Mittwoch, 15. April 2020

Wie höre ich the Prodigy? : Ein Album-Guide für Neugierige

Mit dem tragischen Ableben von Frontmann und Galleonsfigur Keith Flint vor ziemlich genau einem Jahr steht 2020 einer der wichtigsten Acts des Mainstream-Electronica vor einem Scheideweg: Für the Prodigy, das unverwüstliche hedonistische Partymonster aus Braintree, Essex, könnte die große Fete, die sie nun schon seit Ewigkeiten abfeuern, just im Jahr ihres dreißigsten Bandjubiläums endgültig vorbei sein. Niemand hatte das bis zuletzt so richtig kommen sehen und gerade in den letzten Jahren sah es so aus, als würde das Trio musikalisch nochmal richtig Gas geben, doch als die Maschine wieder richtig anzulaufen schien, wurde eines ihrer elementaren Bestandteile unwiderruflich daraus ausgeschlossen. Und obwohl zum jetzigen Zeitpunkt keines der beiden verbliebenen Mitglieder das Wort Trennung in den Mund genommen hat, ist es ein ganz klarer Fall, dass die Briten mit Flint ihr Gesicht und Sprachrohr verloren haben. Das heißt, selbst eine neue Inkarnation der Band wäre definitiv nicht mehr das gleiche wie vorher. Was zwar ein trauriger Anlass ist, aber für mich ein paar wesentlich Gründe darstellt, an diesem Punkt mal auf das zurückzublicken, was the Prodigy bis hierhin geleistet haben. Denn wenn es nach mir geht, erhält ihre Musik im Nachhinein nur selten die Anerkennung, die ihr tatsächlich gebührt und dass diese Gruppe in den Neunzigern eine der wichtigsten Ausgangspunkte für diverse stilistische Bewegungen im Electronica war, wird heutzutage gerne vergessen. Und selbst wenn dem nicht so wäre, lohnt es sich durchaus, hier auf eine sehr reichhaltige Diskografie zu schauen, die für einen rammeldösigen Party-Act erstaunlich widerspenstig und konsistent geblieben ist, wobei sie in 30 Jahren selten schwächelte. Wer also Bock auf drei Dekaden Neunzigerparty hat, könnte hier vielleicht ein paar heiße Tipps bekommen.

Zum Aufwärmen: Ein bisschen Geschichte

Das elektronische Testosteron-Gespann the Prodigy gründete sich im Jahr 1990 im südenglischen Braintree, wo der ansässige Liam Howlett schon seit einer Weile erfolgreich als DJ auflegte. Auf einer Party dort traf er die beiden Jungspunde Keith Flint und Leeroy Thornhill, die ihn nach einem Mixtape fragten und mit denen er wenig später ein erstes gemeinsames Projekt gründete. Mit MC Maxim Reality und Sharky kam kurze Zeit später das erste richtige Lineup der Band zusammen, das vereinzelte Konzerte spielte und schon ein Jahr danach bei XL Recordings unterschrieb. Erste musikalische Einflüsse von the Prodigy kamen aus den damals sehr angesagten Electronica-Bewegungen des Acid House und Happy Hardcore, die aber schon bald großkotzig transzendiert wurden. Neben Impulsen aus Hiphop, Reggae, Punk und Metal waren es vor allem Breakbeats, die zum unverwechselbaren Markenzeichen der mittlerweile verköpfigen Formation wurden und die sie im Laufe der Jahre erst so richtig populär machten. Ergebnis dieses Stilmixes war nach einigem Herumprobieren spätestens Mitte der Neunziger ein extrem ansteckender Bombast-Mix, bei dem Effekt-technisch alle Register gezogen wurden. The Prodigy vereinte die Club-Elemente des Techno und House mit hektischen Breakbeat- und Jungle-Eskapaden und verfeinerte das ganze mit Hiphop-artigem Sampling, der Rotznasigkeit des Punkrock und der Hochnäsigkeit von Britpop. Gemeinsam mit den Chemical Brothers, Fatboy Slim und Leftfield etablierten sie damit vor der Jahrtausendwende die ebenso kurzlebige wie opulente Big Beat-Welle, die den Spirit der Techno-Bewegung einen winzigen dekadenten Rockstar-Moment bescherte. Und wie viele der damals aktuellen Acts waren sie damit zu Beginn des neuen Jahrtausends erstmal Schnee von gestern. Nach ihrem immensen Charterfolg mit the Fat of the Land von 1997 passierte studiotechnisch ganze sieben Jahre fast gar nichts, bis 2004 der erste von gleich mehreren Comeback-Anläufen Gestalt annahm. Mit Always Outnumbered, Never Outgunned erschien damals ein Quasi-Soloprojekt von Liam Howlett, das lediglich unter der Prodigy-Flagge geführt wurde, bevor zum Ende der Nuller auch der Rest der Band, Minus Leeroy Thornhill nachzog. Mit ihren letzten drei Platten zeigte sich die Band, nun zum Trio geschrumpft, zwar mittlerweile ziemlich aus der Zeit gefallen, aber kompositorisch und klanglich noch immer extrem stark, wobei sie bis zu Flints Tod 2019 vor allem durch ihre Konsistenz überzeugte. The Prodigy ist Musik die man mag, wenn einem Scooter zu platt ist, aber die Chemical Brothers zu indie oder man vor dem Feiern ausversehen Testo statt Emma geschmissen hat. Eine Techno-Partyband für Leute, die eigentlich sonst nur Rammstein und Papa Roach hören und die gerade deshalb so perfekt für den verkaterten Festival-Sonntag ist. Weil manchmal auch Indiekids asozial sein müssen.



Zum Einsteigen: Das Opus Magnum

The Fat of the Land
XL Recordings, 1997
Wenn es so etwas wie die "Großen Vier" der Big Beat-Bewegung gibt, dann ist the Fat of the Land sowas wie ihr Nevermind. Als es 1997 nach drei Jahren Plackerei als dritter Longplayer der Briten in den Läden stand, wurde es der Band binnen kürzester Zeit von der hungrigen Fanbase aus den Händen gerissen und startete die kleine Rockstar-Lawine, der wenig später auch die Chemical Brothers und Fatboy Slim folgten. Und mit etwas Zeitkontext ist durchaus verständlich, warum, denn das hier ist ein Album, das Kanonen auf Spatzen richtet. Mit brutaler Gewalt reißt es die Nachtgestalten des House und Techno schreiend ans Tageslicht und bringt die düstere Party auf die große Bühne der Rockstar-Dekadenz. Es ist daher auch kaum verwunderlich, dass the Prodigy hier Image-technisch das Verhalten pöbelnder Gallaghers an den Tag legen, da sie hier ganz offensichtlich die dicken Fische angeln wollen. So gut wie jeder Song ist ein Banger, alles ist maximalistisch, die Regler sind konsequent auf 11 eingerastet und getanzt wird bis zum klinischen Kollaps. Breakbeat- und House-Elemente treffen dabei auf Dancehall, Hiphop und Punkrock und fabrizieren so das ultimative Crossover-Erlebnis, das die Band endgültig die Welt der elektronischen Tanzmusik transzendieren lässt. Und ihnen nicht zuletzt ein unsterbliches Denkmal setzt. Spätestens mit Megahits wie Smack My Bitch Up und Firestarter zementieren sich the Prodigy in das kollektive Bewusstsein einer Party-Generation und schaffen echte Klassiker, die heute als Zeitkapseln der späten Neunziger nachwirken. Es sind aber auch die Deep Cuts dieser LP (wenn man die überhaupt so nennen will), die echt Klasse beweisen und zeigen, dass dieses Konzept auch über schnelle Singles hinaus funktioniert. Songs wie Funky Shit, Breathe, Diesel Power und vor allem das geniale neunmitnütige Kernstück Narayan zeigen, dass diese Platte zwar alles tut, um auf die Kacke zu hauen, das aber auch extrem hochwertig tut. Das Songwriting ist nicht nur tanzbar, sondern auch detailliert und dynamisch, wobei die Band die Impulse versteht, mit denen sie hier arbeitet. Die Großkotzigkeit von the Fat of the Land ist also keine hohle Geste, sondern absolut verdient und mit Recht so arrogant und hochnäsig. Was diese Platte zu einem der selteten Fälle macht, in denen etwas sehr populistisch klingt, dabei aber eigentlich viel intelligenter ist. Und allein schon deshalb ist diese LP der beste Einstiegspunkt in die Diskografie dieser Band.

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Zum Weitermachen: Empfehlungen des Hauses

Invaders Must Die
Vertigo/Capitol, 2009
Das 2009 veröffentlichte zweite Comeback Invaders Must Die ist in meinen Augen ohne Frage das zweitbeste Prodigy-Album, wobei es ehrlicherweise nicht ohne seine Kontroversen ist. Viele alte Fans waren seinerzeit gar nicht so grün mit dem poppigen neuen Sound der Platte, was ich allerdings nicht wirklich verstehe. Es ist ja nicht so, als wäre das hier vorher eine Indieband gewesen und was die Briten an Scooterigkeit einführen, ist zumindest immer zum Vorteil ihres Sounds. Wobei Tracks wie O, Warrior's Dance, Thunder oder der Titelsong sich als die Kräfte herausstellen, die dem Trio von hier an wieder Schub geben und den Weg ins beste Jahrzehnt ihrer Karriere leuchten.


No Tourists
BMG, 2018
Als bis dato letztes Album der Briten klang No Tourists vor zwei Jahren schon irgendwie anachronistisch, es jetzt im Vergleich mit den früheren Sachen zu hören, zeigt mir aber, wie sehr sich die Band doch verändert hat. Zum einen dadurch, dass die Platte wesentlich härter und düsterer ist, aber auch wieder stärkere Impulse aus Hardrock und Reggae mit einbezieht. Klar klingen sie dadurch nicht gleich wie Charli XCX, bestechend stark sind die aber trotzdem. So gut wie jeden Song hier kann ich eigentlich empfehlen, als Pröbchen beeindrucken aber vor allem Champions of London und Light Up the Sky.


The Day is My Enemy
Vertigo, 2015
The Day is My Enemy ist in vielerlei Hinsicht so etwas wie der große Bruder von No Tourists und stilistisch wie qualitativ eigentlich ziemlich deckungsgleich. Statt Dancehall gibt es hier ein bisschen mehr Punk, was sich vor allem in der allgegenwärtigen Rotzlöffel-Attitüde der Platte äußert und passenderweise durch ein geniales Sleaford Mods-Feature in Ibiza abgerundet wird. No Tourists ist alles in Allem vielleicht die marginal bessere Wahl, diese hier ist aber auf jeden Fall absolut sicher, wenn man sich für den Zehner-Sound von the Prodigy begeistern kann.





Music for the Jilted Generation
XL Recordings, 1994
Obwohl das zweite Prodigy-Album von 1994 definitiv empfehlenswert ist, ist es vom Charakter her doch ganz klar eine andere Baustelle verglichen mit den bisherigen Platten dieser Liste. Die Briten haben sich hier klanglich noch nicht komplett gefunden und sind gerade erst soweit, ihrem klassischen House-Sound ein paar deftige Punk- und Metal-Einflüsse beizubringen. Mit No Good (Start the Dance), Voodoo People und Break & Enter sind hier aber einige ihrer ersten Highlights dabei und trotz etwas klumpiger Produktion und weniger Hit-Momenten macht Jilted Generation jede Menge Spaß und ist immerhin ziemlich konsistent.

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Zum Ausprobieren: Für Fortgeschrittene und Abenteuerlustige

Live - World's On Fire
Vertigo/Capitol, 2011
Den wesentlichen Teil ihres guten Rufes nach ihrem Comeback haben the Prodigy sicherlich als famose Liveband erlangt, die seit einer Dekade unermüdlich auf sämtlichen Festivals der Welt absahnt. Ihr einziges richtiges Konzertalbum World's On Fire ist trotzdem eher optionales Bonusmaterial für echte Fans, die es ganz genau wissen wollen. Vor allem liegt das daran, dass die Songs der Band, hier im wesentlichen von Invaders Must Die, live nur marginal variiert werden, was bei elektronischer Musik ja auch in der Natur der Sache liegt. Im echten Leben sicherlich total super, auf Platte einfach ein bisschen unnötig.




Experience
XL Recordings, 1992
Zum Zeitpunkt seines Erscheinens mag das Debüt des Quartetts aus Essex vielleicht etwas besonderes gewesen sein, aus heutiger Sicht zeigt es jedoch lediglich, wie the Prodigy ohne den Großteil ihres genialen Crossover-Arsenals klingen würden. Experience ist als Erstling noch komplett im klassischen House verwurzelt und hat dabei zwar viele Breakbeats am Start, diese sind aber eher ziemlich anstrengend als energisch. Mit Wind It Up und Out of Space gibt es hier durchaus ein paar frühe Höhepunkte, ein empfehlenswertes Album mit dem tollen Flow späterer Werke machen die Briten hier aber noch nicht. Ist ja auch noch kein Meister vom Himmel gefallen.

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Zum Angeben: Nerdige Extras

What Evil Lurks (EP)
XL Recordings, 1991
Es ist absolut kein Muss, diese erste XL-EP von the Prodigy auf dem Schirm zu haben, ein kurzer Ausflug in die Kinderstube ihres Stils lohnt sich aber definitiv. Denn neben einer ersten Version ihrer Debütsingle Everybody in the Place hört man hier vor allem die kompositorisch noch recht groben Grundlagen des howlett'schen Sounds, was tatsächlich ein bisschen witzig ist. Mit vier rudimentären House-Nummern, die noch recht wenig von der gefährlichen Aura späterer Releases haben, backen the Prodigy hier aber zumindest den Teig für ihre späteren Entwicklungen. Klanglich auf jeden Fall ein spannendes Hintergrunddokument.

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Zum Fürchten: Missgeschicke und Totalausfälle

Always Outnumbered, Never Outgunned
XL Recordings, 2004
Es hat einen Grund, warum the Prodigy zwei Anläufe brauchten, um ein gescheites Comeback anzuleiern, und diese LP ist der verkackte erste Versuch. Gänzlich von Liam Howlett als Soloprojekt verwirklicht und mit prominenten Gastmusikern (Kool Keith, Liam Gallager) bestückt, ist sie zwar kein Schandfleck im Prodigy-Katalog, aber doch ein deutliches Formtief. Der typische Prodigy-Stil wird hier einfach etwas zu chaotisch und zu unmotivert abgehustet und lässt vor allem die geniale Kohärenz früherer Platten vermissen. Mit Wake Up Call und You'll Be Under My Wheels gibt es zwei passable Tracks, für viel mehr reicht es aber nicht. Keine totale Katastrophe, aber auch nicht notwendig, um diese Band zu verstehen.



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