Mittwoch, 31. Juli 2019

Ein gutes Ende





















[ düster | atmosphärisch | poppig ]

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann wäre es für Sigur Rós mittlerweile die beste Maßnahme, sich einfach aufzulösen. Was 2019 noch von den einstigen Revolutionären isländischer Popmusik übrig geblieben ist, ist nicht mehr als die Ruine einer Band, die höchstens noch als bleiches Abbild ihrer selbst taugt.  Nachdem bereits 2012 Pianist Kjartan Sveinsson als wesentlicher Motor der kompositorischen Kraft die Gruppe verließ und 2018 nach Missbrauchsvorwürfen auch noch Orri Páll Dýrason das Handtuch warf, sind Sigur Rós nicht nur personell um die Hälfte dezimiert, sondern auch um einen bedenklichen Skandal reicher, der am Erbe ihrer Musik nagt. Und die beiden verbleibenden Mitglieder Georg Hólm und Jónsi Birgisson tun bereits seit Jahren gut daran, zahlreiche Nebenprojekte aufzubauen. Dass im Zuge des zwanzigjährigen Jubiläums von Ágætis Byrjun in dieser Saison keine neue Tour stattfand und PR-technisch auch wenig von den Musikern selbst zu hören war, sagt einiges über den desolaten Zustand der Formation aus. Sigur Rós sind zum aktuellen Zeitpunkt eine gebrochene Band. Das wirklich frustrierende an der ganzen Sache ist aber, dass ihr Problem dabei zu keinem Zeitpunkt die Musik war. Obwohl es schon seit einer ganzen Weile bergab geht, zeigten die Isländer nie die typischen Symptome kreativ ausgebrannter Erfolgsacts, die nur noch ihren früheren Highlights hinterherrennen. Die zwei Alben, die es in den letzten zehn Jahren von ihnen gab sind in meinen Augen beide richtig stark und zeigen eine überaus energische Band, der es nach wie vor wichtig ist, künstlerisch am Ball zu bleiben. Und wo Valtari von 2012 dies durchaus konservativ angeht, ist ihre zum jetzigen Zeitpunkt (und vielleicht auf ewig) letzte LP Kveikur noch einmal ein großer Aha-Moment ihrer Diskografie, der ihre Musik von einer völlig neuen Seite zeigte. Und das nicht nur im Kontext ihres damaligen Outputs. 2013 war diese Platte besonders, weil es klang wie ein Neuanfang. Viele Fans waren ein zuvor ziemlich angepisst über Valtari, das drei Jahre nach dem ästhetischen Befreiungsschlag Med Sud í Eyrum Vid Spilum Endalaust wieder mit einem sehr entschlackten Ambient-Sound um die Ecke kam. Kveikur war daraufhin der linke Haken, der zeigte, dass Sigur Rós durchaus bereit waren, auch weiter in unbekanntes Territorium vorzudringen. Und in vielerlei Hinsicht war es dabei auch radikaler als alles zuvor. Schon als im damaligen Frühjahr die Leadsingle Brennisteinn erschien, weiteten sich die Pupillen der Angängendenschaft: Die ewigen Leisetreter und Botschafter der nordischen Niedlichkeit enthüllten hier einen lupenreinen Noise-Track, der für die Verhältnisse der Band extrem düster war. Effekt-Gewitter, Geigenbogen-Kaskaden und eine höllische Performance von Dýrason am Schlagzeug machten diesen Song zum Gesprächsthema der musikalischen Debatten und rückten die Isländer wieder ins Interesse der Fans. Man erwartete mit Kveikur nun das finstere Brachial-Album, das Sigur Rós ein grantiges Dark Knight-Lifting verpassen würde. Und hätte sich die Band damit begnügt, ich hätte es ihnen sicher nicht übel genommen. Doch ist diese LP zum Glück noch so viel mehr als das. Klar waren es zu Anfang die brutalen Stücke wie Brennisteinn und der Titeltrack, die vor allem meine Aufmerksamkeit auf sich zogen und die bis heute absolute Favoriten von mir sind. Hinter der krachigen Fassade zeigen Sigur Rós hier aber auch eine ganz neue Sensibilität für Pop und Melodik, mit der sie ebenfalls Abstand zu ihrer bisherigen Diskografie nehmen. Tracks wie Ísjaki, Rafstraumur oder Stormur gehen unglaublich nach vorne und trauen sich eine sehr polierte, fast coldplayige Bombast-Ästhetik, für die die Band bis dahin eigentlich zu cool war. Ein Hauch von Stadionrock weht über Kveikur, und als die Isländer ich vor zwei Jahren tatsächlich mal live sah, waren es auch jene Songs, die am wirkungsvollsten abrissen. Wenn man eines über diese LP sagen kann, dann dass Sigur Rós hier einen ganzen Haufen ihrer distinguierten Neoklassik-Elemente (für die vor allem der frisch ausgestiegene Kjartan Sveinsson verantwortlich war) über Bord werfen, um ein bisschen fetter und losgelöster zu klingen. Vieles hier ist nicht ansatzweise so filigran und würdevoll wie die Stücke auf Takk oder Valtari, aber es ballert dafür mehr. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich das sehr gut finde. Es ist nicht unbedingt besser als die alten Sachen, aber definitiv auf seine ebenbürtig und tatsächlich mal eine willkommene Veränderung für Sigur Rós, die sich im Gegensatz zu Med Sud í Eyrum auch durch den Sound der gesamten LP zieht. Weshalb ich es schade finde, dass Kveikur bei vielen Fans keine besonders lange Halbwertszeit hatte. Als die Platte im Sommer 2013 erschien, bekam sie überwiegend gute Resonanz, für viele zählte aber nur die unmittelbare Schockwirkung, die einzelne Songs hatten und die sich nach zwei, drei Hördurchläufen verflüchtigte. Schon zum Ende des Jahres redete kaum noch jemand darüber und im Kontext der Diskografie von Sigur Rós wird sie eher selten erwähnt. Dabei finde ich persönlich, dass Kveikur definitiv zu den stärksten Platten gehört, die die Isländer bis heute veröffentlicht haben. Was in Anbetracht dessen, dass es von dieser Band fast ausschließlich extrem starke Platten gibt, einiges aussagt. Und es wäre definitiv keine Schmach, würde die Ära Sigur Rós mit einem Paukenschlag wie diesem enden. Auf jeden Fall wäre mir das lieber als ein halbfertiges Alibi-Projekt von Jónsi und Georg, das das Äquivalent einer künstlichen Beatmung dieser Gruppe wäre. Man soll aufhören, wenns am schönsten ist. Wobei dieser Punkt auch schon weit überschritten ist.


Klingt ein bisschen wie:
Other Lives
Rituals

William Ryan Fritch
Leave Me Like You Found Me

Persönliche Höhepunkte: Brennisteinn | Hrafntinna | Ísjaki | Yfirborð | Stormur | Kveikur | Rafstraumur | Bláþráður | Var

1000kilosonar bei Twitter

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