Sonntag, 24. Mai 2020

Where Are We Now?

[ gefasst | kunstig | heimatlich | mondän ]

Wenn eine Band wie die Einstürzenden Neubauten, von der es nun schon etwas länger keine neue Musik gegeben hat, ein Album wie dieses veröffentlichen, dann finde ich es am Anfang immer ganz gut zu wissen, woran sie hier eigentlich anschließen. Bei einer Diskografie von mittlerweile 40 Jahren, die die Berliner hinter sich haben und ihrem monströsen Legendenstatus ist ein bisschen Aufarbeitung wichtig, und für mich im Moment auch eine spannende Sache, da die Neubauten gerade auf dem besten Weg sind, eine meiner Lieblingsbands zu werden. Und egal wie man zu ihnen steht, zumindest im Sinne einer Information wäre es wichtig zu sagen, was denn eigentlich der Vorgänger von Alles in Allem so machte. Das Problem ist nur: Ich kann beim besten Willen nicht endgültig sagen, was dieser Vorgänger eigentlich ist. Denn was die Diskografie dieser Gruppe im neuen Jahrtausend angeht, ist vieles ziemlich verwirrend, und es kommt sehr darauf an, was man unter dem Begriff "Album" eigentlich fassen will. Hier ein kleiner Annäherungsversuch: Zählt man jede Veröffentlichung, so ist die zum Zeitpunkt letzte Neubauten-LP Lament von 2014, ein Auftragswerk für ein Geschichtsprojekt zum ersten Weltkrieg, das allerdings auch die Band selbst nicht wirklich listet. Davor gab es eine ganze Handvoll Releases innerhalb der Supporters- und Musterhaus-Reihen während der Zwotausender, die aber eher eine Art avantgardistische Serie waren und auch nicht wirklich ins Bild passen. Verfolgt man die Suche durch all das Material aber tatsächlich bis zum Ende, ist die letzte offizielle LP der Berliner Silece is Sexy von 2000, was auch irgendwie nicht sein kann. Deshalb lasse ich an dieser Stelle einfach mal offen, wo man in ihrer Diskografie letztlich die Nadel ansetzt und fange einfach hier an. Zumal es ja trotz unklarer Katalogisierung sehr einfach nachzuvollziehen ist, wohin sich diese Gruppe seit ihren frühen Tagen entwickelt hat. Die erste Feststellung hierbei ist: 2020 gehören die Einstürzenden Neubauten zum intellektuellen Establishment. 2017 haben sie die Elbphilarmonie eröffnet, den Hauptteil ihrer Musik schreiben sie mittlerweile für Ausstellungen und Theaterstücke und aus dem einstigen Speedfreak-Schocker Blixa Bargeld ist über die Jahre ein feingeistiger Bohèmien geworden, der bei Alfred Biolek mediterranes Risotto kocht und einen sehr weltmännischen Nimbus pflegt. Und Alles in Allem ist in seiner Gesamtheit auch durchaus ein Album, das diese Entwicklung anerkennt. Wobei die Neubauten noch immer eine Band sind, die ihre sorgsam entwickelte künstlerischer Freiheit ausnutzen kann und will. Provozieren wollen sie ja sowieso schon lange nicht mehr, auch dissonanter Lärm muss nur sehr selten sein und wenn man die Begriffe "Industrial" und "Avantgarde" hier weiterhin verwenden will, dann sind sie eher struktureller Natur. Denn zwar hört man noch immer viel zweckentfremdetes Baustellen- und Haushalts-Instrumentarium und jede Menge langinstallatorische Field Recordings, doch wird daraus nicht mehr Musik gemacht, die kracht und schreit und fiept, sondern eher raschelt und flüstert. Auch Blixa selbst schreit nicht mehr, sondern hat sich eher ein sehr sonores Gothic-Timbre angewöhnt, das optimal zu seinen schwarzen Maßanzügen und der Galeristen-Frisur passt. Es ist eine sehr undüstere, gefällige, teils atmosphärische Stimmung, die von Alles in Allem ausgeht und man kann sich sicher sein, dass die Neubauten wissen, was sie hier tun. Die Arrangements in vielen Tracks sind unfassbar erlesen und beinhalten neben den (in diesem Fall) üblichen Nicht-Instrumenten Dinge wie Akkordeon, Harfe, Orgeln oder filigrane Streicher, die wunderbar den Hintergrund vieler Songs auskleiden und ihre Schöngeistigkeit fördern. Eine Ästhetik, die vor allem für die lyrischen Inhalte der Platte eine perfekte Grundlage ist. Denn auch hier findet sich genau jene mondäne, elitäre Nonchalance, die gerade so schön zu dieser Band passt. Im Vokabular vieler Songs wie Möbliertes Lied und Zivilisatorisches Missgeschick geht es um räumliche Begrifflichkeiten aus der Architektur, um gegenständliche Besitztümer und Material, das meiste davon in Bezug auf Berlin, die Heimatstadt der Gruppe. Der Zusammenhang wird zwar nie direkt gezogen, doch es hat eine gewisse Energie, wenn Blixa in Am Landwehrkanal einerseits über seine wilden Zeiten im Szene-Sumpf und in Grazer Damm über seine Kindheit singt, später aber über helle Räume und Antikmöbel schreibt. In gewisser Weise ist Alles in Allem dabei zumindest teilweise eine Hommage an Berlin, aber vor allem eine Meditation darüber, wie sich die Stadt und die Protagonisten darin verändert haben. Und nichts fasst diese Veränderung besser auf als der fast orchestrale Album-Closer Tempelhof, in dem auf sehr besinnliche Weise die Ruine des ehemaligen Flughafengebäudes besungen wird, wobei man nicht umhin kann, gewisse Parallelen zu ziehen. Als Szene-Urgewächse der Hauptstadt sind die Einstürzenden Neubauten die perfekten Chronisten von vierzig Jahren, in denen Berlin vom modrigen Schandfleck der Bundesrepublik zur internationalen Vorzeige-Metropole mit viel schniekem Gloria geworden ist. Und wenn man es sich recht überlegt, ist das auch ein bisschen die Geschichte dieser Band. Von der Subkultur ins Establishment, aus der Avantgarde in die High Society und vielleicht auch ein bisschen in die Selbstentfremdung. Inklusive David Bowie und Nick Cave als stetig zitierte Fußnoten. Der einzige Vorsprung der Neubauten ist, dass sie in der Zwischenzeit von den harten Drogen weggekommen sind und die dämlichen Lederkutten eingemottet haben, so wie sich das für die alte Lady des Industrial gehört. Der Schalk im Nacken ist trotzdem noch da, und ich bin heilfroh, dass auch der hier ein weiteres Mal nicht unter den Teppich gekehrt wird. Denn so sehr diese Band auch zahm wird, langweilig wird sie nicht in tausend Jahren. Und wenn das kein Paradebeispiel für gutes Altern ist, dann weiß ich auch nicht.



Hat was von
Rio Reiser
Blinder Passagier

Nick Cave & the Bad Seeds
Push the Sky Away

Persönliche Höhepunkte
Am Landwehrkanal | Zivilisatorisches Missgeschick | Taschen | Seven Screws | Alles in Allem | Grazer Damm | Tempelhof

Nicht mein Fall
Wedding


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