Freitag, 13. März 2020

Songs für die Ewigkeit: Zitrone lutschen


Es gilt mittlerweile als einer der wichtigsten Stilbrüche in der Geschichte der Popmusik und die Nerds dieser Welt werden auch 20 Jahre später nicht müde darüber zu schwadronieren, wie diese eine Band mit diesem einem kolossalen Ausnahme-Album damals alles vermeintlich Klare zur Debatte stellte. Kid A, das vierte Album der Gruppe Radiohead, steht für viele rückblickend für nicht weniger dar als die Geburt eines klanglichen Phönix, der damals aus der Asche der besten Rockband der Welt erstand und verschwurbelt-entrückt den neuen Goldstandard experimenteller Popmusik verkündete, der letztendlich das formte, was man heute in dieser Band sieht: Der konsequente Weggang von großkotzigen Hymnen und hin zur filigranen Abstraktion, den Einzug der elektronischen Schwermütigkeit, die schwerelosen Freiform-Lyrics von Thom Yorke: Das alles war hier ganz plötzlich einfach da und zeigte den eigenen Fans auf der einen Seite zwar den ausgestreckten Mittelfinger, war aber in seiner Umsetzung auch dermaßen faszinierend, dass man ab dieser Platte plötzlich mit ernsthafterem Nachdruck über Radiohead als beste Band der Welt sprach. Ob solche Reaktionen nun vernünftig waren oder nicht, steht dabei eigentlich fast nicht mehr zur Debatte, denn Kid A hat sich mit seinem revolutionären Geist in die Annalen die Pophistorie eingebrannt und ist in der Diskussion um das ultimative LP-Statement der Briten stets ein Dauerfavorit. Und obwohl ich mir dabei inzwischen sehr sicher bin, dass es in diesem Leben nicht mehr mein Lieblingsalbum dieser Gruppe werden wird, erkenne ich doch die Tragweite einer solchen Platte an und finde auch hier immerhin einige meiner persönlichen Song-Höhepunkte von Radiohead. Wobei Everything in Its Right Place schon allein durch seine Positionierung eine Sonderrolle einnimmt. Als Opener von Kid A ist er das Portal, über das man in die skurrile Welt dieser LP einsteigt und der elementare erste Eindruck, mit dem schonmal einiges steht und fällt. Ich habe schon in der Vergangenheit über die Bedeutung eines guten Openers für so ziemlich jeden Longplayer geschrieben und popgeschichtlich gesehen ist dieser Track in meinen Augen ein unfassbar spannendes Studienobjekt. Denn er ist der Song, der den Stilbruch von Kid A erst zum Stilbruch macht. Radiohead waren auch vorher schon immer sehr gut darin, ihre Longplayer geschmackvoll zu eröffnen und Fan-Erwartungen zu subversieren, man denke nur an das plumpe Airbag auf OK Computer oder die kontroverse Bends-Leadsingle My Iron Lung. Dieses Stück hier ist allerdings auf eine ganz andere Weise ein Meisterwerk. Denn an diesem Punkt muss vor 20 Jahren bei so vielen Leuten die ursprüngliche Verstörung angefangen haben und der Schock, der im Oktober 2000 durch die Fanbase dieser Band ging, setzte hier seinen Hebel an. Durch die weise Entscheidung der Musiker, der Veröffentlichung des fertigen Albums so gut wie keine Promophase, geschweige denn Videos oder Singles voranzustellen, sind die ersten Takte von Everything in Its Right Place tatsächlich der unmittelbare Erstkontakt mit den Radiohead des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und gerade weil die Gruppe selbst das sehr gut gewusst haben muss, geht sie mit diesem Effekt äußerst intelligent um. Der Song ist eben kein Sprung ins kalte Wasser, kein bombastischer klanglicher Jumpscare und kein offensichtlicher Hit, sondern ein sehr subtiles, zurückhaltendes und sehr beschwichtigendes Klangkonstrukt, das außerhalb des ganzen Kontexts eigentlich eine der eher konservativen und optimistischen Nummern dieser LP ist. Und genau das ist so unfassbar klug, denn wenn man diesen Song ohne Vorwarnung und mit dem Erfahrungshorizint von OK Computer hört, ist die Reizverwirrung durch den immensen klanglichen Sprung ohnehin perfekt. Und Radiohead tun in nächster Instanz gut daran, diesen Eindruck mit sehr gedämpften Keyboardklängen und soften Gesangsharmonien erstmal wieder zu dämpfen. Everything in Its Right Place ist ein verhältnismäßig ruhiger Track, der aber auch mit vielen Dur-Akkorden und einer sehr klaren und schnickschnackfreien Performance von Thom Yorke aufwartet (Naja, von der Textzeile mit der Zitrone mal abgesehen) und zu Beginn wenig Chaos stiftet.



Radiohead ziehen ihren Fans hier somit zwar den metaphorischen Stuhl über den Kopf, reichen ihnen im gleichen Moment aber Aspirin und Eisbeutel und erzeugen damit eine faszinierende Wechselwirkung. Und seltsam und finster wird Kid A danach noch schnell genug, ein Track wie dieser zum Eingrooven ist also auch nicht zu verachten. In dieser Hinsicht leistet er auch ähnliche Arbeit wie ein paar Jahre zuvor Airbag, inderm er es ebenfalls schafft, ein sehr schwermütiges und kompliziertes Album am Anfang etwas abzubremsen und unterschwelligen Optimismus zu streuen. Auf diesem Stück sind die Texte zwar deutlich düsterer, aber der Effekt des anhebenden bleibt zu einem großen Teil trotzdem. Schuld daran sind vielleicht ein bisschen die an Orgelspiel erinnernden Synth-Parts und Yorkes Gesang, die beide fast sakral wirken. Und ich bin zwar kein Experte auf dem Gebiet, aber ich vermute durchaus ein paar kirchenmusikalische Kadenzen in den ersten zwei Takten des Intros. Man kann bei einer Band wie Radiohead schon davon ausgehen, dass solche Kleinigkeiten mit großer Ernsthaftigkeit stattfinden und musiktheoretische Details wie diese teilweise den Kern eines Songs ausmachen (siehe Späßchen wie Videotape), das tolle bei ihnen ist aber in meinen Augen auch immer, dass es ebenso gut funktioniert, wenn man dieses Hintergrundwissen nicht hat. Und gerade ab diesem Album wird so ein Faktor für viele Songs der Briten immens wichtig. Die Musik, die Radiohead ab diesem Punkt schreiben, ist strukturell meist wesentlich komplizierter und weniger eingängig als ihr Neunziger-Output. Trotzdem schreiben sie in ihren besten Momenten nach wie vor Stücke, die extrem eingängig sind und dieser hier ist definitiv eins davon. Inmitten der verspulten und abstrakten Nummern, die auf Kid A versammelt sind und die es teilweise auch so großartig machen, ist Everything in Its Right Place eine der seltenen mit echtem Ohrwurmpotenzial und einer, der nicht nur als Teil eines einzigartigen Albums fasziniert, sondern auch für sich klasse ist. Für jemanden wie mich, der noch immer ein bisschen mehr dem Neunziger-Output der Briten anhängt, macht ihn das nochmal besonderer. Er ist eine der wesentlichen Ersten Säulen jener neuen Inkarnation von Radiohead, die sich im 21. Jahrhundert durchsetzte und ist auf seine Weise ein subtiler Paukenschlag für deren Karriere, der sie mit Karacho in eine neue musikalische Phase katapultiert. Und damit durchaus schwer mitverantwortlich dafür ist, dass man diese fünf Musiker inzwischen als vielleicht beste Band der Welt sieht.

1000kilsonar bei Twitter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen