Dienstag, 9. Juli 2019

Was wollen die Hippies?





















[ retroprogressiv | hippiesk | esoterisch | ostalgisch ]

Man braucht definitiv Zeit, um Fan einer so speziellen und ungewöhnlichen Band wie Polis zu werden. So gut wie alle, die ich heute als glühende Verehrer*innen des Plauener Quartetts kenne, haben als große Skeptiker*innen selbiger angefangen und auch ich selbst war lange nicht so sicher, ob das alles so wirklich so super finde. Man muss erstmal klarkommen mit Rockmusik, zu allem Überfluss auch noch mit deutschsprachiger, der absolut jede ironische Coolness abgeht, die so direkt auf schwulstigen Kitsch abzielt und die eine so unverbrauchte Eso-Hippie-Attitüde verbreitet wie diese hier. Die Ehrlichkeit dieser Gruppe aus dem sächsischen Hinterland ist in so vielen Weisen so verstörend und befremdlich, dass man sich manchmal echt fragt, ob diese Leute einen an der Waffel haben. Zumindest bis man feststellt, dass man selbst eigentlich der Idiot ist, weil man sich für zu cool für diese Sachen hält. Die Geschichte von Polis und mir ist letztendlich die einer klassischen Ironiespirale. Als ich Sein das erste Mal hörte, fand ich das Album aufgrund der selben Sachen scheiße, wegen derer ich es heute liebe: Den viel zu schmusigen Psychrock, die proggigen Orgelsounds, die minutenlangen Soli und vor allem die pathetischen Bombast-Texte mit dem Swag eines Jugendgottesdienstes. Auch dass die Plauener sich ganz unverschämt am Ostrock-Sound der späten Siebziger bedienen war 2014, als Amiga-Parties und Manne-Krug-Vinyl-Boxsets noch nicht so en vogue waren wie jetzt, eine ziemlich seltsame Sache. Polis nannten ihre Lieder Kraft durch Liebe oder Blumenkraft, verfassten Lyrics irgendwo zwischen Heinrich Heine und Jan Plewka und entkräfteten jeglichen Stereotyp mypermaskuliner Psychrocker, die ich zu jenem Zeitpunkt hatte. Weil ihre Songs aber klasse produziert und sehr eingängig waren, brauchte ich nicht lange, um vom Hater zum ironischen Fan und schlussendlich zum ehrlichen Genießer ihrer Musik zu werden. Stand 2019 bin ich der festen Überzeugung, dass die Plauener eine sträflich unterschätzte Rockband sind, die schon lange mehr als nur ein regionales Phänomen sein sollte. Denn eins steht fest: Niemand sonst traut sich im Moment, Songs wie diese zu veröffentlichen. Man muss einen gewissen stilistischen Autismus dafür haben, den man eben nicht hat, wenn man unglaublich cool sein will. Es gibt zahlreiche Gruppen wie Odd Couple oder Klaus Johann Grobe, die sich mit fünf zwinkernden Hühneraugen an das schwierige Erbe des deutschen Hippierocks machen, aber nur Polis machen dabei wirklich Ernst. Sie sind sich nicht zu edgy für schwulstige Songs über Umweltschutz oder Zeilen wie "Es tanzen die Gestirne / Gott Mutter Vater singt ein Lied". Dass das hier kein Spaß ist, zeigt sich auch daran, wie unglaublich viel Mühe und Leidenschaft hier in Komposition und Produktion geflossen ist. Ohne viel Kohle und Label-Backing machen die vier Musiker hier eine Platte, die sich mit den legendären Helman-Federowski-Masters tatsächlich messen kann und haben in 10000 Jahre sogar einen Kinderchor am Start. In Sachen DIY ist Sein eines der großartigsten Projekte, die ich in den letzten zehn Jahren hören durfte und dass Polis bis heute auf Blödsinn wie Spotify und iTunes verzichten, zeigt echte Hingabe zum Untergrund. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass sie dort bleiben, denn ein bisschen habe ich das Gefühl, dass dieser einzigartige Sound auch irgendwie das Produkt einer relativen Isolation ist. Und überhaupt: das beste von ihnen kommt vielleicht noch. 2018 haben die Plauener ihr drittes Album aufgenommen und erste Tracks davon online und bei Konzerten angeteasert, irgendwann dieses Jahr könnte also der Nachfolger zu Sein erscheinen. Inzwischen bin ich auch definitiv Fan genug um zu sagen: Es wird Zeit.

Klingt ein bisschen wie:
Die Puhdys
Puhdys I

Selig
Magma

Persönliche Höhepunkte: Sein I | Flüstern | Zwei Frauen und ein Mann | Blumenkraft | Danke | Kraft durch Liebe | 10000 Jahre | Sein II

1000kilosonar bei Twitter

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