Dienstag, 21. April 2020

Switched-On Orwell

[ chaotisch | dystopisch | vielschichtig ]

Dass Enter Shikari in meinen Augen seit den letzten drei Jahren als Band nicht nur offiziell rehabilitiert sind, sondern tatsächlich ein kleines bisschen zu einem Leidenschaftsthema für mich geworden sind, liegt eigentlich eher an mir selbst als an ihrer Musik. Sicher, mit the Spark von 2017 strukturierte sich das Quintett aus Sheffield stilistisch neu und fand einen eingägigeren und spannenderen Sound, doch hätte bestimmt auch der nichts gebracht, hätte ich mich nicht proportional dazu aus meiner verachtenden Indie-Ignoranz ihnen und anderen Acts gegenüber begeben und wäre generell ein aufgeschlossenerer Musikhörer geworden. Gemeinsam mit Bands wie Bring Me the Horizon oder Beast in Black sind sie eine der großen Freuden, die mit meine neu gefundene Toleranz für pathetische Rockmusik beschert hat und tatsächlich fand ich im Endeffekt weniger the Spark plötzlich gut als dass ich Begeisterung für Teile ihrer Diskografie entwickelte, die ich vorher ziemlich dämlich fand. Dass ich deshalb gleich für jeden Mist zu haben bin, heißt das aber lange noch nicht. Und auch wenn ich Enter Shikari für ihren stilistischen Balanceakt zwischen Punkrock, Elektropop, Metalcore und Emo-Crunk mittlerweile sehr schätze, leben sie als Band, die sich kurzlebige Trends regelmäßig fünf bis zehn Jahre zu spät aneignet, doch gefährlich. Ihre Art von Musik ist 2020 eine schwierige Angelegenheit, denn zwischen off-brandigem Anti-Hipster-Geheimtipp und echtem Totalausfall ist es oft nur ein schmaler Grat. Und wo the Spark vor drei Jahren in seinen besten Momenten ersteres war, ist Nothing is True and Everything is Possible in vielerlei Hinsicht das Gegenteil. Was auch gerade daran liegt, wie ähnlich sich die beiden Platten in vielen Attributen sind. Genau wie auf dem Vorgänger basteln Enter Shikari hier an einem Narrativ herum, das sich sehr dystopisch-Black Mirror-mäßig liest und damit von vornherein sehr bedeutungsschwanger daherkommt. Das letzte Album löste das damit, dass es an gewissen Punkten fast eine Persiflage auf sich selbst war und stark überzeichnete, hier hingegen verpassen die Briten diesen Punkt. Mehr noch, mit sinfonischen, mehrteiligen Songkonzepten, opulenten Orchesterparts und Titeln wie Marionettes (Part Eins und Zwei, ugh!) oder Modern Living.... - passenderweise mit edgy Sonderzeichen und unsteter Groß- und Kleinschreibung verpasst - wollen sie hier plötzlich die ernsthafte Orwell-Nummer abziehen. Nur dass sie in dieser Rolle einfach nicht besonders gut dastehen. Ihre Songs sind weder besonders futuristisch noch besonders angepisst, ihre Inhalte klopfen ziemlich plakative  Boomer-Paranoia ab und mit den letzten beiden Platten von Twenty One Pilots ist schon allein ihr wesentlicher klanglicher Bezugspunkt ein denkbar mieser. Dabei ist es mit Enter Shikari eigentlich wie mit Muse: Das retrofuturistische 1984-Ding ist nichts, woran ihr musikalischer Ansatz prinzipiell scheitert, nur muss er richtig inszeniert sein. Wie das geht, sieht man an den Momenten, die positiv wie negativ herausstechen. Tracks wie the Great Unknown, Satellites * * oder thē Kĭñg (diese Titel, ernsthaft!) sind deshalb stark, weil sie einfach nur versuchen, gute kreative Popsongs zu sein und die Thematik ein bisschen abstrakter behandeln. Modern Living.... hingegen ist doof, weil es darin Zeilen wie "We're apocaholics, drinking gin and tonic" darin gibt, die klingen, als hätte sie ein Dreizehnjähriger geschrieben, nachdem er zum ersten Mal Fight Club gesehen hat. Und letzteres sind Sachen, die diese Band eigentlich nicht machen müsste. In der Vergangenheit hat sie ja bereits gezeigt, wie überraschend unpeinlich sie sich politischen Dystopien diverser Art widmen können, was sie hier plötzlich vergessen zu haben scheinen. Erschwerend hinzu kommt, dass sie auf Nothing is True... dermaßen viel Zeit damit zubringen, aufwändige Orchester-Scores und unnötige Interludes zu schreiben, dass ihr gutes Songwriting zu selten zum tragen kommt. Die ersten beiden Stücke der Platte sind zwar schwer in Ordnung und auch das letzte Drittel der Platte versöhnt mich mit einigen groben Schnitzern, doch vor allem im Mittelteil erlebt diese LP eine schwer pretenziöse und grauenvolle Durststrecke, die viel sein will, aber der einfach die kompositorische Substanz fehlt. Viele der klassischen Einflüsse wirken dabei deplatziert, mittelmäßige Hooks werden mit doppelten und dreifachen Reprisen hofiert und auch die eingespeisten Dancefloor-Beats helfen zumeist wenig. Die besten Momente bleiben tatsächlich die, in denen sich die Band wenigstens halbwegs zusammenreißt (ohne ein Mindestmaß an Frickelkram geht es bei ihnen ja nie) und dem ganzen Zinnober wenigstens einen gescheiten Song zugrunde legt. Und an sich sollte das als Grundformel ja nicht so schwierig sein, doch Enter Shikari sind schon immer eine Gruppe, die sich diese Tugend ab und zu wieder ins Gedächnis rufen muss. Wenn sie es tun, kommen großartige Hits dabei raus. Wenn nicht, kann es übel werden. Auf Nothing is True... geht die Nummer am Ende noch ziemlich glimpflich aus, aber man kann es als Warnsignal sehen: Diese Band ist nicht scheiße, aber sie kann es sehr schnell werden. Vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartet.



Hat was von
Twenty One Pilots
Trench

Bring Me the Horizon
Amo

Persönliche Höhepunkte
the Great Unknown | Crossing the Rubicon | T.I.N.A. | Satellites * * | thē Kĭñg | Waltzing Off the Face of the Earth (II. Piangevole)

Nicht mein Fall
Waltzing Off the Face of the Earth (I. Crescendo) | Modern Living.... | Apøcaholics Anonymøus | Elegy for Extinction | Marionettes (I. & II.)


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