Sonntag, 12. April 2020

Meine Lieblingsplatten 1963

1963 ist wahrscheinlich das Jahr, in dem musikhostorisch ganz offiziell die Zeitrechnung für die große Ära der Rockmusik begonnen werden kann. Hauptgrund: die ersten beiden Alben einer jungen Liverpooler Band namens the Beatles erscheinen und setzen an der alten Welt des Rock'n'Roll schon mal gehörig ihren Hebel an. Was das junge Quartett aus Mittelengland gleich mit ihren ersten Sporen im Business abfeuert, ist kommerziell gesehen eine völlig andere Dimension von Popularität und kreativ gesehen aus heutiger Sicht zwar noch nicht ansatzweise ausgegoren, aber definitiv eine innovativere Inkarnation von Rockmusik, als man das aus den Fünfzigern kannte. Und es ist erst der Beginn einer Bewegung, die die gesamte Popmusik ruckartig in eine neue Zeitrechnung hievt. Wobei die alte Welt hier noch lange nicht komplett kippt. Mit dem Folk-Revival (Symbolbild oben: Bob Dylan und Joan Baez) in den USA, dem weiteren Erstarken des Soul und der goldenen Zeit des Surfrock bekommt die Dominanz von Jazz als ernstzunehmende Musik zwar weiterhin sichtbare Risse, doch ist sie nach wie vor stark. Tatsächlich würde ich 1963 sogar als eines der letzten richtig spannenden Jahre der kompositorischen Schule bezeichnen, die seit dem Ende der Fünfziger das Bild der Szene prägte. Die alte Garde um John Coltrane, Miles Davis, Bill Evans und Thelonious Monk wird hier langsam müde, macht aber Platz für einige geniale frische Gesichter, deren Speerspitzen in dieser Saison unter anderem Charles Mingus und Joe Henderson heißen. Generell sind unter den spannendsten Platten von damals auffällig viele Debütalben, die zeigen, wie sich das Genre verjüngt und weiterentwickelt. Nicht zuletzt auch durch die Einflüsse, die zu dieser Zeit aus Brasilien kommen. Aus dem Bossa Nova der Fünfziger wird hier langsam das, was in den Folgejahren als 'Música Popular Brasileira' oder noch später als Trópicalia bekannt werden sollte, wobei der Name Jorge Ben zum ersten Mal eine wichtige Rolle spielt. Man merkt also, ob man nun in Liverpool, New York oder Rio ist, dass 1963 im Nachhinein das Jahr der jungen Leute und der Rookies war, die sich hier anschickten, die Gefüge neu zu setzen. Nur einiges davon sollte später zur modernen Popmusik werden, die hier höchstens noch in der frühen Kindheit steckt



10.
JOHN FAHEY
Death Chants, Breakdowns & Military Waltzes
Die Diskografie von John Fahey ist in meinen Augen eine, die tatsächlich weniger durch ihre eigene künstlerische Leistung beeindruckt als viel mehr durch ihre Existenz als eine Art Dokument für die technische und geschichtliche Forschungsarbeit dieses Typen, denn Musiker war der Typ eigentlich nur indirekt. Als Absolvent für Folkloristik an der UCLA spezifizierte er sich zu Anfang der Sechziger eher auf das Entdecken und Aufnehmen unbekannter Blues-Gitarristen und beschäftigte sich dabei eingehend mit diversen Stilen und Varianten von amerikanischer Folkmusik. Death Chants, Breakdowns & Military Waltzes ist dabei eine Art Nebenprodukt seiner Forschungen, das er zwischen seinen Aufnahmen mit anderen Künstlern einspielte und das vor allem kleine Vignetten von Country- und Folk-Motiven enthält. Die wenigsten davon sind tatsächlich ausgefeilte Songs und meistens sehr knapp gehalten, doch viele sind unglaublich gut geschrieben und gespielt, weshalb ich von dieser LP trotzdem immens fasziniert bin. Am Ende aber vielleicht eher was für Leute, die es ganz genau wissen wollen oder den Oh Brother, Where Art Thou-Soundtrack in der Deluxe-Version noch zu modern finden.

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09.
SHEILA JORDAN
Portrait of Sheila
Portait of Sheila ist für seine Zeit in meinen Augen eine ziemlich ungewöhnliche Platte und ich bin mir bis jetzt nicht so richtig sicher, wie sie am besten zu klassifizieren ist. Zwar hat sie auf der einen Seite das Songwriting eines opulenten Bigband-Projektes im Stil einer Anita O'Day oder Barbra Streisand, ist aber instrumental und klanglich dermaßen minimalistisch, dass man glaubt, hier nur eine Art Demoversion der meisten Tracks zu hören. Und wo ich das erstmal wirklich gewöhnungsbedürftig fand, funktioniert es mit etwas Geduld sehr zum Vorteil dieser Stücke: Mit der kargen Begleitung, die häufig nur aus Schlagzeug, Piano und Bass besteht ist auf diesem Album sehr viel Platz für den Gesang von Sheila Jordan, die sich dann auch tatsächlich als begnadete Vokalistin entpuppt und den großen Raum, den ihre Band ihr gibt, wunderbar ausfüllt. Sowohl in loungigen Balladen als auch in einigen sehr schmissigen Nummern, die sich sehr leicht und fluffig bewegen und tatsächlich etwas Action verbreiten. Die schlechte Nachricht dabei: Mit dieser LP bleibt Sheila Jordan leider die einzige Frau in einer weiteren großen Würstchenparty von Top Ten-Liste.

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08.
JOE HENDERSON
Page One
Die Geschichte des Debütalbums von Joe Henderson ist rückblickend einigermaßen beeindruckend, wenn man bedenkt wie frisch dieser Typ zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung war. Nicht Mal ein Jahr war der New Yorker 1963 wirklich als Musiker aktiv und spielte gerade mal einige wenige Sessions mit lokalen Musikern (unter anderem einem noch jüngeren Herbie Hancock) ein, bevor der Saxofonist hier erstmals als Bandleader auftrat. Dafür wie unerfahren er ist, ist Page One jedoch absolut klasse und in jeder Hinsicht eine tolle Jazzplatte. Im klassischen Wechsel zwischen Bebop und Cool Jazz bastelt seine Band aus Rookies und erfahreneren Musikern (Wie immer der Größte: McCoy Tyner am Piano) hier eine sehr angenehme zeitgenössische Zusammenstellung wundervoller Tracks, die nicht nur im Kontext von Hendersons Welpenstatus super klingen. Schade nur, dass es John Coltrane zum damaligen Zeitpunkt schon gab.

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07.
LUIZ BONFÁ
Plays & Sings Bossa Nova
Unter den Exporten brasilianischer Popmusik, die es schafften, auch außerhalb ihrer Heimat bekannter zu werden, gehört Luiz Bonfá 1963 zwar zur alten Garde der eher klassisch geprägten Interpreten mit durchkomponierten Band-Arrangements und abgeschlossenem Musikstudium, trotzdem klingt er auf diesem Album eine ganze Ecke frischer als die meisten seiner Kolleg*innen zum damaligen Zeitpunkt. Durch seine akustische Gitarre als Hauptinstrument und die ihm eigene, wahnsinnig geschmeidige Gesangstechnik ist er hier einer derjenigen, die die Leichtigkeit im Gefüge des Bossa Nova für sich entdecken und diese der tranigen Bigband-Variante von Leuten wie Walter Wanderley und Stan Getz entgegenstellten, die schon Anfang der Sechziger ausgelutscht und träge klang. Orchesterparts und Orgelstücke gibt es hier zwar auch noch, doch wirkt das bei diesem Typen alles halb so schwer und deshalb sogar wieder interessant. Wenn man mich fragt eines der bestmöglichen Einstiegsalben in die bezaubernde Welt des Bossa Nova.

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06.
JAMES BROWN
 Live at the Apollo
Wenn man die musikalische Faszination um den Künstler James Brown verstehen will, ist die Beschäftigung mit einer seiner Live-Platten in meinen Augen unumgänglich. Denn als Godfather of Soul und wesentlicher Initiator des Funk sind es vor allem die Performances seiner Person und der Famous Flames, die ihm diesen Status in letzter Konsequenz einbrachten. Und eine LP wie Live at the Apollo stellt diese eindrucksvoll unter Beweis. Mit seinen gerade Mal 30 Minuten ist diese Aufnahme zwar ein unfassbar zackiges Album, das in seinen schnellen Wechseln und pushenden Übergängen aber nie an Kraft, Schweiß und Leidenschaft spart und vor allem seine Backingband als pumpende Höllenmaschine mit beeindruckender Präzision festhält. Nicht umsonst gilt diese Aufzeichnung deshalb als Klassiker unter den Konzertplatten in der Pop-Geschichte, die den Seltenheitswert haben, fast ein wichtigeres Dokument für das Vermächtnis eines Musikers zu sein als sein eigentlicher Studiokatalog.

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05.
GRACHAN MONCUR III
Evolution
Evolution ist bis zum heutigen Tage das einzige Album von Grachan Moncur als Bandleader und als solches wohl einer der ewigen Geheimtipps neugieriger Jazz-Nerds. Nicht nur, weil dieses einer der seltenen Fälle ist, in denen ein Posaunist als Hauptakteur einer Jazzplatte agiert, sondern auch aufgrund des sehr experimentellen Charakters dieser LP. Was damals noch unter dem Handle "Avantgarde" veröffentlicht wurde, ist in meinen Augen eher ziemlich wüster Bebop, der durch die ungewöhnliche Instrumentation mit Vibraphon als starker Kernnote, deutlichen Free Jazz-Einflüssen und seinen seltsam verstückelten Drive schon irgendwie eine Ausnahme in den damaligen Stilgefügen darstellt. Das aber mit herrlich schrägen Soli, einem grandiosen Zusammenspiel der einzelnen Akteure und einer Art und Weise von Komposition, die auch 2020 noch für Staunen sorgen kann.

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04.
JORGE BEN
Samba Esquema Novo
Ich höre für diese Art von Listen jedes Mal sehr viele Platten und glaubt mir wenn ich sage, dass der überwiegende Teil dessen, was vor 1963 unter dem Namen Bossa Nova so abläuft, nicht mehr als furchtbar enervierende Fahrstuhlmusik ist. Was dieses Debüt von Jorge Ben zu einer ziemlichen Offenbarung macht, denn es ist davon mehr oder weniger das genaue Gegenteil. Es klingt locker und tänzerisch, ist extrem eingängig und durch die Performance seines charismatischen Hauptsongwriters auch irgendwie weniger distanziert als das meiste zur damaligen Zeit. Was der Brasilianer hier veranstaltet, klingt weniger nach verstaubtem, vom Blatt gespielten Bigband-Jazz, sondern nach erfrischender Popmusik mit Herz und Gesicht. Eine Inkarnation von Bossa Nova, die aus gutem Grund später nicht mehr wirklich unter diesem Begriff geführt wird, sondern den aufkommenden Terminus der neuen brasilianischen Popmusik prägen sollte. Und ganz nebenbei einen ganzen Haufen Nummern enthält, von denen man nicht im Leben gedacht hätte, dass dieser Typ sie geschrieben hat.

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03.
JOHN COLTRANE
Impressions
In den Vorbereitungen für die bisherigen Listen dieser Rubrik war sicherlich kein Künstler so omnipräsent und quantitativ stark wie John Coltrane, was mich bisher vor allem erkennen lassen hat, wie überschätzt ich ihn teilweise finde. Mit Impressions habe ich hier allerdings sowas wie meine neue Lieblingsplatte von ihn entdeckt. Mit Zusammenschnitten aus Live- und Studiomaterial ist sie strukturell zwar etwas wirr, die Performances des Saxofonisten sind dafür aber durchweg erstaunlich und die Songauswahl perfekt getroffen. Auf keiner seiner Platten empfand ich seine Soli und technischen Hakenschläge bis hierhin als so großartig und welche klangliche Dynamik er aus seinen Instrumenten herausholt, ist atemberaubend. Dass mit Eric Dolphy, Elvin Jones und ein weiteres Mal McCoy Tyner hier eine großartige Band am Start ist, hilft der Sache natürlich auch ungemein und ist ein wesentlicher Faktor für die Qualität dieser LP. Von allen Coltrane-Platten, die ich je gehört habe im Moment mein absoluter Favorit.

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02.
CHARLES MINGUS
  the Black Saint & the Sinner Lady
Ähnlich wie die besten Platten von Miles Davis sind auch die Höhepunkte in der Karriere von Charles Mingus solche, bei denen man mit den Begrifflichkeiten der gängigen Populärmusik manchmal an seine Grenzen stößt und insbesondere the Black Saint & the Sinner Lady ist eines, das mit vielen Anschlusspunkten an Elemente der Neoklassik weit von gängigen Formeln abweicht. Vom Künstler selbst als Score für ein Ballett angedacht, macht es diesen Schritt auch ganz absichtlich und sieht sich selbst als moderne Sinfonie, seiner Qualität als Jazz-Gigant ist das aber trotzdem nicht abträglich. Denn wenn es um diese LP geht, sind sich die Musikhistoriker der Welt mit Mingus einig: Es ist definitiv sein Opus Magnum. So viele großartige Arrangements, so viele expressive Grenzgänge, so viele herrlich schräge Motive und diese ganz eigene, chaotische Dynamik zwischen Louis Armstrong und Igor Stravinsky machen die Platte zu einem absoluten Unikum, das selbst für einen Freak wie ihn etwas sehr spezielles ist. Mit Sicherheit eines meiner liebsten experimentellen Jazz-Alben aller Zeiten und in Wahrheit sogar viel mehr als das.

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01.
BOB DYLAN
the Freewheelin' Bob Dylan
Gemessen daran, wie grün hinter den Ohren Bob Dylan noch auf seinem selbstbetitelten Debüt vom Vorjahr klang, ist es beeindruckend, wie viel man auf seiner zweiten LP schon von dem legendären Songwriter und Erzähler heraushört, als der er später in die Geschichte eingehen sollte. Hier noch tief in seiner ersten wichtigen Phase als Protestmusiker verhaftet, ist dieses Album der grundlegende Bausatz des akustischen Dylan: Deutlich spürbare Einflüsse aus Folk, Country und Blues, begleitet von einem unglaublich starken Charisma, das weit über die Reproduktion traditioneller Themen und politische Agenda hinausgeht und Texte, bei denen man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, dass sie von einem 22-jährigen geschrieben wurden. Und bereits hier erlebt man dadurch Songs, die tief im gesellschaftlichen Klima der frühen Sechziger ihren Ursprung haben, aber inhaltlich völlig zeitlos sind, ebenso wie die fantastische Produktion dieser LP. Beeindruckend als erster großer Coup des Robert Zimmerman und meine erste ausdrückliche Lieblingsplatte von vielen dieses Musikers, aber noch beeindruckender, wenn man bedenkt, was darauf noch folgen würde.

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