Mittwoch, 4. Januar 2017

Wie Ameisen unter der Lupe

Gerade noch hatte ich über Brian Enos letztes Album the Ship im Rahmen meiner dreißig besten Platten von 2016 geschrieben, da steht shon wieder ein neues Projekt des legendären Ambient-Schöpfers an, mit dem er nicht nur nach gerade mal sieben Monaten neues Material nachfeuert, sondern auch den ersten richtig genialen Longplayer der Saison 2017. Es besteht mittlerweile absolut kein Zweifel mehr daran: Mit knapp 70 Jahren befindet sich der Brite gerade auf einem erneuten Karriere-Hoch. Zwar ist dieses von außen betrachtet eher quantitativ geprägt und die meisten seiner letzten Platten polarisierten doch ziemlich, ich allerdings bin gerade durch diese letzte Phase erst so richtig zum Eno-Fan geworden und finde es beeindruckend, wie seine letzten Alben es hinbekamen, gleichzeitig Rückbezüge auf frühere Werke herzustellen und für seine Verhältnisse doch wahnsinnig innovativ zu sein. Was die Innovation angeht, so war der Vorgänger the Ship sicherlich der mutigste Schritt seit langem und ich hatte gehofft, auf Reflection noch ein bisschen mehr davon zu hören, vor allem was das für seine Musik ein Novum darstellende Element Gesang angeht. Aber ich hätte es eigentlich auch besser wissen können. Natürlich kommt der Tausendsassa des experimentellen Pop hier wieder mit einer völlig anderen Facette seines Sounds auf uns zu, die auf den ersten Blick wesentlich konservativer ausfällt als beim letzten Mal. Statt einer programmatischen Werkschau über Stilgrenzen hinweg erleben wir hier "nur" ein fast einstündiges Klangkonstrukt sehr sphärischer Natur, das uns vielleicht von Platten wie Thursday Afternoon bekannt vorkommt. Böse Zungen würden sogar sagen, es wäre bloße Klangtapete. In seinen insgesamt 54 Minuten finden Dynamiken und kompositorische Progression nur unter der Lupe statt und scheinbar hat dieses riesige Musikstück nirgendwo einen richtigen Anker. Doch ich finde, wenn ein Track, besonders ein so umfangreicher, bei all diesen rein theoretischen Kritikpunkten trotzdem noch geil ist, dann erst wurde Ambient gut und richtig gemacht. Die Faszination bei Reflection kommt aus dem organischen Vibe, in den Eno den Song verwurzelt und aus den massigen, cleveren Details, die er wie bunte Streusel über den ganzen Kuchen verteilt. Die kleinen synthetischen Glöckchen, die immer wieder winzige Akzente setzen oder niedliche Einspielungen von Pfeifen und Zwitschern, über deren Herkunft man nur spekulieren kann. Das alles ist so unglaublich filigran eingefädelt, dass man ob der Vielschichtigkeit eines solchen Projektes ins Staunen kommt. Zumal die klanglichen Bestandteile in Minute eins nicht groß anders sind als ganz am Ende des Albums. Es fühlt sich an, als würde man dabei zusehen, wie hunderte Ameisen über eine Wiese krabbeln. Man kann die einzelnen Grashalme und die Tiere nicht voneinander unterscheiden und es fällt schwer, die vielen stattfindenden Bewegungen nachzuvollziehen, doch man weiß genau, dass hier gerade Leben stattfindet. Das alles kennen wir schon von Brian Eno und die Tatsache, dass man es auch vierzig Jahre später nicht so richtig erklären kann, sagt einiges über die Arbeit dieses Künstlers aus. Tatsache ist, dass es immer noch richtig gut funktioniert. Reflection ist zwar keine riskante und vorausblickende Platte wie the Ship, aber nichtsdestotrotz noch immer eine Lehrbuch-Performance in Sachen elektronischer Ambient. Und es wäre quatsch, deshalb spitzfindig zu werden.


Persönliche Highlights / Nicht mein Fall: erübrigt sich, wa?

CWTE auf Facebook

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen