Montag, 11. Februar 2019

Beste Platten: 1961


Wenn man über das musikalische Jahr 1961 rückblickend eines charakterisieren kann, dann vielleicht, dass es das Jahr der Erschöpfung und des neuen Aufbruchs war. Das Morgengrauen der Sechziger und die Ahnung von etwas, das in kurzer Zeit unser heutiges Verständnis von Popmusik werden sollte: Jazz ist zwar immer noch die Musik der Leute, die sich für Musik interessieren und gerade Künstler wie John Coltrane oder Bill Evans sind die großen Zahnräder in dieser Saison. Doch es dämmert das Ende einer Ära. Ornette Coleman zerfetzt das Konzept des Genres mit der Erfindung des Free Jazz, Soul rückt mit Platten von Ray Charles und Etta James sowie dem Debüt von Nina Simone in den Vordergrund und hinter den Kulissen des Pop formieren sich erste Surf-Gruppen. Rockmusik ist dennoch größtenteils reines Entertainment: Elvis steht auf dem Höhepunkt seiner Kinokarriere und was abseits davon die Charts füllt, ist kommerziell gefönter Wischiwaschi-Schlager für die neu erschlossene Teenie-Zielgruppe. Zwar gibt es im Herzen der New Yorker Clubs schon Musiker*innen wie Woody Guthrie oder Joan Baez, die eine ernstere Form eines neuen Liedguts anstreben, doch sprechen wir in diesem Zeitabschnitt noch von einem winzigen Nischenphänomen, das nur aus heutiger Sicht irgendeine Relevanz hat. Aber genau deshalb machen ich diese Art von Listen ja eigentlich, um meinen Zeitstrahl aus der Zukunft heraus zu schließen. Hier sind meine zehn Lieblingsalben von 1961:


10.

JOHN COLTRANE
Olé Coltrane
Olé Coltrane ist eine dieser Platten, die ihre Großartigkeit im wesentlichen einem gigantischen Song verdanken, der in diesem Fall der Opener und Titelsong Olé ist. Mit über 18 Minuten Spielzeit nimmt er gut die Hälfte der gesamten LP ein (sprich die komplette A-Seite), die in diesem Fall auch ein wirklicher Aufbruch ist. Mit den herrlichen Flötensolierungen von Eric Dolphy und McCoy Tyner am Piano schafft Coltranes Besetzung hier ein exotisches und pulsierendes Stück, das in meinen Augen zu den besten des großen Saxofonisten gehören dürfte. Die B-Seite kontert mit den zwei ansprechenden Jazz-Standards Dahomey Dance und Aisha, die aber ganz klar nicht mehr als schückendes Jam-Beiwerk sind. Was nicht bedeutet, dass ich diese Platte nur zur Hälfte mag, das Qualitätgefälle reicht hier eben nur von 'sehr gut' zu 'hochgradig visonär'. Da darf sollte man nicht mäklig sein.
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09.

PATSY CLINE
Showcase
 Ich musste mit Bedauern feststellen, dass die Bestenliste von 1960 vom letzten Sommer am Ende doch eine ziemliche Nudelparty war, genauer gesagt war keine einzige Frau darauf vertreten. Und obwohl ein Eintrag auf Platz neun für Patsy Cline auch alles andere als ausgeglichen ist, bin ich froh, dass sie überhaupt hier ist. Und im Gegensatz zu einem jammerigen Elvis oder einem frivolen Sinatra war sie für damalige Verhältnisse ziemlich tough und singt schnulzige Lovesongs mit einer Prise Gift in der Stimme, die Anfang der Sechziger schon viel bedeuten kann. Klar ist das nichts gegen eine Flüche flüsternde Nina Simone, aber rein musikalisch war die 1961 noch ganz am Anfang. Im Gegensatz zu Cline, die hier ein hochprofessionelles Country-Pop-Album mit reichlich Schubidu und oh darling abliefert, das man schon auch mögen muss. Aber wie ihr seht, tue ich scheinbar genau das.
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08.

ERIC DOLPHY
Eric Dolphy at the Five Spot Vol. 1
Jazz-Livealben sind die einzig wahren Jazz-Alben, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Wo andere Platten sich zwar auch auf die Kunst der Improvisation berufen und ihren Session-Charakter beschwören, ist es doch nochmal was anderes, hier ein tatsächliches Konzert zu hören. Große Künstler wie Booker Little, Eddie Blackwell und eben Eric Dolphy, gemeinsam in einem Raum an einem von vielen Show-Abenden im legendären New Yorker Club Five Spot, die hier eine von tausend Varianten ihrer Songs abnudeln. Gerade Mal drei Titel spielt die Band auf dieser LP, allesamt weit über zehn Minuten lang und gespickt mit endlosen genialen Solierungen und Callbacks, die nicht nur technisch brilliant, sondern auch wahnsinnig energisch sind. Für Auftritte wie diese wurde Bebop erfunden, und hier wurde er einmal in äußert lebendiger Form festgehalten.
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07.

JOHN COLTRANE
My Favorite Things
Ich sagte ja, dass Coltrane damals ziemlich busy war. My Favorite Things ist das erste Album, das er 1961 veröffentlichte und gleichzeitig das erste seines eigenen Quartetts, nachdem er im Jahr zuvor die Band von Miles Davis verlies. Als solches zeigt es vor allem sehr eindrücklich die spielerischen Fähigkeiten des Saxofonisten, mit denen er hier ein paar Musical-Klassiker und bekannte Standards improvisatorsich bearbeitet. Seine Interpretation des Titelstücks aus the Sound of Music dürfte zu den bekanntesten Versionen überhaupt zählen und auch der Twist, den er George Gershwins Summertime verpasst, ist ziemlich markant. Es ist nicht zuletzt die Tatsache, dass er hier solche etablierten Stücke einspielt, die diese LP zu etwas besonderem machen. So viel Kreativität aus bereits endlos verwursteten Nummern zu holen, schaffen nur äußerst talentierte Musiker*innen, und John Coltrane setzt damit nach dem vor allem technisch anspruchsvollen Giant Steps ein weiteres starkes Zeichen für seine Fähigkeiten als Bandleader und großartiger Solomusiker.
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06.

DONALD BYRD
Royal Flush
In meinen Augen ist der Trompeter Donald Byrd, obwohl er seinerzeit ein überaus erfolgreicher Musiker war, aus heutiger Sicht eine der sträflich unterschätzten Figuren des Modern Jazz. Als nicht unbedingt besonders konsistenter oder extrovertierter Geselle, der eher durch sein beachtliches Arbeitspensum auffiel (über 50 Alben gingen bis zu seinem Tod 2013 auf seine Kappe), ist er vielleicht keine besonders strahlende Figur, aber eine, die immer wieder überrascht. Und gerade Royal Flush ist eine dieser Platten, die das ständig tun. Jeder Song hier ist eine neue Wendung, immer wieder wechselt Byrd hier die Marschrichtung und findet im Minutentakt neue Wege, die Grenzen seines Instruments neu auszureizen. Er ist dabei nicht so filigran und pointiert wie ein Miles Davis, sondern eher naiv und auch mal grobschlächtig, was manchmal auch zum Problem wird. Auf dieser LP jedoch haut es mal 41 Minuten lang hin, weshalb es auch definitiv eine seiner besten ist.
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05.

THE GIL EVANS ORCHESTRA
Out of the Cool
 Man könnte lange und ausführlich darüber schreiben, wie aufwändig und durchdacht das gesamte Konzept hinter Out of the Cool ist und wie langwierig sein Entstehungsprozess war, doch eine der besten Sachen an dieser LP ist, dass sie auch ohne all dieses Hintergrundwissen funktioniert. Wichtig ist vielleicht nur, dass Gil Evans ein guter Kumpel von Miles Davis war, weshalb das hier vielleicht so etwas wie der kleine Bruder von Sketches of Spain sein könnte. Auch Evans kratzt mit seinen Kompositionen an der Grenze zur klassischen Komposition, seine Band ist nicht zuletzt ein ganzes Orchester und die messerscharfen, schnarrenden Trompetensoli kann sein Abgeordneter Johnny Coles fast genauso gut wie Davis. Was Out of the Cool unterscheidet ist die gleichzeitige Leichtigkeit, mit der Evans hier agiert und wie er sich auch für moderne Pop- und Blues-Elemente nicht zu schade ist. Für die damalige Zeit macht das diese Platte zu einem sehr kosmopoliten Werk, das für die heilige Welt des Jazz ziemlich expressiv und bunt klingt. Was aber letztendlich auch der Grund ist, warum es hier steht.
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04.

MILES DAVIS
Someday My Prince Will Come
Miles Davis hätte nicht mal ein normales Album aufnehmen können, wenn er es darauf angelegt hätte und Someday My Prince Will Come ist vielleicht die Platte, die dem in seiner Diskografie zumindest am nächsten kommt. Das Quintett-Routineprojekt, dass ihm Columbia damals wahrscheinlich im Ausgleich für das horrend experimentelle Sketches of Spain abverlangte, ist voller hübsch gespielter Standards, melodieverliebt, gemütlich und durchweg Cool Jazz im besten Sinne. Dass hier große Namen wie Hank Mobley und John Coltrane als Gäste zu hören sind, fällt abgesehen von der Ankündigung auf dem Cover gar nicht auf und wie immer bei seinen Alben ist es Davis, der die Musik durchschneidet. Ein relativ unspektakulärer Eintrag in seinem Katalog, der dennoch unglaublich faszinierend und so viel klarer klingt als der meiste Konsens-Jazz aus dieser Zeit.
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03.

RAY CHARLES
the Genius Sings the Blues
Wenn es einen Musiker gab, der in der Zeit Anfang der Sechziger absolut den Status des absolut unfickbaren inne hatte, dann war das definitiv Ray Charles. Zumindest in der afroamerikanischen Soul-Community eilte dem Sänger und Pianisten, den man schließlich nicht umsonst 'the genius' nannte, fast der Ruf eines heiligen voraus und wer damals in seiner Band spielte, hatte es nicht nur in finfzieller Hinsicht geschafft. Nicht zuletzt, weil er eben in diesen Jahren auch seine mit Abstand besten Platten veröffentlichte. The Genius Sings the Blues, dem Namen nach unschwer als "seine Blues-LP" auszumachen, ist zum besten voll mit Hits, die das trockene Lamento von Muddy Waters und Howlin' Wolf in den glamourösen Major-Soul-Sound von Charles übersetzen. Von den vielen Blues-Tangenten, die der Sänger im Laufe seiner Karrier einspielte, dürfte dieses Album dabei mit Sicherheit das authentischste sein, das am nächsten an den Wurzeln des Genres wächst. Definitiv eines meiner Lieblingsprojekte des Genius.
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02.

RAY CHARLES
Genius + Soul = Jazz
Ja, verdammt, warum nicht gleich nochmal? Wie gesagt, die beginnenden Sechziger waren die absolute Blütezeit des Ray Charles und 1961 ganz besonders das Jahr, in dem er einen Hit nach dem anderen rausballerte. Und wo Genius Sings the Blues das torfige, rustikale Blues-Album ist, heizt Genius + Soul = Jazz (der Titel ist als einziges hier totaler Humbug) mit einer Breitseite aus gigantoeskem Bigband-Swing durch die Decke. Papa Charles sitzt diesmal an der Hammondorgel statt am Klavier und singt nur gelegentlich, dafür ist diese LP auch ein erster großer Auftritt für einen zukünftigen Soul-Großmeister: Quincy Jones leistet hier gemeinsam mit Ralph Burns als Arrangeur ganze Arbeit und ist für die Großartigkeit der Platte mindestens genauso verantwortlich wie Charles selbst. Eine der eher ungewöhnlichen Arbeiten aus der damaligen Phase des Genius, aber auch ganz klar eine der bemerkenswertesten.
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01.

JACQUES BREL
Marieke (Vol. 5)
Jacques Brel ist sicherlich eine der spannendsten Figuren des französischen Chanson, und das aus ganz unterschiedlichen Gründen. Zum einen, weil er eigentlich gar kein Franzose ist, sondern gebürtiger Belgier, zum anderen, weil er eine so dermaßen andere Performance dieser Musik kultivierte als seine meisten Kolleg*innen. Seine Art zu singen ähnelt eher der eines Theaterschauspielers als eines Chansonniers, seine Texte sind zum Teil sehr düster, markaber und fast nihilistisch und die dazugehörige Musik nicht minder deprimierend. In den frühen Sechzigern war er so etwas wie der Tom Waits seiner Sparte und in diesem Zusammenhang ist Marieke vielleicht auch seine finsterste Platte. Songs über den Tod, Vergänglichkeit, die Dummheit der Menschen und Erinnerungen prägen den Ton dieser sehr zynischen und melancholischen LP, auf der die ganze Kantigkeit von Brel perfekt zur Geltung kommt. Wie um das zu unterstreichen tauscht er hier das erste Mal anmutige französische Texte gegen die Ruppigkeit seiner flämischen Muttersprache und suhlt sich damit in seiner eigenen Imperfektion. Ein künstlerisches Zeichen, das in nicht nur in einer seiner ehrlichsten Arbeiten, sondern auch in seiner vielleicht besten resultiert.

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