Donnerstag, 14. Mai 2020

Rettet die Wale

[ minimalistisch | tiefgreifend | monolithisch ]

In der seit nun fast schon eine halbe Dekade andauernden Abwärtspirale, in der Sigur Rós sich als Band gerade befinden, ist es eines der wenigen tröstlichen Dinge, seit etwa einem Jahr zu hören, wie wenigstens Sänger Jónsi so richtig seinen Spaß hat. Von den beiden verbliebenen Mitgliedern des Quartetts aus Reykjavík ist er seit einer ganzen Weile zumindest derjenige, der das beste aus der nicht enden wollenden Schockstarre der Isländer zu machen scheint. Nach ihrem letzten gemeinsamen Album Kveikur von 2013 hielt auch er zwar lange still, doch gerade in den vergangenen Monaten geht es bei ihm Schlag auf Schlag: Ein neues Soloalbum ist angeblich schon eine Weile in Arbeit, von dem erstes Material bereits zu bestaunen ist und auch mit seinem alten Sparringpartner Alex Somers, mit dem er 2009 die LP Riceboy Sleeps aufnahm, soll er wieder im Studio sein. Und ganz nebenbei veröffentlicht er gerade zusammen mit Carl Michael von Hauswolff, mit dem er vor zwei Jahren sein neuestes Bandprojekt Dark Morph gründete, bereits die zweite Platte innerhalb der letzten zwölf Monate. Es wird dabei nicht verwundern, dass Jónsi, wie schon bei Sigur Rós und später auch in seinen ersten Solo-Ausflügen, auch weiterhin seine Bestimmung im experimentellen Ambient-Bereich sucht. Und wenige Alben aus seiner Diskografie gehen dabei diesen Weg mit solcher Tiefe und Entschlossenheit wie die vorliegende LP. Zunächst mag das vielleicht verwundern, denn die erste Dark Morph-Platte vom letzten Sommer las sich eigentlich wie Jónsis klangliche Emanzipation von der ewigen Leisetreterei, immerhin bezogen er und Hauswolff dort auch großzügig Elemente aus Industrial und Noisemusik mit ein. Doch war das anscheinend nur eine Phase, denn rein ästhetisch schwappen sie hier ins komplette Gegenteil über. Und zwar so richtig. Denn Dark Morph II ist, wenn man es aufs wesentlichste herunterbricht, ein Album voll mit Walgesängen. Auf ähnliche Art und Weise wie Ende der Neunziger haufenweise Umweltprojekte CD-Sampler verschiedener Walarten als neuartige esoterische Entspannungs-Soundtracks verkaufen wollten, die man heute auf den Grabbeltischen der Plattenläden findet, sind hier auch diese beiden Musiker unterwegs. Auch sie arbeiten im wesentlichen auf Basis von Field Recordings, auch ihr Ansatz klingt im allgemeinen ziemlich relaxt und auch sie tun das alles vor allem, um auf die zunehmende Bedrohung des Ökosystems Meer hinzuweisen. Weil sie aber ernstzunehmende Künstler sind, muss es bei ihnen nach mehr aussehen. So entstanden die Rohversionen der drei hier veröffentlichten Tracks in einem mobilen Klanglabor im Südpazifik, wurden 2019 auf der Biennale in Venedig vorgestellt und dienen jetzt zum Teil als Score für eine Installation des dänischen Kollektivs Superflex. Zusätzlich dazu gibt es das ganze hier natürlich nicht nur auf einer läppischen Sampler-CD, sondern auf einer piekfeinen 12-Inch-Vinyl für umgerechnet gut 18 Euro. Und ich würde an dieser Stelle gerne sagen, wie scheinheilig und pretenziös das alles ist, doch muss ich ehrlich gestehen, dass mich diese Platte zu großen Teilen tatsächlich begeistert. Dabei machen Hauswolff und Jónsi hier eigentlich nur wenig, um sich künstlerisch von einer rein dokumentarischen Arbeit abzuheben. Vom offensichtlichen Mittelstück the Humpback Whale Choir mal abgesehen, das in ganz klassischer Manier Walgesänge präsentiert, geht vieles hier vor allem in den klanglichen Mikrokosmos. Auf Dark Wave, das sogar so etwas wie einen Rhythmus vorweisen kann, arbeiten die beiden (wenn ich das richtig mitbekommen habe) im wesentlichen mit den immens verstärkten Klängen, die durch die Bewegung verschiedener Fischarten (Ja, auch Wale) verursacht wurden und das eröffnende, 20-minütige Kernstück Dive-In ist im wesentlichen ein weiterer Drone stark auditiv bearbeiteten Meeresgeräuschen. An sich nichts besonderes, zumindest nicht in der klanglich verspielten Welt des modernen Elektronica, in der es Bands wie Matmos und den ganzen Genre-Kosmos der Lowercase Music gibt. Allerdings muss ich den beiden auch zugestehen, dass ihr Ansatz hier funktioniert. Die ausschweifenden, dronigen Stücke haben in ihrer kolossalen Monotonie einen unglaublichen Detailreichtum und sind extrem orgenisch und lebendig. Noch dazu kommt, dass sie großartig produziert sind und man mit den richtigen Kopfhörern tatsächlich eine immense klangliche Tiefe in diesen Songs findet. Klar ist das am Ende nicht Dua Lipa, aber es hat etwas, das mich dazu bringt, mir 20 Minuten lang prinzipiell ein und dasselbe Geräusch anzuhören und dann noch jeweils zehn Minuten ein anderes, ohne dass mir dabei langweilig wird. Und wenn das das Resultat ist, kann ich nicht sagen, hier ein ödes Album gehört zu haben. Von handwerklicher Seite ist es sogar noch beeindruckender, denn gute Songs mit Pop-Vokabular zu machen, ist verhältnismäßig leicht. Einen Haufen willkürlicher Unterwassergeräusche mit nichts mehr als den Mitteln der Postproduktion zu so einem spektakulären Erlebnis zu machen, ist eine ganz andere Nummer. Weshalb ich vor Jónsi, Hauswolff und dem Team hinter Dark Morph einen Mordsrespekt habe. Dieses Album ist dabei auf die gleiche Weise faszinierend wie letztes Jahr I von Föllakzoid, und das war fast die beste Platte der Saison. Dark Morph II ist das, aber mit noch krasserer Distanz zum gängigen musikalischen Gewohnheitsradius von so ziemlich jeder Person. Das heißt theoretisch sogar noch ein bisschen beeindruckender. Und wenn es sich mit Projekten in einen Raum setzt, die sich für den Umweltschutz engagieren, ist es so oder so unterstützenswert. Also kann ich nur dazu anhalten, diesem Album eine Chance zu geben, auch wenn es sicherlich nicht allen von euch so gefällt wir mir. Es ist die Mühe durchaus wert.



Hat was von
Föllakzoid
I

Brian Eno
Reflection

Persönliche Höhepunkte
Dive-In | the Humpback Whale Choir | Dark Waves

Nicht mein Fall
-



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