Sonntag, 31. Mai 2020

Die besten Jahre


[ tanzbar | nostalgisch | verhindert ]

Zwölf Jahre nach ihrem Durchbruchsalbum the Fame im Jahr 2008 ist sicherlich der notwenige Abstand gegeben, um in Bezug auf Lady Gaga mal ganz frei heraus die Frage zu stellen: Wie groß war im Nachhinein tatsächlich ihr Einfluss auf die vergangene musikalische Dekade gewesen? Denn so unbedeutend, wie es lange schien, war die frühe Karriere der New Yorkerin am Ende vielleicht doch nicht. Obwohl sich die Prophezeihung der ausgehenden Zwotausender, dass die Sängerin ganz wesentlich eine neue Blaupause für die Figur des Popstars an sich sein würde, im nachhinein als ziemlicher Blödsinn herausstellte und diese Rolle rückblickend eher Drake oder den Migos zugesprochen werden kann, hat sie strukturell doch einiges beigetragen. Nur vielleicht auf andere Weise, als man das ursprünglich vermutete. Denn insbesondere für Einflüsse von außerhalb der Mainstream-Wahrnehmung war ihr Input aus heutiger Sicht ziemlich wichtig. Einerseits ist in dieser Hinsicht ihr nach wie vor unumstrittenes Standing in der LGBTQI+-Bubble relavant, die sie über die letzten Jahre hinweg trotz aller Widrigkeiten zu einer Säulenheiligen erhoben hat, zum anderen gehörten ihre ersten beiden Alben damals zu den frühesten, an denen sich der Snobismus der Pitchfork-Indie-Community etwas brach und die sich nach wie vor auch bei Fans von Rockmusik und alternativem Zeug großer Beliebtheit erfreuen. Und schließlich ist da noch der offensichtliche kritische Erfolg, den gerade ihre letzte LP Joanne vielerseits einheimste und der Lady Gaga eine Art zweites Leben als die Künstlerin bescherte, die jedes Jahr eine bedeutungsschwangere Performance bei den Oscars abliefern darf. All das macht ihre Karriere Stand 2020 zu einer, die vielleicht nicht die des großen Popstars gewesen ist, aber definitiv eine sehr gute und spannende Wendung genommen hat. Dass dabei nur noch alle paar Jubilare tatsächlich mit einem neuen Album um die Ecke kommt, trägt in meinen Augen ebenfalls zu einer gewissen Exklusivität bei, denn spätestens nachdem Joanne 2016 wirklich hochkarätig und besonders war, ist es auch zur Normalität geworden, genau diese Tragweite von Lady Gaga zu erwarten. Und Chromatica ist dieser Tage definitiv wieder der Versuch, genau das zu tun. Es ist das erste Album der New Yorkerin seit mittlerweile vier Jahren, es gehörte in den letzten Wochen zu den vieldiskutierten Projekten im Internet (wobei die mehrmalige Verschiebung dem alles andere als abträglich war) und im Vergleich zu den countryesken letzten Sachen von Lady Gaga zeigt es erneut eine üppige stilistische Trendwende. Wobei Rückbezug in dieser Hinsicht vielleicht der treffendere Begriff wäre, denn rein klanglich geht vieles hier wieder dorthin, wo ihre Musik schon einmal war. Der Sound von Chromatica ist im wesentlichen eine aufgefrischte Version der Ästhetik, die man zum letzten Mal auf Born This Way von 2011 hörte, im Prinzip also ein tanzbarer und aktualisierter Madonna-Verschnitt mit etwas Achtziger- und Disco-Attitüde zum abschmecken. Und an sich ist das ja eine tolle Sache, denn so sehr ich auch finde, dass Joanne vor vier Jahren ihr bisher bestes Album ist, so sehr bin ich nach wie vor Fan der rabiaten Dancepop-Rockröhre Lady Gaga, die überdimensionierte Hits schreibt. Aber genau an diesem Punkt wird es mit diesem Album schwierig, weil eben dieser Faktor diesmal außen vor bleibt. Die reine Tatsache, dass Chromatica wieder ein tanzbares und extrovertiertes Projekt ist, heißt nämlich noch lange nicht, dass die Sache mit dem Banger-Potenzial auch diesmal wieder gelingt. Und allein die vorangegangenen Singles waren in dieser Hinsicht schon ein ziemlich übles Zeichen. Wo es Gaga selbst in ihren schwachen Phasen bisher immer gelang, zumindest eine starke Leadsingle als LP-Teaser an den Mann zu bringen (selbst Joanne hatte mit Perfect Illusion einen veritablen Konsens-Hit), war Stupid Love in diesem Frühjahr eher so lala, und obwohl es auf dem fertigen Album trotzdem zu den besten Songs gehört, ist es ein eher mittelguter Einstieg in die Welt dieser Platte. Auch das nachträglich angehängte Rain On Me mit dem quotenstarken Ariana Grande-Feature war in seiner Konsequenz nicht wirklich besser und leider ist die fehlende letzte Konsequenz dieser Songs auf auf dem Gesamtergebnis ein Hauptproblem. Dabei ist das ästhetische Setting an sich denkbar gelungen. Von allen bisherigen Gaga-Projekten ist Chromatica in meinen Augen das mit der besten Produktion und dem knackigsten Sound, der in gewissen Punkten auch kompositorisch fortgesetzt wird. Die drei orchestralen Interludes, die die Platte klanglich rahmen, klingen allesamt klasse und dass der Fokus des Songwritings hier auf der Tanzbarkeit liegt, ist ebenfalls eine tolle Idee. In vielen Songs hört man großartig heraus, wie vielschichtig einzelne Passagen instrumentiert wurden und vor allem die starken Synth-Bässe sorgen für eine insgesamt sehr hochwertige Clubtauglichkeit. Strukturell gesehen stimmt also schon mal alles, doch was fehlt sind leider ein bisschen die Basics: Kaum eine Hook auf diesem Album ist wirklich catchy, so gut wie keine Melodie hat ernsthaftes Ohrwurm-Potenzial und auch als Texterin ist Gaga hier eher ziemlich gewöhnlich. Die Hymnen über Selbstbestimmung, Befreiung und Hedonismus, die sie hier so wie früher schreiben will, stocken an vielen Stellen schon in der Substanz und stranden im schlimmsten Fall in der Rotzpop-Vorhölle früherer Pink-Alben. Und wo sie sonst selbst in ihren schwächsten Tracks wenigstens noch mit ihrer großartigen Gesangsleistung punkten kann, gibt es hier Momente, in denen sie ihre Stimme absichtlich verstellt und pitcht und damit eher für Verwirrung sorgt als Kreativität einbringt. Eine Sackgasse, aus der auch die hochkarätigen Features auf dieser LP keinen Ausweg finden. Wo Blackpink in Sour Candy wenigstens noch frischen Wind reinbringen, ist Ariana Grande in Rain On Me leider völlig ohne Profil unterwegs und leistet ihren größten Beitrag durch den Namen in den Credits. Das weitaus schlimmste Schicksal auf diesem Projekt erfährt aber ausgerechnet Sir Elton John in Sine From Above, der es definitiv besser verdient hätte. Eigentlich ist die powerballadige Aufmachung der Nummer ja gar nicht schlecht und zumindest die erste Strophe des Tracks mag ich eigentlich ganz gerne, doch von da ab geht es nur noch bergab. Johns Gesangspart im zweiten Teil des Songs wirkt ziemlich billig in die bestehende Struktur eingepfercht und ist an manchen Stellen seltsam dissonant, und spätestens wenn in der Bridge am Ende jene ulkigen Drum & Bass-Breaks einsetzen, ist das Ding ruiniert. Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch gewisse Highlights wie das opernhafte 1000 Doves oder den an George Michael erinnernden Closer Babylon, doch sind selbst die nicht so herausragend wie viele Singles, die die Sängerin vor zehn Jahren am Fließband produzierte. Und gerade die Tatsache, dass Lady Gaga ihren alten Sound wieder aufgreift, funktioniert am Ende sehr zum Nachteil der Platte. Denn nur dadurch motiviert sie überhaupt den Vergleich mit Sachen wie Born This Way oder the Fame Monster, die das hier leider ein bisschen in den Schatten stellen. Was schon ein bisschen seltsam ist, denn bei allen Höhen und Tiefen, die Lady Gaga in den letzten zwölf Jahren durchlebte, gab es bei ihr doch nie einen wirklichen Moment des Scheiterns. Das ist tatsächlich eine neue Facette dieser Künstlerin und sie wirkt auf den ersten Blick sogar ein bisschen surreal. Sie zeigt aber auch, für wie selbstverständlich wir bis hierhin die erfolgreiche Lady Gaga gehalten haben, die mit jedem ihrer Pläne Applaus erntet und so gut wie alles an ihrer Karriere zu etwas tollem macht. Was wiederum ein eindeutiges Zeichen dafür ist, wie sehr das letzte Jahrzehnt am Ende doch dieser Frau gehörte. Und erst nach so einem gewaltigen Hustle über mehr als eine Dekade das erste Formtief zu zeigen ist dann doch wieder beeindruckend.


Hat was von
Madonna
Erotica

Dua Lipa
Future Nostalgia

Persönliche Höhepunkte
Chromatica I | Stupid Love | Rain On Me | Enigma | 1000 Doves | Babylon

Nicht mein Fall
Alice | Free Woman | Fun Tonight | Plastic Doll | Sine From Above


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