Donnerstag, 25. Juni 2020

Die Selbermach-Schwestern


[ nostalgisch | schmissig | cool ]

Ich will mal ganz ehrlich sein: in diesem Leben werde ich wahrscheinlich kein richtiger R'n'B-Fan mehr. Zumindest nicht in dem Maße, dass ich in den nächsten Jahren doch noch das Defizit aufhole, das ich bezüglich dieser Musikrichtung ja leider irgendwie habe. Wenn man sich die umfassende Renaissance des Genres in der jüngeren Vergangenheit so ansieht und die beliebtesten Platten dieser Zeit heranzieht, lässt sich doch ziemlich schnell feststellen, dass ich durchschnittlich immer etwas weniger begeistert von den Kelelas, Solanges und Frank Oceans dieser Welt bin als die meisten anderen. Und nachdem ich nun über mehrere Jahre ernsthaft versucht habe, eine wie auch immer geartete Faszination für zeitgenössischen R'n'B zu entwickeln und dabei nur sehr gelegentlichen Erfolg verzeichne, ist es nicht überstürzt anzunehmen, dass das bei mir wahrscheinlich nichts mehr wird. Was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass ich eine persönliche Perle nicht erkenne, wenn ich sie höre. Und was die Geschwister Chloe und Halle Bailey auf dieser zweiten LP machen, ist zumindest auf dem besten Weg, mal eine zu werden. Doch was genau machen sie hier besser als so viele andere? Nun, vor allem erstmal vieles selber. Schon aus einer rein theoretischen Perspektive aus gesehen ist Ungodly Hour insofern ein sehr erfrischendes Album, weil hier vieles tatsächlich die Arbeit des Duos ist und nicht einer Heerschar von gebuchten Produzenten. Gerade wenn man sich vor Augen führt, dass selbst jene als sehr emanzipatorisch gefeierten Künstler*innen wie Kelela oder die Knowles-Schwestern sich nach wie vor auf ein sehr stabiles System von Klangdesignern berufen, das extrem männlich dominiert ist, ist das hier mal eine echte Erfrischung. Denn es zeigt, dass die Baileys nicht nur eine Idee in dieses Projekt einbringen, sondern dieses auch in vielen Details selbst ausführen. Und obwohl Ungodly Hour am Ende trotzdem alles andere als DIY ist und klingt, fühlt es sich doch an den richtigen Stellen authentisch und unverbraucht an. Was in Bezug auf die eigentliche Musik vielleicht auch ein bisschen eine Antithese ist. Denn wenn man über die klangliche Ästhetik dieses Albums redet, kann man schon fast von einem gewissen Retro-Bezug reden, der auch alles andere als nischig ausfällt. Mehr noch als viele andere Releases aus der jüngeren R'n'B-Welle ist vieles hier eine ausführliche Verbeugung vor der letzten großen Trend-Phase der späten Neunziger und vor Acts wie Destiny's Child, TLC und Mary J. Blige. Und womöglich ist gerade dieser Faktor ein weiterer Grund dafür, warum ausgerechnet Chloe und Halle mich im Vergleich zu anderen so ansprechen. Denn im Gegensatz zu vielen Vertreter*innen der zeitgenössischen R'n'B-Stylings, die sehr fadenscheinig, artsy und dünnhäutig klingen, trauen sich diese beiden auch mal das große Kitsch-Besteck einzusetzen. Womit eben zum Vorschein kommt, wo eigentlich die Stärken dieser Musik liegen: In großen Refrains, in abgefahrenen Vokalisationen, in schmissigen Instrumentals. Und all diese Dinge können Chloe und Halle. Zwar ist Ungodly Hour nicht unbedingt eine Platte, die durch große Tanzbarkeit oder monumentale Banger besticht, doch haben die beiden Kalifornierinnen die richtigen Melodien, um irgendwie in der Hirnrinde stecken zu bleiben und bei mir tatsächlich mal Empfindungen auszulösen, was ein Frank Ocean leider Gottes schon lange nicht mehr mit mir gemacht hat. Und ganz nebenbei ist das Ding klasse produziert und traut sich dann und wann auch kleine Fremdeinflüsse wie deftige Trap-Hihats oder einige klassische Funk-Licks in Don't Make It Harder On Me. Die einzige offensichtliche Schwachstelle kommt hier tatsächlich erst in dem Moment, in dem die beiden Künstlerinnen anderen Leuten das Heft in die Hand geben, namentlich Swae Lee und Mike Will Made It in Catch Up. Es ist der einzige Moment auf dieser LP, in dem deren Energie merklich abnimmt und diese beiden mal kurz ziemlich durchschnittlich klingen. Wenn das am Ende aber eines zeigt, dann vor allem, wie viel Potenzial in diesen beiden Musikerinnen steckt und dass wir es hier mit einem Duo zu tun haben, das wirklich einen Unterschied im zeitgenössischen R'n'B machen könnte. Um das zu leisten ist Ungodly Hour manchmal noch etwas zu inkonsequent und Songwriting-technisch zu zahm, aber das Rüstzeug haben Chloe und Halle hier definitiv und besonders ihre Arbeit im Hintergrund zeichnet sie dabei aus. Wenn in den nächsten Jahren also nochmal ein Album in dieser Stilrichtung kommen sollte, das mich wirklich von den Socken haut, dann könnte es sehr wahrscheinlich von diesen beiden Mädels kommen.


Hat was von
Destiny's Child
Survivor

Christina Aguilera
Liberation

Persönliche Höhepunkte
Forgive Me | Do It | Tipsy | Ungodly Hour | Don't Make It Harder On Me | Wonder What She Thinks of Me | ROYL

Nicht mein Fall
Catch Up

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen