Samstag, 6. Juni 2020

Dreck, Scheiße, Pisse


[ düster | krachig | wütend ]

Es wäre eine Untertreibung, wenn ich zum Eingang dieses Artikels etwas in die Richtung sagen würde, dass Chelsea Wolfe nicht unbedingt meine Lieblingskünstlerin ist und mein Verhältnis zu ihrem Output ein bisschen unterkühlt sei. Denn schaut man sich die etwa sechs Jahre an, in der ich mich mit ihrer Musik nun schon ziemlich aktiv beschäftige, ist sie mit Sicherheit eine der Künstler*innen, die für mich immer wieder die Zielscheibe sehr negativer Kritik war und darin auch eine gewisse Kontinuität besitzt. Bereits seit ihrem Durchbruch mit Pain is Beauty von 2013 ist die Kalifornierin in meinen Augen eine der am schlimmsten überbewerteten Figuren der Rock- und Metal-Szene, die mit inzwischen einem guten halben Dutzend sterbenslangweiliger Goth-, Doom- und Gloomrock-Platten immer wieder euphorische Reaktionen hervorruft. Was mich vor allem deshalb fuchst, weil sie mit ihrem dadurch inzwischen sehr prominenten Szene-Backing auch immer wieder auf Platten meiner Lieblingskünstler*innen auftaucht und diese konsequent ruiniert. Stand 2020 war ich folglich nicht unbedingt mehr der Auffassung, dass ihre Musik und ich in diesem Leben nochmal Freunde werden und auch als sie vor ein paar Monaten die Gründung ihrer neuen "Band" Mrs. Piss ankündigte, war meine Reaktion entsprechend verhalten. Denn schon vom personellen Rahmen her ist das hier letztendlich nicht weit entfernt von der Besetzung, die auch hinter den Solo-Arbeiten von Wolfe steckt. Das einzige weitere Mitglied der Gruppe außer der Sängerin selbst ist ihre langjährige Schlagzeugerin Jess Gowrie, deren musikalisches Portfolio außerhalb der Diskografie ihrer Partnerin auch nicht besonders groß ist. Der Twist der ganzen Sache kommt letztlich erst dann zum Vorschein, wenn man sich die stilistische Ausrichtung der beiden ansieht, die zum ersten Mal tatsächlich von der gewohnten Formel abweicht. Mrs. Piss sind nämlich im weitesten Sinne eine Punkband, was auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich wirken mag, im Kontext ihres Songwritings aber Sinn ergibt. Denn in ihrer Definition steht das Punk vor allem für eine Attitüde, die ideologisch den Konzepten der Riot-Grrrl-Bewegung sehr nahe steht und hier als Motivation dient, etwas krachiger an die Materie zu gehen und ein bisschen rotzigen Feminismus zu propagieren. Weil wir aber trotzdem noch bei Chelsea Wolfe sind, wird diese Ästhetik auch um Einflüsse aus Gothpunk, Noise, Industrial, Grunge und Doom Metal erweitert, sodass ein sehr finsteres Haudrauf-Amalgam entsteht. Und dieses ist für die Kalifornierin nicht nur eine neue klangliche Facette, mit der sie sich austoben kann, sondern sie klingt sogar mal richtig interessant. Wo Wolfes Modus Operandi bis hierhin meist ein sehr getragener und divenhafter Gothrock-Sound war, der aber wenig Charakter hatte, kommt dieser hier mit dem grotesken Schmutz der musikalischen Performance plötzlich zustande. Nicht nur das, Self-Surgery funktioniert auch als ein Projekt, auf dem mit vielen Spielarten düsterer Rockmusik ernsthaft experimentiert wird. Das verschnickte Fade-Out in Downer Surrounded By Uppers, das brummige Tony Iommi-Gedächnis-Riff in You Took Everything oder der wirksam nach hinten gemischte Schreigesang im selben Song sind extrem clevere kompositorische Kniffe, die ich einer Schnarchnase wie Wolfe eigentlich nicht mehr zugetraut hätte. Ganz davon abgesehen, dass es hier eine ganze Reihe von Stücken gibt, in denen wirkungsvoll das Tempo angezogen wird und Schrammel-technisch auch mal ordentlich die Post abgeht. Mit acht Tracks in 18 Minuten ist die Platte darüber hinaus angehm kurz, was einer gewissen Rotzpunk-Attitüde natürlich sehr zuträglich ist. Und obwohl einige Songs stilistisch noch etwas sehr verstreut sind und Mrs. Piss hier noch keinen wirklichen Kernsound finden, reicht das hier doch mit einigem Abstand aus, um das bisher beste Stück Musik mit Chelsea Wolfes hauptamtlicher Beteiligung zu sein. Ob Self-Surgery in dieser Rolle für sich stehen soll oder nur der Teaser für ein eventuell kommendes Album ist, entzieht sich im Moment meiner Kenntnis, wobei ich es aber natürlich spannend fände, noch weiteres Material von Mrs. Piss zu hören. Meinetwegen auch in Form einer weiteren solchen Mini-LP. Zumindest fände ich alles von dieser Band gerade spannender als irgendein neues Soloprojekt von Wolfe, was mich jetzt vielleicht noch mehr enttäuschen würde. Jetzt, nachdem einmal klar ist, wozu diese Frau eigentlich fähig ist.


Hat was von
Vordemfall
Gravity Problems

Lingua Ignota
Caligula

Persönliche Höhepunkte
Downer Surrounded By Uppers | Knelt | Nobody Wants to Party With Us | You Took Everything | Mrs. Piss

Nicht mein Fall
-

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