Samstag, 1. Mai 2021

1000kilosonars Oldies: Meine Lieblingsplatten 1965

 

Es hat jetzt doch wieder länger gedauert als ich dachte und am Ende habe ich sicherlich über 100 Platten, inklusive mindestens 20 verschiedener Versionen von La Bamba, gehört, aber am Ende hat sich doch wieder alles ganz gut gefügt. Mit insgesamt 22 Longplayern, die ich nun ganz offiziell meine Lieblingsalben aus der Saison 1965 nennen kann. Die Auswahl war dabei natürich mal wieder nicht einfach und auch diesmal dürfte das Ergebnis einigermaßen kontrovers sein (auch auf dieser Liste wird keine LP der Beatles vorkommen), deshalb gleich an dieser Stelle die üblichen Disclaimer:
 
1. Diese Liste ist zu 100 Prozent subjektiv und reflektiert nicht mehr und nicht weniger als meine eigene Auffassung. Wenn etwas hier nicht auftaucht, kenne ich es entweder nicht oder ich fand es nicht so nennenswert, dass es hier auftaucht

2. Diese Liste ist nicht endgültig. Es kann vorkommen und ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ich meine Meinung zu Einträgen hier zu einem späteren Zeitpunkt ändere oder hinterfrage.
 
Was strukturelles zu klären wäre, wäre damit geklärt. An dieser Stelle trotzdem noch ein Einstieg in die Erfahrungen, die ich während des Hörens gemacht habe und die für mich irgendwie immer den Charkter des Jahres beschreiben, das ich hier betrachte. Wobei 1965 mehr als alles andere bisher das Jahr der British Invasion, Mod und der Beatmusik ist. Auch wenn die wirklich einflussreichen Impulse dieses Zeitfensters schon einige Jahre früher gesetzt wurden, merkt man in dieser Zeit sehr deutlich, wie ein großes Feld im Mainstream nachzieht. Die ersten wichtigen Alben der Kinks, der Yardbirds, von the Who und den Zombies erscheinen, die die britische Szene erst zu dem Phänomen machen, das in die Geschichte eingeht. Als viel spannender empfinde ich persönlich aber das Echo, das die Bewegung international auslöst und auch außerhalb des englischen Sprachraums Gruppen wie Pilze aus dem Boden schießen lässt. Wichtige Vertreter dabei sind Los Shakers aus Uruguay, Los Speakers aus Kolumbien, the Motions und Golden Earring aus den Niederlanden, Tages aus Schweden, die Rattles aus der BRD und Los Brincos aus Spanien. Obgleich die meisten dieser Formationen mit eher bescheidener Virtuosität und Vision gesegnet sind, ist es doch in den meisten Fällen extrem spannend sich ihre Songs anzuhören. Sie zeigen in der Popgeschichte einen frühen globalen Trend hin zu einer bestimmten Musik, wobei der Faktor der Niedrigschwelligkeit definitiv Anziehungsfaktor ist. Beat und Mod bleibt dabei allerdings generell ein Stil, der für mich eher in Form von schmissigen Singles funktioniert und in dieser Liste weiterhin selten auftaucht. Die Beatles aus wesentliche Schöpfer des Sounds sind 1965 sowieso schon weitergezogen und lassen auf Rubber Soul die ersten Knospen des psychedelischen Rock aufkeimen. Ein weiterer wichtiger Trend dieser Saison scheint Popmusik aus der Karibik zu sein, wobei in erster Linie erstmal egal ist, was genau. Ska hatte schon im Jahr davor seine 15 Minuten in den britischen Charts und baut sich weiter auf, aber auch Calypso, Samba und kubanischer Jazz finden (oft in stark auf ein amerikanisches Publikum hingebogenen Varianten) Anklang. Großer Gewinner des Jahres ist auf jeden Fall der Song La Bamba, der in dieser Zeit von fast allen wichtigen Mainstream-Acts interpretiert wird. Vor allem in den USA außerdem beliebt: Bob Dylan covern. Die Blues-Künstlerin Odetta nimmt 1965 gleich ein ganzes Album mit Bearbeitungen seiner Songs auf, diverse andere (besonders im Country-Bereich) vergreifen sich teils auf frevelhafte Weise an seinen bisherigen Hits. Für den Meister selbst wird das Jahr zum kreativen Scheidepunkt. Bei seinem Auftritt auf dem Newport Folk Festival dieser Saison spielt er eine Hälfte seines Sets mit elektrischer Instrumentierung, was die Welt des Folk-Revivals, aus der er ja selbst stammt, sehr plötzlich gegen ihn aufbringt. Dieselben elektrischen Gitarren sind wenig später auch auf seinen zwei Platten aus diesem Jahr, Highway 61 Revisited und Bringing It All Back Home, zu hören, die heute beide als Meilensteine seiner Karriere gelten. Die Trends in der Popmusik bleiben aber weiterhin moderat. Aus der dahinscheidenden Swing-Ära und dem Musical-Hype der frühen Sechziger haben Künstler*innen wie Barbra Streisand, Dusty Springfield und Petula Clark Kapital geschlagen, die pompöse Platten voller Musiktheater-Intonationen veröffentlichen und damit sehr erfolgreich werden. Damals zählt sowas dann teilweise noch unter dem Begriff "Soul", der erst in den folgenden Jahren mit letzter Konsequenz umgedeutet werden soll. Und natürlich findet auch Jazz weiterhin statt, zieht sich aber wesentlich aus der öffentlichen Wahrnehmung und dem Mainstream zurück. Wenn 1965 eines markant ist, dann die Bildung erster europäischer Jazz-Bubbles in Polen, Frankreich und der BRD, vor allem im Bereich Avantgarde- und Free Jazz. Diese sind vor allem dadurch spannend, dass sie eine vereinte Identität von musikalischem Ausdruck suchen, statt wie sonst oft in lokale Splittergruppen aufzugehen und sich zu diversifizieren. Zu guter letzt kann ich außerdem mit Freude verkünden, dass die nun folgende Liste mit dem Album Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von Franz Josef Degenhardt das erste deutschsprachige Stück Musik seit Beginn meiner Chronologie enthält. Vielfältiges ist also definitiv dabei in diesen 22 Platten. Ich hoffe es sind ein paar darunter, die auch Ihr für Euch entdecken könnt.
 
 
 
 
22.
ANDRZEJ KURYLEWICZ
Polish Radio Big Band
Swing
 
Dass unter den Pionierszenen für avantgardistische Jazzmusik in Europa, die Mitte der Sechzigerjahre aufkeimten, ausgrechtet Krakau zu den wirklich nennenswerten Locations gehörte, scheint erstmal ungewöhnlich. Wenn man aber nur ein wenig recherchiert, wird die Sachlage schnell verständlich: Nachdem während der Fünfziger unter dem Einfluss des Stalinismus Jazz in Polen verboten war, gab es dort bis in die Sechziger hinein eine echte Euphorie für diese Musik, und in Krakau befand sich die renommierte Musikakademie, von der aus viele junge Talente ihre Karrieren begannen. Andrzej Kurylewicz war dabei gleichzeitig Gewinner und Verlierer. Nachdem er zehn Jahre zuvor noch wegen seiner Beteiligung in einer illegalen Jazzband von der Uni gefolgen war, war er 1965 bereits Leiter der des nationalen Radio- und Fernsehorchesters, dessen Aufnahmen man unter anderem auf diesem Longplayer hört. Im Gegensatz zur Arbeit vieler unabhängiger polnischer Szene-Künstler*innen, die zeitgleich sehr avantgardistische Musik machten, ist diese Musik noch sehr im glamourösen Swing und Big Band-Style der späten Fünfziger verhaftet, als solche aber fabelhaft gemacht. Dass Kurylewicz in Polen später vor allem durch Fernsehsoundtracks zum Star wurde, ergibt mit diesem Hintergrund auf jeden Fall Sinn.

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21.
Franz Josef Degenhardt - Spiel nicht mit den Schmuddelkindern 
 
FRANZ-JOSEF DEGENHARDT
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Liedermacher

Es mag auf den ersten Blick ein bisschen angestaubt klingen, was Franz Josef Degenhardt hier für Musik schreibt und allein der Begriff des Liedermacher-Genres, in dem seine Songs sehr verhaftet sind, macht sicherlich bei einigen die Scheuklappen zu. Doch nicht nur sprechen wir bei Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von einer der Platten, die diese stilistische Bezeichung überhaupt erst formten, vor allem ist vieles hier im Sinne einer sozialkritischen Beobachtung spannend. Mit Stücken wie Wölfe Mitten im Mai, Deutscher Sonntag oder dem Titeltrack hält Degenhardt auf eine satirsche, anklagende Weise die Generation eines Landes fest, die nach einem verlorenen Weltkrieg und dem Ende des dritten Reiches vor allem in Schweigen und Verdrängung existiert. Mit seiner klaren Attitüde gegen Spießertum, Klassismus, Disziplinsprinzipien und das Vergessen der jüngsten Vergangenheit fühlt sich dieses Album inzwischen fast an wie ein historisches Dokument. Vor allem auch dadurch, wie direkt man hier teilweise die Verbindungen zu Forderungen der 68er-Bewegung und der bundesdeutschen Variante der Gegenkultur ziehen kann. Musikalisch hat es dabei ebenfalls erstaunlich gut durchgehalten und ist lyrisch wesentlich unpeinlicher als viele spätere Werke aus dem berüchtigten Liedermacher-Bereich. Also ja, das hier kann man auch 2021 noch hören.

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 20.
The Andrzej Trzaskowski Quintet - The Andrzej Trzaskowski Quintet 
THE ANDRZEJ TRZASKOWSKI QUINTET
the Andrzej Trzaskowski Quintet
Free Jazz
 
 Noch ein Typ der Andrzej heißt, der aus Krakau kommt und dessen Rolle in der polnischen Jazz-Geschichte unumgänglich ist. Im Falle von diesem hier, Andrzej Trzaskowski, kann man sogar argumentierten, dass er für die Entwicklung des gesamteuropäischen Jazz unabdingbar war. Vor allem mit diesem Album, seinem eigenen Debüt, gilt er in Fachkreisen bis heute als heimlicher Wegbereiter des Free Jazz auf dem Kontinent, der zwar nie richtig Anerkennung für seine Pionierarbeit bekam, aber anscheinend tatsächlich der erste war, der diesseits des Atlantik solche Musik spielte. Sein kompositorischer Ansatz ist dabei einer, der wesentlich mehr zur klassischen Musik hin tendiert als der vieler amerikanischer Kolleg*innen und trotz seiner kargen und minimalistischen Art, die sich teilweise eher wie die Arbeit eines Trios anhört, etwas sehr starkes und robustes hat. Historisch vielleicht eher was für Komplettist*innen der globalen Jazz-Evolution, klanglich aber auch ohne die ganze trockene Theorie spannend.
 
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19.
Os  Megatons - Os Megatons
OS MEGATONS
Os Megatons
 Surfrock
 
Surfrock hatte 1965 seinen Zenit eigentlich schon längst überschritten, tauchte nur bisher selten in diesen Listen auf. Die Megatons aus São Paulo kommen also spät zur Party, heizen sie aber erst richtig an. Auf dem einzigen richtigen Album der Brasilianer hört man klassische Sounds und Motive, unter anderem eine Variation des Standards Misirlou, das mit Castagnetten durchsetzte Lawman oder das urlaubig-verträumte Aloha-Oe, die alle Instrumental gehalten sind. Spektakulär kreativ ist die Platte dabei in den wenigsten Momenten, wird aber auch selten so monoton und kommerziell hingebogen wie die Releases vieler US-amerikanischer Künstler*innen, der etwas tonnige DIY-Sound tut sein übriges. Wenn es nach mir geht, haben Os Megatons also vor allem den Vorteil, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, wo sie sich keinem Trend mehr fügen müssen. In einem Land wie Brasilien, wo kein Hahn nach Surfrock kräht, zwei bis drei Jahre nach dem großen Hype. Somit eines der ganz wenigen zeitgenössischen Projekte aus diesem Bereich, die ich auch im Sinne eines Gesamtkonzeptes empfehlen kann.

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18.
Frank Sinatra - September of My Years
FRANK SINATRA
September of My Years
Kammerpop

Dick auftragen konnte Frank Sinatra ja schon immer und so jeden Mist irgendwie grandios und smooth klingen zu lassen ist in meinen Augen sein größtes Talent. Doch dass er gerade für sein autobiografisches Midlife-Crisis-Album den meisten Zinnober und die herrlichste Nonchalance auffährt, finde ich selbst für seine Verhältnisse ein bisschen drüber. Wo andere auf solchen Platten gerne die Regler etwas runter drehen und über ihre persönlichen Fehler nachdenken, bucht der Chansonnier sich hier erst recht das große Orchester und feiert in seinen Songs die eigene Vollkommenheit. Dass September of My Years bei weitem das beste Album seiner gesamten Karriere ist, ist da nur konsequent. Vor allem die cineastischen und extrem filigranen Streicherarrangements von Gordon Jenkins machen diese LP jedes Mal zu einem grandiosen Erlebnis und dass ein Sinatra singen kann, sollte ja nichts neues sein. Auch ist das hier aus heutiger Sicht eines der wenigen Projekte, die man von ihm auch heute noch hören kann, ohne gleich kolossale Creep-Attacken davon zu bekommen. Und in gewisser Weise muss ich auch einfach zugeben, wie ehrlich schön ich dieses Album finde. Nicht trotz, sondern gerade wegen des Charakters, den sein Interpret hier an den Tag legt.

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17.
Jorge Ben - Big Ben
JORGE BEN
Big Ben
MPB

Ich habe mir die Diskografie von Jorge Ben nun inzwischen bis weit in die Siebziger hinein anvertraut und so viel kann ich versprechen: Auf diesen Listen wird er definitiv noch ein paar Mal auftauchen. Mit dem dritten Album in Folge, dass in einer meiner Oldies-Listen auftaucht, zeigt er sich für mich auch nicht nur als wichtiger Pionier der neuen brasilianischen Popmusik, sondern auch als jemand, der diesen Sound weiterhin interessant bleiben lässt. Sein vierter Longplayer Big Ben öffnet den vornehmlich akustischen Style seiner ersten Platten nochmal spürbar in Richtung einer ausgewachsenen Band-Ästhetik, die spätestens hier auch nicht mehr vor aufwändigen Streicher- und Bläsersätzen zurückschreckt. Unter all dem Zinnober bleibt er aber auch hier der selig-harmonische Pop-Songwriter, der geniale Tracks aus dem Ärmel schüttelt wie wenige seiner Stil- und Zeitgenoss*innen. Prinzipiell bleibt also das tollste an ihm, dass für alle was dabei ist.

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16.
Astrud Gilberto - The Shadow of Your Smile
ASTRUD GILBERTO
the Shadow of Your Smile
Bossa Nova

Mit ihrem Gesangspart in der legendären Hit-Version von the Girl From Ipanema wurde Astrud Gilberto 1963 weltbekannt, in der Welt des Bossa Nova ist sie aber keinesfalls eine Randfigur. Gemeinsam mit ihrem Mann João Gilberto bildete sie in den frühen Sechzigern das ultimative Powercouple der brasilianischen Popmusik, wobei beide während dieser Zeit für prägende Platten verantwortlich waren. Wo sein Part aber eher im instrumentalen Jazz-Bereich der Szene lag, war Astrud für damalige Verhältnisse definitiv eine Popsängerin, die auf ihre Art diesen Stil anführte. Auf ihrem zweiten Soloalbum the Shadow of Your Smile zelebriert sie zum einen jenen folkig-entrückten Vibe von Bossa Nova, der damals gerade cool war, kann aber auch eine schmissige Hook mit Big Band-Backing verkaufen. Dass sie dabei mitunter englische Texte singt und ihre Songs definitiv auf ein US-amerikanisches Mainstream-Publikum zugeschnitten sind, ist da nur konsequent. In meinen Augen und nach meinem momentanen Kenntnisstand trotzdem das beste Album, das die Familie Gilberto jemals produzierte und ein echtes Schmuckstück in der Lore des sanften Bossa Nova.

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15.
Hedy West - Old Times and Hard Times
 
HEDY WEST
Old Times & Hard Times
Folk
 
Ich hätte echt damit gerechnet, dass mich ein Album wie dieses mehr nerven würde als es das tut. Und dass Old Times & Hard Times so gut ist, liegt am Ende zu großen Teilen daran, wie es geschafft wird, das Momentum aufrecht zu erhalten und Monotonie und Nervigkeit zu entgehen. Auf den 13 Tracks dieser LP begleitet sich Hedy West auf minimalistischste Weise selbst am Banjo und hat darüber hinaus jenes damals im Folk-Bereich trendige Joni-Mitchell-Joan-Baez-Vokal-Timbre, das in den Höhen etwas anstrengend werden kann. Das Potenzial des Totalausfalls ist also auf jeden Fall gegeben und ich kann definitiv nicht dafür garantieren, dass diese Platte allen gleichermaßen gefällt. Ich jedoch schätze die gleichermaßen würdevolle und lässige Art und Weise, wie sich West hier traditionellem appalchischem Folk-Material widmet und damit eines der coolsten Projekte aus dem Old-Time-Bluegrass-Bereich des damaligen Country-Kosmos einspielt. Und wie sie das eben in vielen Momenten besser macht als eine Joan Baez, die mit dem gleichen Zeug wirklich nervtötend klang.

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14.
Sun Ra and His Myth Science Arkestra - Angels and Demons at Play 
SUN RA & HIS MYTH SCIENCE ORCHESTRA
Angels and Demons at Play
Free Jazz

Angels and Demons at Play war die erste von insgesamt fünf Sun Ra-Platten, die 1965 erschienen und ist darunter sicherlich nach wie vor die bekannteste. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie eine seiner zugänglicheren ist. Aufgenommen wurden die acht Tracks, die bescheidene 23 Minuten füllen, teilweise schon zehn Jahre zuvor und bündeln älteres Material, weshalb das meiste hier auch noch eher nach moderatem Post-Bop klingt als nach dem völlig abgefuckten Free Jazz, den Sun Ra inzwischen machte. Als halbwegs smooher Einstieg in seine Diskografie funktioniert die Platte dabei auf jeden Fall, auch wenn sie von der Gemütlichkeit eines John Coltrane oder selbst Charles Mingus immer noch eine ganze Ecke entfernt ist. Aber zumindest was den Sechziger-Output des Meisters angeht, wird es wahrscheinlich auch nicht mehr normaler. Und wenige sind so drauf wie ich und befinden das als eine gute Nachricht, weshalb gerade diese LP gut funktionieren könnte.

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13.
Wes Montgomery - Movin' Wes 
WES MONTGOMERY
Movin' Wes
Jazz
 
Wes Montgomery ist generell ein Musiker, den ich vordergründig für seine technischen Chops schätze. Diese LP ist unter allen, die ich von ihm bisher gehört habe aber mit Abstand die fetzigste. Wo man vorher schon zweifelsohne merkte, dass er ein affig genialer Gitarrist ist, der mit seiner Performance ohne große Ego-Gniedelei das Zentrum einer jeden Platte sein kann, ist Movin' Wes definitiv die Platte, auf der er seine Skills auch ein bisschen raushängen lässt. Ganz einfach weil er es kann. Obwohl Montgomery hier mit einem größeren instrumentalen Backing arbeitet und im Zuge dessen nicht selten gegen ein halbes Orchester anspielt, bleibt er stets der Boss in seinen Tracks, die dann auch sein ganzes klangliches Spektrum ausschöpfen. Mal ist er Ruhepol und schnuffliger Vibe-Ausstrahler, mal actiongeladener Virtuose und mal frickeliges, verrücktes Genie. Wenn also ein Album endgültig nachweisen sollte, warum ich diesen Typen für den Eddie van Halen des Jazz halte, dann ist es dieses hier.
 
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12.
GUNTER HAMPEL QUINTET
Heartplants
 Jazz

1965 war das Jahr, in dem Jazz aud Europa zum ersten Mal ernsthaft nicht nur im Sinne eines Imports stattfand, sondern an vielen Stellen versucht wurde, eine eigene Identität zu schaffen, wie wir auf dieser Liste schon gesehen an einigen polnischen Platten gesehen haben. Für die damalige BRD ist in diesem Sinne der Düsseldorfer Gunter Hampel eine Galleonsfigur, der in den frühen Sechzigern versuchte, Brücken zwischen den einzelnen Jazz-Bubbles in Westeuropa zu schlagen und einen Sound zu erschaffen, der sich von den stilistischen Wurzeln in den USA löst. Sein Debüt Heartplants ist in disem Bestreben ein erster Gehversuch, der zwar noch ziemlich nach dem amerikanischen Post-Bop und Free Jazz - vor allem von Charles Mingus und Miles Davis - klingt, aber damit auch schon sehr kreativ umgeht. Allein die instrumentale Vielfalt dieser LP ist ziemlich beeindruckend und künstlerisch gesehen sind die fünf Tracks ein absolutes Füllhorn. Wobei man auf jeden Fall sagen kann, dass seine Idee von europäischem Stil schon hier sehr ins intellektuelle umkippt und etwas herausfordernder ist. Was für euch als Hörende auf jeden Fall bedeutet, dass man das hier vielleicht nicht Hals über Kopf angehen, sondern mit Vorsicht genießen sollte.

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11.
Sun Ra and His Myth Science Arkestra - Fate in a Pleasant Mood
SUN RA & HIS MYTH SCIENCE ARKESTRA
Fate in A Pleasant Mood
Jazz

Dass Sun Ra in dieser Phase Mitte der Sechziger eigentlich nichts weiter machte als mal ordentlich sein schon damals stattliches Session-Archiv auszumisten und altes Material zu veröffentlichen, konnte auch nichts daran ändern, dass diese damals erschienene B-Ware heute zu seinen besten Sachen überhaupt zählen dürfte. Fate in A Pleasant Mood, das zwischen 1960 und 1961 aufgenommen wurde, ist ein sehr wildes und sinfonisches Jazz-Album an der Schwelle zwischen progressivem Bop, einer Idee von Afrojazz und improvisatorischer Extravaganz, das in seinen lediglich 26 Minuten eine ganze Menge Schwungmasse erzeugt. Mit extrem viel Chemie zwischen den Mitgliedern des Arkestra und brillianten Leitmotiven des Meisters sind es hier die klanglichen Details, die mich begeistern. Die ganz leichten Dissonanzen überall, das ungewöhnliche Timbre der Holzbläser, an was für unterschiedlichen Stellen das Schlagzeug im Mix rumhängt. Im Katalog von Sun Ra ist es damit nur eines von vielen sehr guten Alben und in dieser Liste noch nicht mal mein Highlight, aber definitiv zu gut, um übersehen zu werden.

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10.
Johnny Pacheco - Viva África 
JOHNNY PACHECO Y SU NUEVO TUMBAO
Viva África
Salsa

Am 15. Februar 2021 verstarb mit Juan Azarías "Johnny" Pacheco Kiniping einer der prägenden Charaktere der lateinamerikanischen Musik in den Sechzigern, auf dessen Einfluss als Bandleader und vor allem Labelgründer von Fania Records sehr wahrscheinlich maßgeblich die Beliebtheit von Salsa, Son Cubano und Calypso in den USA zurückzuführen ist. Dass er außerdem ein fantastischer Musiker war, zeigen in dieser Liste gleich zwei Alben von ihm, eines davon ist dieses. Ich habe dabei zwar keine Ahnung, was die Musik hier mit Afrika zu tun hat, klasse ist sie aber so oder so. Ergänzend zum flamboyanten und tanzbaren Flute & Latin Jam (ebenfalls auf dieser Liste) ist diese LP ein ganzes Stück ruhiger, fängt aber auf coolere Weise die soulige und melodische Seite des karibischen Salsa ein, was eigentlich genauso genial klingt. Vieles hier erinnert sehr an die bekannten Parameter des kubanischen Jazz, nicht zuletzt weil Pacheco gesanglich ein bisschen an Ibrahim Ferrer erinnert. Und wo Flute & Latin Jam die Platte mit den ausgedehnten Improvisations-Eskapaden ist, ist Viva África diejenige, auf der der New Yorker die eingängigen Songs und Hooks parkt, die über Tage hinweg hängen bleiben. So hat man in diesem Jahr irgendwie beide Extreme von ihm und beides auch noch richtig gut.

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09.
François Tusques - Free Jazz
FRANÇOIS TUSQUES
Free Jazz
Free Jazz
 
Ähnlich wie ein Gunter Hampel in der BRD und Andrzej Trzaskowski in Polen war auch François Tusques in seiner Heimat Frankreich der lokale Pionier des Free Jazz, der sich auf seine Weise in die Formierung einer europäischen Kunstjazz-Ästhetik einfügte. Anders als die beiden erstgenannten wuchs er aber ohne eine formelle Musikausbildung auf und war weniger intellektuell vorgeprägt, was man auf diesem Debütalbum auch merkt. Die klassischen Motive aus der Neuen Musik, die sonst die ersten Schritte des europäischen Impro-Jazz pflasterten, hört man hier nicht, Tusques' Ansatz ähnelt an vielen Stellen eher dem amerikanischen Coleman-Modell des ekstatisch freien, relativ strukturlosen Spiels. Das macht es zwar an vielen Stellen nicht so verschnickt und technisch clever wie die Werke von Hampel oder Trzaskowski, packt dafür aber wesentlich mehr Action in seine Klanggebilde und ist dynamisch nochmal einen ganzen Zahn zackiger. Kunstig ist es am Ende ja trotzdem, hier aber auf diese verwilderte und anarchische Art, die Jazz für mich leider nur sehr selten hat.

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08.
Zimbo Trio - Vol. 2
ZIMBO TRIO
Vol. 2
Samba

Schon das erste Album des Zimbo Trios wäre letztes Jahr fast in meiner 1964er-Liste aufgetaucht und es hat sicher seine Qualitäten. Vol. 2 ist in meinen Augen aber nochmal der bessere Einstieg und definitiv das coolere Gesamtwerk. Relativ klassisch-jazzig geprägter Samba mit starker MPB-Schlagseite, der aber nicht lümmelig-fahrstuhlig dahinseiert wie viele Platten aus diesem Bereich, sondern auch mal ein bisschen die Füße hochbekommt. Wichtiges Kriterium dafür ist die spürbare Verbindung der Band zu den Traditionen des nordamerikanischen Be- und Hard-Bop sowie die atemberaubende technische Brillianz, die sie hier an den Tag legen. Besonders Pianist Amilton Godoy und Drummer Rubinho Basotti, die hier eine hochgradig effiziente performativ-klangliche Jongliermaschine bilden, finde ich dabei krass beeindruckend und stimmungsvoll. Damit ist diese LP vielleicht nicht die progressivste brasilianische Pop-Platte dieser Liste, aber mit Sicherheit die mit der größten Virtuosität.
 
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07.
Nina Simone - Pastel Blues 
NINA SIMONE
Pastel Blues
Soul

Pastel Blues bleibt in der Diskografie von Nina Simone mehr oder weniger die einzige LP, die sich heute objektiv als einen Klassiker bezeichnen lässt, was in meinen Augen auch durchaus gerechtfertigt ist. Obgleich ich für meinen Teil nach wie vor stärker von ihrem fantastischen Live-Output überzeugt bin, kann man in Sachen Studioalben hier wenig falsch machen. Nicht nur gibt es auf dieser Platte die bekanntesten Fassungen von Simone-Schlüsseltracks wie Nobody Knows You When You're Down and Out, Strange Fruit oder Sinnerman, hier überträgt sich auch endlich mal vollständig das performative Talent dieser Künstlerin auf die Konserve. Mal ganz abgesehen davon, dass auf Pastel Blues jene wichtige emanzipatorische Attitüde mitschwingt, die heute große Teile ihres Vermächtnisses ausmacht. Definitiv ein Stück Musik, das die Musikgeschichte meiner Meinung nach an seinen richtigen Platz gerückt hat.

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06.
Bob Dylan - Bringing It All Back Home 
BOB DYLAN
Bringing It All Back Home
Folkrock

Highway 61 Revisited mag das Album sein, mit dem Bob Dylan 1965 unsterblich wurde, die erste Wahl für mich war aber schon immer sein anderes legendäres Werkstück aus dieser Saison, Bringing It All Back Home. Nicht so sehr weil es irgendetwas besonderes repräsentiert, sondern viel eher, weil diese Songs mir persönlich mehr bedeuten. Sie zeigen den Songwriter Bob Dylan auf seinem ersten künstlerischen Höhepunkt und als einen Typen, der viel zu sagen und komplexe Dinge zu denken hat. Nicht mehr unbedingt in Form von direkten Protestsongs, sondern von philosophisch verklausulierten Parabeln, die keine eindeutige Interpretation mehr zulassen, aber auf etwas größeres, abstrakteres abzielen. Ein Album auf der Schwelle von Pop und Poesie, von Folk und Rock, von jugendlicher Energie zu echter denkerischer Größe. Und damit sowohl eines der besten Dylan-Werke als auch einer der Prototypen dessen, was man heute so unspezifisch "Classic Rock" nennt.

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05.
The Rolling Stones - Everybody Needs Somebody to Love 
THE ROLLING STONES
the Rolling Stones No. 2
Rhythm & Blues

Die visionärste britische Rockband waren die Rolling Stones 1965 definitiv nicht, eher das komplette Gegenteil. Klang und Komposition ihres zweiten Albums stehen mit einem Bein noch im traditionellen Blues, ihr Songwriting ist sehr rustikal und ihre Inhalte eher rock'n'rollig angesiedelt, von allen Artverwandten haben sie damit in meinen Augen aber die meiste Tiefe in ihrer Musik. Viele der Songs auf diesem Album sind inzwischen etablierte Klassiker, die man schwerlich unvoreingenommen betrachten kann, doch spürt man auch auf den Deep Cuts der Platte umfassend eine Attitüde von Arbeitsschweiß und Rebellion, die die Beatles oder die Kinks zu dieser Zeit eben nicht hatten. Ganz davon abgesehen, wie gut hier trotz der dürftigen Aufnahmequalität das Mixing und Mastering ist. Wenn man mich fragt, dann ist diese LP bis zu diesem Zeitpunkt das beste, was der British Invasion passieren konnte und eines der wenigen Beat-Werke, das wirklich gut gealtert ist. Kurz bevor danach alles in die Psychedelik umkippte und vorbei war, bevor es angefangen hatte.

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04.
Pacheco - His Flute and Latin Jam 
PACHECO
His Flute & Latin Jam
Salsa

Die hier vorliegende LP wird eigentlich schon durch ihren Titel perfekt beschrieben. Die sechs Tracks hier sind im wesentlichen Stücke, auf denen Pacheco für sich Querflöten-Parts komponierte und verdienen mit ihrer fast improvisatorischen, groovigen Energie durchaus das Prädikat "Jam". Nicht zuletzt, weil viele davon auf stattliche sechs Minuten oder mehr kommen. Klanglich wie Kompositorisch ist Flute & Latin Jam dabei eine optimale Einstiegsdroge in die Welt des Salsa, die nicht viel Überzeugungsarbeit leisten musste, um mich für sich zu begeistern. Ergänzend zum etwas ruhigen, songigen Album Viva África (ebenfalls von 1965, ebenfalls auf dieser Liste) schafft sie für mich damit eine unwiderstehliche Links-Rechts-Kombi an ansteckendem Latinpop, der in meinen Augen jede Speksis ausräumen sollte, die irgendjemand noch gegenüber Salsa haben könnte und ist somit auch ein Jam im Sinne einer sehr guten, tanzbaren Musikerfahrung, wie es die jungen Leute heutzutage nennen.

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03.
Amália Rodrigues - Fado português
AMALIA RODRIGUES
Fado Português
Fado

In ihrer Heimat Portugal gilt Amalia Rodrigues bis heute als die unanfechtbare Grand Dame des Fado und ist mit mehreren ritterlichen Würden und einem nach wie vor bestehenden Verkaufsrekord nach wie vor der Endboss, was portugiesische Popmusik an sich angeht. Auf einem Album wie diesem merkt man, woran das liegen könnte. Schon der Titel vermittelt den Eindruck eines unumgänglichen Standardwerks und ist ganz in diesem Sinne ein absolutes Bilderbuchbeispiel für den sagenumwobenen Spirit des Fado, der hier jeden Song durchtränkt. Die gleichzeitig erfrischende und melancholische Energie dieser Musik vermittelt die LP in jeder Sekunde perfekt, klanglich passt alles zusammen und Rodrigues als Sängerin ist der helle Wahnsinn. Fado Português ein bisschen weinerlich und melodramatisch zu finden, ist dabei ein Anfängerfehler, den ich zunächst auch gemacht und danach schnell bereut habe. Denn wie in einer furchtbaren Telenovela ist die Theatralik am Ende das beste am ganzen Produkt. Man muss sich nur erstmal dran gewöhnen.

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02.
白木秀雄 [Hideo Shiraki] - Quintet+3 Koto Girls - Sakura Sakura
HIDEO SHIRAKI QUINTET + 3 KOTO GIRLS
Sakura Sakura
Jazz

Es hat zunächst ein bisschen etwas von Anbiederung, hier die Platte eines japanischen Jazzmusikers zu hören, der eine eigentlich sehr amerikanische Variante von Cool Jazz und Hard Bop mit japanischer Folkloremusik und Koto-Instrumentierung verbindet. Auf dem Papier wirkt es wie eine billige Attraktion, um ein amerikanisches Publikum für diese Musik zu begeistern, indem man ihnen ein bekanntes Klischee von Weltmusik mitliefert, aber auch den vertrauten und beliebten Coltrane-Sound verkauft. Wenn man allerdings tatsächlich einmal hört, wie engmaschig die Koto-Elemente auf dieser LP in die einzelnen Kompositionen eingewoben sind und wie sich Shiraki am Schlagzeug in hichkomplexe folkige Rhythmusstrukturen eingroovt, erkennt man in Sakura Sakura am Ende doch die echte Leidenschaft, die in diesem Crossover steckt. Ganz davon abgesehen, dass dieser Typ und sein Quintett auch ohne die Volksmusik-Schiene verdammt talentierte MusikerInnen sind, die unabhängig von allen Stilkreuzungen wahnsinnig tollen Jazz spielt. Ein Album, bei dem ich jedes Mal wieder erstaunt bin, wie gut ich es finde und das nicht halb so dämlich ist wie seine Prämisse klingt.

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01.
B.B. King - Live at The Regal 
B.B. KING
Live at the Regal
Blues

Ich kann es nicht anders sagen: Im Sinne eines gelungenen Zeitdokuments, das bestmöglich die Energie einer ganz bestimmten Show aufzeichnet, ist Live at the Regal von B.B. King vielleicht die beste Konzertplatte aller Zeiten. Auf den zehn Songs dieser LP hört man förmlich jede Schweißperle, die Band und Publikum an diesem Abend in Chicago in Strömen vergießen und auf kaum einer Konserve ist man so nah dran an der Reaktion der Zsuchauer*innen, die in diesem Fall nicht weniger als ekstatisch ist. Dass B.B. King und seine Band allesamt unglaublich starke Performer sind, der Typ am Mikrofon absolut für seinen Job geboren ist, die Songauswahl perfekt abgestimmt wurde und man auch 55 Jahre später trotz der unglaublich dichten Aufnahme jede Note hört, tut dabei sein übriges. Ein duchweg faszinierendes Album und in meinen Augen definitiv das beste musikalische Dokument, das man von diesem Künstler für Geld bekommen kann. Weil es ihn dort zeigt, wo seine Songs am hellsten strahlten und das, was er auf seinen Studioalben machte, hochgradig effizient Anwendung findet.

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