele eigene Erfahrungen einbinden, was man auch definitiv merkt: Die Musik ist ist eine individuelle Adaption einer Idee von Achtziger-Rock, mit vielen Einflüssen von Bruce Springsteen, Tom Petty, Patti Smith und natürlich den Talking Heads und die Texte, erfahrungsgemäß immer die größte Baustelle von Arcade Fire, sind in diesem Fall wirklich anregend und auf gewisse Weise poetisch. Was the Suburbs aber wirklich besonders macht ist nicht, dass einzelne Songs besser geschrieben wurden, sondern dass dieses Album so wunderbar als Einheit funktioniert. Dass die Band sich ausgiebig Gedanken über die Anordnung dieser LP gemacht hat, wird schon an Äußerlichkeiten klar, zum Beispiel dass der Titelsong als eine Art Leitmotiv die gesamte Platte rahmt, es insgesamt zwei mehrteilige Tracks gibt und bestimmte lyrische Bausteine an diversen Stellen über die gesamte Spielzeit wieder auftauchen. Alleine das sind Sachen, die extrem aufwändig sind und auf die die meisten Musiker*innen von vornherein verzichten, Arcade Fire fangen aber da erst an. Dieses Album beherrscht in meinen Augen den optimalen Fluss von Stimmungen, der die Emotionalität der Songs unmittelbar trägt und der hier und da auch ein paar tolle Linke Haken parat hat. Angefangen beim Titeltrack, der die Hörenden wie das Intro einer Fernsehserie abholt und am Ende als orchestrales Thema wiederkommt, über den rockigen Opener Ready to Start, der dem ersten Drittel der LP ordentlich Anschub gibt bis zu Tracks wie Month of May oder Sprawl II (Mountains Beyond Mountains), die dem Geschehen eine komplett neue Richtung geben. Stilistisch könnte man dabei sagen, dass the Suburbs das "rockige" Album von Arcade Fire ist oder der Übergang zwischen ihren folkigen Anfängen und den komischen Disco-Sachen, die sie inzwischen machen. Diese Platte lediglich als künstlerisches Scharnier zu begreifen, wird der Sache aber nicht im geringsten gerecht. Diese LP ist ein extrem ausgefuchstes und konzeptuell wunderschönes Gesamtkunstwerk, mit dem die KanadierInnen sich selbst übertreffen. In meinen Augen das erste und das letzte Mal.

Klingt ein bisschen wie: 
Patti Smith
Horses

Coldplay
Viva La Vida or Death and All His Friends

Persönliche Höhepunkte: the Suburbs | Ready to Start | Modern Man | Rococo | Empty Room | City With No Children | Suburban War | Month of May | We Used to Wait | Sprawl I (Flatland) | Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)

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