Samstag, 29. Mai 2021

Retro-Review: On A Beau Dire

Jacques Brel - Marieke JACQUES BREL
No. 5 (Marieke)
Philips
1961

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ trocken | elegisch | expressiv | poetisch ]

Als ich mich vor wenigen Jahren für die Liste meiner Lieblingsplatten des Jahres 1961, die dieses Album von Jacques Brel anführte, das erste Mal mit der Musik des Belgiers beschäftigte, staunte ich doch nicht schlecht über die Vielzahl von Informationen und Analysen, die über seine Arbeit im Internet zur Verfügung standen und die eine Tiefe aufzeigen, die mir bei popkulturellen Themen selten begegnet. Sicher ist das auch gerechtfertigt, wir sprechen hier immerhin von einer bewährten Größe des frankophonen Chanson, der über drei Jahrzehnte hinweg relativ erfolgreich war und in der Welt ein gewisses Erbe hat, doch findet das, was beispielsweise die Wikipedia über ihn geschrieben ist, auf einem völlig anderen Level statt als ich das bei Popmusik üblicherweise kenne. Mehr als seine Biografie und sein Werdegang wird sich online damit beschäftigt, wie Brel seine Texte schrieb, welche Metren er verwendete, welche Attribute seinen Gesangsstil auszeichneten und welcher Bildsprache er sich lyrisch bediente. Ein Verständnis von Musik, das mich beim lesen eher an eine Literaturanalyse aus dem Deutschunterricht erinnerte als an Pop, mich als Nerd aber auch wahnsinnig erfreute. Hier wurde effektiv das Werk eines Schlagersängers auf die Bedeutungsebene gehoben, die sonst Leuten wie Friedruch Dürrenmatt oder Albert Camus vorbehalten ist. Und wenn man sich der Wissenschaft hingibt und sich ansieht, was da eigentlich analysiert wird, merkt man auch, wieso dem so ist. Denn sowohl als Lyriker als auch als Performer ist dieser Musiker eine unglaublich spannende Angelegenheit, die mich nachhaltig fasziniert hat. Leider auch mit zwei wesentlichen Hindernissen. Zum einen das der Sprachbarriere (Brel singt auf französisch, manchmal auch flämisch), die für mich natürlich immer erst überwunden werden muss (auch wenn ich nach eigenem Ermessen ein etwas eingerostetes, aber akzeptables französisch vorweisen kann), zum anderen die Tatsache, dass ich bis dato noch immer viele Teile seines Katalogs  nicht online gefunden habe. Die meisten Streaming-Anbieter konzentrieren sich im wesentlichen auf Greatest-Hits-Alben seines Outputs, auf Youtube findet man zusammengestückelte Playlisten, die nicht immer aus den Originalaufnahmen bestehen und physische Rereleases sind rar gesät und teuer. Die hier vorliegende LP ist eine der wenigen von vor 1966, die es in allen Varianten gibt, dabei ist sie rein Release-technisch eine der verwirrenderen. Denn von den bisher drei Auflagen, die davon erschienen, ist keine wie die andere, schon was die bloße Bennenung angeht. Ein kurzer Abriss: Die Original-Vinyl (eine 10-Inch!) von Philips erschien 1961 noch unter der schlichten Nummerierung No. 5 und wurde wie fast alle Alben von Brel einfach titellos gelassen. Eine kanadische Columbia-Pressung der Platte wurde aber wenig später als Jacques Brel No 3, also unter anderer Nummerierung, veröffentlicht (in den Sechzigern war das noch häufiger der Fall, weil Plattenfirmen in Amerika oft eigene Kataloge europäischer Künstler*innen produzierten). Das einzige offizielle Rerelease von 2003 (wieder bei Philips) umging indes alle Zahlendreher und benannte die LP nach ihrem Opener Marieke, was ohnehin schon immer ihr Spitzname bei den Fans war. Auch in Sachen Tracklist sind sich die unterschiedlichen Editionen nicht ganz einig. Zwar sind die acht Songs des Originals auf allen Versionen in der gleichen Reihenfolge vertreten, doch gibt es bei den beiden späteren Auflagen jeweils andere Zusatznummern, die für das entsprechende Album exklusiv sind. Wenn ich an dieser Stelle zu einer Variante raten kann, dann entweder zur ursprünglichen No. 5-LP oder zum Marieke-Rerelease. Letzteres ist vor allem deshalb cool, weil es einige Songs der Platte nochmal mit einer flämischen Textversion enthält sowie das fantastische Laat Me Niet Alleen, das meines Wissens nach auf keinem anderen regulären Tonträger von Brel zu finden ist. Aber kommen wir endlich mal zur Musik und damit zu dem, was diese Songs wirklich interessant macht. Mit gerade Mal 28 Minuten gibt es davon zwar gar nicht mal so viel, doch passiert darin jede Menge. Wobei es erstmal wichtig ist, sich mit Jacques Brel als Performer auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zum größten Teil seiner Zeitgenoss*innen aus dem Bereich Chanson (oder Chanson à Texte, wie man die etwas weniger schlagerige, liedermacherige Variante davon nennt), ist er wesentlich mehr ein Erzähler als ein tatsächlicher Sänger. Generell muss man sagen, dass sein Talent als Vokalist nicht das allergrößte ist und er immer etwas hart und unwirsch klingt. In wesentlichen Teilen seiner Songs sprechsingt er eher vor sich hin und rezitiert seine Texte wie bei einem Gedichtvortrag oder einer Rede. Nur ist es gerade diese Performance, die er beherrscht wie kein zweiter. Viele seiner Songs sind dramatisch und akzentuiert wie ein guter Shakespeare-Monolog, nur eben mit Musik. Und nimmt man die Fähigkeiten dazu, die er als Lyriker hatte, ergibt alles noch viel mehr Sinn. Denn in seinen Texten wälzt Brel zum Teil großartige Poesie, die sehr konkret und bildhaft ist. Mit wenigen Sätzen und geschickten Wortspielen gelingt es ihm, eine Idee auf sehr fesselnde Weise festzuhalten, wobei er immer ein bisschen mehr macht, als nur romantisch oder witzig zu sein. Selbst in oberflächlich schlagerigen Songs wie Le Moribond (das 12 Jahre später unter dem Titel Seasons in the Sun von Terry Jacks zum Hit wurde) oder Les Prénoms de Paris gibt es immer ein kantiges Element, das die Schatten ein bisschen härter zieht und das Geschehnis ein Mü dramatischer beleuchtet. Und spätestens in den melancholischen Tracks wie Marieke oder Le Prochain Amour zahlt sich das so richtig aus. Wenn Brel in ersterem die Kulisse seiner flämischen Heimat beschreibt, hat man förmlich die trostlosen, grauen Kirchtürme vor Augen, von denen er spricht und im resignierten, abgekämpften Vivre Debout scheint jede Zeile ein kleiner Konflikt zu sein. Aber auch in den zackigeren Nummern des Albums erkennt man viel lyrische Cleverness, wie die animalischen Begriffe, die in Les Singes zur Beschreibung junger Pariser*innen dienen oder die kleine soziale Studie von L'Ivrogne. Cool ist auch, dass die Themen der einzelnen Stücke immer sehr gut von der Musik mitgenommen werden. Marieke ist von einem melancholischen Klavier dominiert, das hedonistische On N'Oublie Rien klingt ein bisschen nach Zirkusmusik, Clara überzeugt als hektische Tanznummer, L'Ivrogne klingt nach Kneipe. Das eigentlich besondere und coole ist aber, dass diese unterschiedlichen Ästhetiken nie mit zu viel Hingabe eingegangen werden und immer etwas spärlich ausgestaltet sind. Wenn man so will, sind sie sehr funktional gehalten und damit genau das, was die Lyrik von Brel unbedingt braucht. Die klangliche Ausgestaltung sind wenige Instrumente, die die Szene setzen, in welche die Texte und der Vortrag dann das eigentliche Leben bringen. Ein bisschen wie auf einer Theaterbühne. So funktioniert dieser Künstler wahrscheinlich am besten. Mit Sicherheit kann ich das leider nicht sagen, denn noch immer habe ich den Output von Jacques Brel gerade Mal angeschnitten und bin noch immer auf der Suche nach mehr. Es ist aber auf jeden Fall dieser Platte zu verdanken, dass ich mich auf diese Suche überhaupt erst begeben habe und Interesse an diesem Musiker gefunden habe, das über eine LP hinaus geht. Ganz einfach, weil ich von diesen Songs trotz Sprachbarriere und Release-Verwirrung arg beeindruckt bin. Und während ich noch weiter in die Diskografie des Belgiers einsteige, wird dieses Album auch nicht schlechter. Eher im Gegenteil. Das ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür, dass ich nach zwei Jahren Fandom noch mal unbedingt diesen ausführlichen langen Artikel schreiben wollte. Weil ich es einfach so besonders finde und wahnsinnig viel darüber zu sagen habe. Wahrscheinlich auch in Zukunft noch. Ganz zu schweigen von Jacques Brel an sich, der ein unglaublich spannender und toller Künstler war, bei dem es für mich noch viel zu entdecken gibt. Weshalb ich hoffe, dass ich vielleicht einige mit dieser Abhandlung etwas begeistern und meine Begeisterung teilen konnte. Das letzte Mal wird es ganz bestimmt nicht sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢10/11

Persönliche Höhepunkte
Marieke | Vivre Debout | On N'Oublie Rien | Clara | Le Prochain Amour | Les Prénoms de Paris

Nicht mein Fall
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