Mittwoch, 13. Mai 2020

Glow-Up 2020

[ erwachsen | verhalten | geheilt ]

Es gibt im Universum sicherlich irgendwo einen nicht allzu weit entfernten Zeitstrang, in dem die Hayley Williams von heute ein Popstar ist. Und auch in dem, in dem wir uns befinden, war sie zumindest eine Weile lang kurz davor. Als Sängerin von Paramore hatte sie mit ihrer Band zu Ende der Zwotausender immerhin ein ziemlich gutes Ausgangs-Standing, war sie mit ihnen doch sowas wie der offizielle musikalische Partner zur sündhaft erfolgreichen Twilight-Saga und hatte solo gemeinsam mit B.o.B. sogar einen echten Radiohit namens Airplanes. Und hätte sie schon damals die Gelegenheit gepackt und das mit der Solokarriere ernst gemeint, wäre aus ihr vielleicht die neue Gwen Stefani geworden. Doch blieb sie stattdessen erstmal weiter bei Paramore und versauerte dort zunächst, weil mit Ende der Zwotausender plötzlich niemand mehr den pretenziösen Emorock dieser Band hören wollte. Es brauchte erst eine lange Pause, einen Wechsel zurück in die Indiebranche und das klanglichen Rebranding auf After Laughter von 2017, um den Laden wieder auf die Spur zu bringen und dabei eine völlig neue Zielgruppe anzusprechen. Und auch auf Williams als eigenständige Musikerin hatte das einen gravierenden Einfluss. Stand 2020 ist sie eher ein von der jungen Blogosphere gefeierter Indiedarling eine als klassische Popmusikerin und als solche die um Welten erwachsenere Version ihrer selbst vor zehn Jahren. Dass sie als diese gewachsene Persönlichkeit nun endlich auch ihr Solodebüt an den Start bringt, hat deshalb gleich eine ganz andere Energie als damals und ist von Null auf wesentlich ambitionierter. Statt pseudo-tragischen Teenie-Emorock zu spielen, ist sie mittlerweile eine der vertrauenswürdigsten Stimmen im tatsächlichen Aufarbeiten von Depressionen in Popmusik-Form und schien schon auf After Laughter als Songwriterin aufzutreten, die erfolgreich viele Dämonen besiegt hat. Ein Thema, das auch auf Petals for Armor in vielen Punkten zurückkehrt. Das tolle dabei ist, dass von ihr die spannende Perspektive einer extrem optimistischen Person ausgeht, die zwar auf die Querälen und Kämpfe mit der Krankheit zurückblickt, dies aber aus der Außenperspektive von jemandem tut, der zum großen Teil darüber hinweg ist. Es geht dabei auch um Rückfälle und den schwierigen Versuch, abzuschließen, doch im wesentlichen ist Petals for Armor grundlegend euphorisch, was mich vom Wesen her total begeistert. Und es ist dabei auch die Art, wie Williams über das Thema schreibt, das besonders ist. Viele Musiker*innen aus allen klanglichen Sparten haben in der Vergangenheit das Thema der mentalen Gesundheit erforscht und es ist 2020 nicht immer einfach, so etwas besonders klingen zu lassen. Hier jedoch passiert das auf beeindruckende Weise und man hat wirklich das Gefühl, diese Frau ein bisschen zu verstehen. Obwohl so ein Geständnis auch dann und wann die quantitativen Grenzen sprengt. Es ist ein wichtiger Faktor dieses Albums, dass es strukturell nicht als eine Gesamtheit angedacht ist, sondern als drei separate EPs, die die Sängerin während der letzten vier Monate staffelweise veröffentlichte. Und indem sie hier nun auf einem gemeinsamen Format zusammenkommen, läppert sich der Umfang des ganzen letztlich doch ein bisschen. In 55 Minuten Spielzeit packt Williams ganze 15 Titel, von denen natürlich nicht jeder ein Hauptgewinn ist. Tatsächlich ist der überwiegende Teil der Songs sogar ziemlich verhalten und ruhig, was die Platte auf den ersten Blick etwas monoton wirken lässt. Zwar gibt es Tracks wie Pure Love, Sugar On the Rim und Dead Horse, die als waschechte Popsongs durchgehen und ein bisschen den coolen Synthfunk-Stil von After Laughter reanimieren, doch reichen die nicht, um albumübergreifend Dynamik zu erzeugen. Und mit dem filigranen Kammerpop-Mikrokosmos, den die meisten anderen Songs der Platte ausarbeiten, muss man erstmal warm werden. Viele dieser Titel sind zwar auch nicht unbedingt schlechter und erinnern auf positive Weise an Künstler*innen wie Big Thief, Dear Reader oder manchmal auch ein bisschen an Björk, doch werden sie erst auf den zweiten Blick interessant. Und egal ob gut oder schlecht die Stücke sind, der LP als Gesamtheit hätten bei der Länge ein paar weniger davon schon gut getan. Im großen Zusammenhang sind letzteres aber nur kleinere Schönheitsfehler und an und für sich ist es vordergründig erstmal beeindruckend, welches Spektrum an tollen Songideen Williams hier vorstellt und wie kohärent das ganze am Ende trotzdem klingt. Ganz davon zu schweigen, wie großartig sie hier als Texterin arbeitet und mit dem Thema der mentalen Gesundheit umgeht. Wenn man die Leistung auf Petals for Armor mit der auf After Laughter zusammenzieht und mit dem vergleicht, wofür diese Künstlerin früher bekannt war, kann man das schon als allumfassenden Glow-Up bezeichnen, der sogar der amtierenden Transformations-Göttin Carly Rae Jepsen ein bisschen gefährlich wird. Es sieht also ganz so aus, als könnte das hier endlich Hayley Williams' Dekade werden. Und ganz ehrlich: Sie hat es mittlerweile echt verdient.



Hat was von
Dear Reader
Day Fever

Big Thief
2 Hands

Persönliche Höhepunkte
Simmer | Leave Me Alone | Sudden Desire | Dead Horse | Over Yet | Roses/Lotus/Violet/Iris | Why We Ever | Pure Love | Sugar On the Rim | Crystal Clear

Nicht mein Fall
Creepin' | Taken


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