Montag, 24. Mai 2021

Nicht euer Mainstream: Gedanken zum Eurovison Songcontest 2021

Ich bin mir tatsächlich nicht ganz sicher, warum ich den nun folgenden Text geschrieben habe. Ich habe an dieser Stelle nichts wichtiges und nichts weltveränderndes kundzutun und eigentlich ist ein solcher Bezug zu aktuellen Ereignissen die Art von Inhalt, die ich auf diesem Format vermeiden möchte. Die einfache Antwort darauf, warum ich das hier also schreibe ist am ehesten, das mir irgendwie danach war. Das ESC-Finale, welches vorgestern Abend im Ahoy in Rotterdam stattfand, beschäftigt mich an diesem Wochenende irgendwie und allein das ist schon etwas, dass es bei mir die vorherigen Jahre nicht gab. Die komplexe Antwort beinhaltet letztendlich die Gründe, warum das so ist und warum sich mein Verhältnis zu dieser Veranstaltung nach diesem Jahr vielleicht nachhaltig verändern könnte. Wobei der Grundgedanke des ganzen ist, wie positiv überrascht ich von der ganzen Angelegenheit war. So sehr, dass ich an dieser Stelle ein vorsichtiges Plädoyer dafür abgeben möchte, sich in Zukunft intensiver damit zu beschäftigen. Und sei es auch nur an mich selbst gerichtet. 
 
Ein kurzer Disclaimer: Ich habe für diesen Text ziemlich viel recherchiert, dabei vor allem aber auch festgestellt, wie viel über den ESC ich noch nicht weiß und wie groß und komplex dieses Thema ist. Was ich hier äußere, stellt also höchstens einen winzigen Bruchteil dieser Veranstaltung dar und ich berufe mich keineswegs auf Vollständigkeit. Ohnehin soll es hier eher darum gehen, einen persönlichen Eindruck zu geben als eine historische Abhandlung durchzuführen. Falls ich also irgendetwas falsch wiedergebe, macht mich gerne darauf aufmerksam.

Dass mein bisheriges Verhältnis zum ESC ein eher ambivalent-unterkühltes war, ist bei einem nörgeligen Indie-Snob wie mir sicherlich keine große Überraschung. Musikalisch war diese Veranstaltung lange wenig progressiv, hing regelmäßig den Trends von vor fünf Jahren hinterher und war vor allem ein riesengroßes Spektakel mit verhältnismäßig wenig Mehrwert. Die Unsummen, die Saison für Saison für ein pompöses Fernseh-Event ausgegeben wurden, das im besten Fall ein flüchtiges One-Hit-Wonder produzierte und für einen Abend Quotenrekorde sauviel Energie verprasste, findet ein Teil von mir sehr ungerechtfertigt und extrem dekadent. Auch ist der europäische Vereinigungsgedanke dahinter für mich nie ein wirkliches Argument gewesen, da a) politische Querälen in der Geschichte des ESC immer wieder in den Weg der Kunst gerieten sind und b) die Veranstaltung an sich auf ziemlich zynischer Kaltkriegs-Propaganda basiert und vor 1990 tatsächlich sehr wenig gesamteuropäisch war. Dass ich ein absoluter ESC-Hasser war, würde ich trotzdem nicht behaupten. Ähnlich wie bei der Fußball-WM, Olympia, den Grammys oder den Oscars ist der Song Contest etwas, das als Medienereignis irgendwie mehr ist als Politik und bei dem auch ich selbst dazu neige, mal über den riesengroßen Sumpf dahinter hinweg zu sehen. Einfach weil es am Ende doch zu viel Spaß macht und es sowieso alle schauen. Nicht dass ich stolz darauf wäre.
Zum ersten Mal schaute den ESC nach meiner Erinnerung 2009, danach immer mal wieder. Ich verfolgte live den Sieg von Lena Mayer-Landrut 2010 in Olso, bekam den von Conchita Wurst 2014 zumindest lebhaft mit und cringte mich zwischendurch durch so manche grauenvolle Kandidatur, vor allem auch von deutschen Kandidat*innen. Insgesamt habe ich in den letzten zwölf Jahren warscheinlich fünf mal zugesehen, das letzte Mal war allerdings auch schon 2016. Mein Empfinden über die Veranstaltung war dabei eigentlich lange ähnlich: Ich mochte die Extravaganz und den Pomp an vielen Stellen, war musikalisch aber irgendwie ernüchtert. In vielen Jahren waren selbst die verhältnismäßig guten Songs gerade so okay und das meiste einfach nur sehr langweilig. Ein paar persönliche Favoriten gab es zwar durchaus (Fairytale von Alexander Rybak, Rändnajad von Urban Symphony und Ovo Je Balkan von Milan Stanković just to name a few), doch in über einer Dekade kann ich die immer noch an einer Hand abzählen. Es mag vielleicht daran liegen, dass ich inzwischen fünf Jahre nicht mehr zugeschaut hatte und mein musikalischer Radar sich seit den frühen Zwotausendzehnern doch sehr verändert hat, doch war mein Eindruck am vorgestrigen Abend zum ersten Mal dramatisch anders. Von den 26 Songs, die im Finale performt wurden, fand ich mindestens zwei Drittel ziemlich gut, einige sogar echt klasse. Zumindest im Verhältnis zu dem, was ich von davor gewöhnt war. Dass ESC-Songs lyrisch in den meisten Fällen etwas radebrechend sind und gerne auch mal grobe Abziehbilder von erfolgreichen Songkonzepten aus Übersee sein können (looking at you, Malta und Zypern!) muss man hinnehmen, aber war immerhin wenig langweiliges dabei. So gut wie alle Teilnehmer*innen des Contests hatten irgendwie Charakter, eine kreative Grundidee und gaben mir vor allem nicht das Gefühl, eine schlechtere Version der Charts von 2017 zu hören. Natürlich könnte es auch Zufall sein, dass dieses Jahr das Raster relativ hochwertig war, doch in meinen Augen könnte es auch was damit zu tun haben, wie der ESC sich mittlerweile selbst versteht und immer mehr eine eigene Identität als Event entwickelt. Eines, das ich bei allem Kitsch und allen Widersrüchen durchaus angenehm finde. Vor allem eine Sache ist mir dabei das erste Mal so richtig positiv aufgefallen: das umfangreiche Fehlen eines in der Popkultur allgegenwärtigen Machismo und bescheuerten Heteronormaivitäts-Paradigmen, die sehr nervig sind. Wie nervig, man merkt vielleicht erst, wenn man sie einmal größtenteils aus der Formel entfernt sieht. Eine Frauen*-Quote von über 50 Prozent (zumindest bei den Performenden) ist für so eine Veranstaltung das selbstverständlichste der Welt, nicht wenige darunter sind BPOC-Personen und über die generelle Bedeutung des ESC als queeres Mekka muss ich sicherlich nicht groß referieren. Das wirklich tolle dabei ist aber nicht nur, dass das so ist (das sollte 2021 eigentlich kein Achievement mehr sein), sondern wie es über lange Zeit von selbst gewachsen ist. Wo die Echos, Oscars und Grammys dieser Welt seit etlichen Jahren Debatten um Repräsentation, Gleichstellung, Privilegien und Industriestandards führen müssen, ist der Eurovision Song Contest spätestens ab den Neunzigern von selbst diverser geworden und eckte weniger an alten Gepflogenheiten an als vergleichbare Veranstaltungen. Hier brauchte es keine Skandale und Besetzungswechsel in den Führungspositionen, um modern zu sein und mit der Zeit zu gehen. Ein Trend, der sich seit Jahren auch in den teilnehmenden Interpret*innen spiegelt. Mit Dana International gewann bereits 1998 eine Transperson den Wettbewerb, mit Verka Serduchka und Conchita Wurst waren danach noch zwei weitere sehr erfolgreich. Und wo das beim ersten Mal noch irgendwie eine Kontroverse und ein Durchbruch war, machte man spätestens bei Wurst nur noch deshalb ein Fass auf, weil sein Song eine monumentale Metapher für queeres Selbstverständnis war. Dieses Jahr hat mit Måneskin aus Italien wieder eine Band mit LGBTIQ-Hintergrund gewonnen, ein Thema war das aber überhaupt nicht mehr. Sowohl gendertechnisch als auch herkunftsmäßig wirkt der ESC der Zwotausendzwanziger mehr oder weniger komplett fluid und zeigt eine praktizierte Toleranz, die nicht die Idee von irgendwelchen Managements war, sondern aus der Sache selbst entstanden ist. Die wirkliche Neuigkeit ist, dass sich diese Diversität langsam auch in der Musik zu zeigen scheint. Nicht in dem Sinne, dass hier plötzlich superviel Kunst und Hochkultur gemacht wird, sondern darin, dass sich nicht mehr plump an einem gefühlten Mainstream orientiert wird, sondern an den Anforderungen eines ESC. Und die sind nun mal anders, weil Gemeinschaft und Publikum hier wahrscheinlich auch Andere sind als Cishet-Anne und Thomas von nebenan, die Bausa und Helene Fischer cool finden. Bester Beweis dafür ist, wie Flo Ridas Gastauftritt im Song von San Marino mit läppischen 13 Publikumspunkten abgestraft wurde oder auch der sehr konservative Pick der deutschen Delegation um Jendrik. Die Gunst des Publikums ging stattdessen an New Metal aus Finnland, folktronischen Schamanismus aus der Ukraine, klassischen Chanson aus Frankreich, tanzende Nerds aus Island und an vier verkokst-androgyne junge Römer mit einem Garagenrock-Titel. Für einen Contest, der zu großen Teilen durch ein Publikumsvoting entschieden wird, ist das ein ziemlich cooles und vor allem vielseitiges Resultat. Und es zeigt zumindest für dieses Jahr, dass genau dieses Publikum darauf Bock hat. Ein Umstand, der mich ziemlich hoffnungsvoll auf das blicken lässt, was 2022 passiert und der mich vielleicht gerade zu einem ESC-Fan gemacht hat. Zumindest bis auf weiteres.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen