Montag, 13. Dezember 2021

Saisonrückblick 2021 : Teil 3 : Vermischtes


























▶ PERSÖNLICHKEIT DES JAHRES
LIL NAS X
Es ist nicht nur die Tatsache, dass wir als Menschheit mit Lil Nas X einen weiteren sehr erfolgreichen queeren Rapper bekommen haben, der allein dadurch die Welt des Hiphop (und ja irgendwie auch die der Popmusik an sich) ein kleines bisschen besser macht, es ist vor allem die Art und Weise, wie er mit der Kritik umgeht, die ihm deshalb entgegenschlägt. Als verschlagener Digital Native, der durch das virale Old Town Road vor zwei Jahren bereits ein bisschen Celebrity-Erfahrungen hat, reagiert er auf Hassbotschaften und konservativen Bullshit angenehm souverän und nicht selten sogar richtig witzig. Womit er zeigt, dass es auch Wege des effektiven Kontertrollings gibt, die mehr können als nur Melden und Blockeren und dadurch auch ein schillerndes Beispiel für den Umgang mit Hate Speech und regressiver Internetkultur ist, dem in Zukunft hoffentlich noch viele folgen können.


▶ ARSCH DES JAHRES
SAMRA
Missbrauchsvorwürfe gegenüber etablierten Künstler*innnen und Akteur*innen im Musikbusiness sind ja in den letzten Jahren auch in Deutschland eine ziemlich häufige Realität geworden und dass es diese Saison auch im Deutschrap (in diesem Fall repräsentiert durch den Skandal um Samra) passierte, war ja irgendwie nur eine Frage der Zeit. Und wo der Rapper an sich auf jeden Fall verurteilenswert ist und sich auch im Ablauf der öffentlichen Debatte denkbar bescheuert verhielt, gilt mein Zorn an dieser Stelle mindestens genauso einer gesamten Szene (inklusive nicht weniger Prominenter Musiker*innen), die sich hinter den Berliner stellten und zeigten, wie eklig regressiv das Hiphop-Business hierzulande leider noch immer ist. Einzige positive Nachricht in der Hinsicht: Samras neues Album war zum Glück richtig schlecht.
 
 
 
▶ ARBEITSTIER DES JAHRES
THE ALCHEMIST
Schon mit dem Pensum, das der Kalifornier die gesamten letzten Jahre über auffuhr, war irgendwann mit sowas zu rechnen, doch 2021 war definitiv die Saison, in der Alan Daniel Maman alias the Alchemist als Künstler über sich selbst hinaus wuchs. Sowohl qualitativ als auch quantitativ. Neben einer neuen LP für seinen Solokatalog arbeitete er in dieser Saison sowohl als vollumfänglicher Produktionspartner von Armand Hammer als auch von Boldy James, veröffentlichte darüber hinaus einen Filmsoundtrack, mehrere EPs und hat nebenbei ja immer noch sein ALC-Label an der Backe. Und was dabei am coolsten war: Fast alle der eben genannten Platten sind auch noch richtig gut geworden.



▶ PECHVOGEL DES JAHRES
LITTLE SIMZ
Die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller Musikmedien des Planeten verdient Little Simz in meinen Augen ja schon seit ihrem Debüt, meistens war aber irgendein Blödsinn daran schuld, dass das nicht der Fall war. Doch nachdem sie von dämlichen Labels, die ihr Albumrelease in den späten Dezember verlegten bis zu Hindernissen in Verbindung mit Corona nun schon einiges durch hatte, sahen die Vorzeichen für ihre diesjährige LP Sometimes I Might Be Introvert eigentlich perfekt aus: Das Internet und die Presse waren erstmals so richtig auf ihrer Seite und mit einem VÖ-Datum Anfang September stand sie mit ihrer Platte direkt am Anfang des traditionell quotenstarken Musikherbstes. Bis eine Woche vorher ausgerechnet Drake sein neues Album direkt für den gleichen Tag ankündigte und von diesem Punkt an natürlich alle nur noch über ihn redeten. Was zum Glück nichts daran änderte, dass Simz die besseren Kritiken bekam, der Star war sie aber nicht mehr. Und gerade das hätte sie nach all dem Struggle eigentlich mal verdient gehabt.



▶ REDEMPTION ARK DES JAHRES
LAMBCHOP
Das hier ist auf jeden Fall eine sehr subjektive Einschätzung der Dinge, aber wie geil ist es bitte, dass Showtunes so ein fantastisches Album geworden ist? Bereits seit ich die Musik von Lambchop höre (was inzwischen echt schon eine Weile ist), ließ sich ja erahnen, dass so eine Platte irgendwie in ihnen steckt und sie prinzipiell das Zeug dazu haben, realisiert wurde dieses Potenzial aber lange nicht. Über die gesamten Zwotausendzehner hinweg war der Output der Gruppe zwar immens kreativ und ambitioniert, immer jedoch verhoben sie sich dabei an irgendwas, was ihre Alben schlussendlich eher potenziell gut machte statt effektiv. Dieses Jahr jedoch funktionierte die Formel für mich endlich mal so richtig und ich bekam nicht nur eine LP, die mich befriedigte, sondern meine Erwartungen sogar noch übertraf. Was mich persönlich für all den Struggle der letzten Dekade komplett entschädigt hat.



▶ BAND, ZUR DER ICH DIESES JAHR LATE TO THE PARTY WAR
BLACK DRESSES
Ich kann es mir ja durchaus verzeihen, dass ich Black Dresses noch nicht vor zwei Jahren hörte, als sie gerade erst aus dem Hyperpop-Bandcamp-Kuriositätenzirkus entstiegen, dem sie entstammen und die ersten Nerds sich an ihre Versen hefteten, spätestens 2020 hätte ich aber auf den Trichter kommen sollen, dass diese Band richtig gut ist. Ihr Durchbruchsalbum Peacefull As Hell hörte ich vergangene Saison wegen des coolen Artworks ja sogar einmal durch, war davon aber ursprünglich doch nicht so begeistert. Eine grobe Fehleinschätzung, wie ich inzwischen sagen kann und eine, die nur wenig damit auszugleichen ist, wie fantastisch ich dieses Jahr Forever in Your Heart finde. Aber wenigstens ist es überhaupt noch passiert.



▶ NERVENSÄGEN DES JAHRES
KING GIZZARD & THE LIZARD WIZARD
Lange hat es gedauert, aber 2021 ist mein Geduldsfaden mit den ewig emsigen Australiern das erste Mal nachhaltig geschädigt worden. Ganz einfach, weil irgendwann einfach zu viel des guten war. Die zwei Alben, die von ihnen im Laufe dieser Saison erschienen, waren dabei ja nicht mal unbedingt totaler Müll, fügten allerdings wenig zu dem hinzu, was wir schon von gefühlt zehn Dutzend anderen Platten aus den letzten Jahren kannten und lutschen beständige Konzepte höchstens noch weiter aus. Nach aktuellem Stand bin ich gegenüber ihnen also so skeptisch wie eigentlich noch nie und blicke besorgt auf ein weiteres Musikjahr, das sie höchstwahrscheinlich mit neuem Material zuballern.



▶ PRODUZENT DES JAHRES
THE ALCHEMIST
Was ich ein Stück weiter oben über die quantitative Fleißleistung von Alan Maman geschrieben habe, gilt doppelt und dreifach für die Qualität seiner Arbeit in dieser Saison. Zwar ist es nun wirklich keine besonders heiße Neuigkeit, dass der Kalifornier schon lange einer der besten seines Fachs ist und die Anerkennung, die er bekommt, ebenso für ihn spricht wie sein voller Releasekalender mit zahlreichen Promis. Trotzdem will ich an dieser Stelle nochmal extra hervorheben, was wir an diesem Typen haben. Nicht das erste Mal und bestimmt nicht das letzte Mal.
 
 
 
▶ NEWCOMER DES JAHRES
파란노을 / PARANNOUL
Es ist ein bisschen seltsam, 2021 ausgerechnet eine Rockband in dieser Rubrik aufzuführen, die Zahlen sprechen bei Parannoul aber für sich. Quasi seit dem Release ihres zweiten Albums To See the Next Part of the Dream im Februar dieses Jahres führte ebendiese Platte fast das ganze Jahr die Download-Charts bei Bandcamp an und schon nach wenigen Monaten war der Hypetrain bei den Internet-Nerds so groß, dass sie nicht mehr zu ignorieren waren. Und wieso auch, schließlich ist ihr leidenschaftlich-DIY-schwitzender Emo-Shoegaze-Indierock ein echter Hingucker und besticht gerade durch seine rumpelige Imperfektion noch zehn mal mehr. Dass wir es hier mit den neuen American Football zu tun haben, bezweifle ich dabei zwar, dennoch gönne ich den Jungs definitiv ihren Moment. Gerade auch weil sie bei alledem ein bisschen anachronistisch sind.



▶ UNVERDIENTESTER HYPE
BLACK MIDI / BLACK COUNTRY, NEW ROAD
An sich finde ich es ja auch cool, dass es gerade wieder so ein eng verzahntes Konglomerat aus experimentellen Indiebands gibt, das es schafft, im Internet richtig auf die Kacke zu hauen und bei vielen Nerds für feuchte Hände zu sorgen. Und ja, auch ich war in den letzten paar Jahren sehr gespannt, wohin sich der Dunstkreis um das Brixtoner Windmill-Kollektiv (das neben den beiden großen Hengsten Black Midi und Black Country, New Road auch Acts wie Shame, Squid und Sorry mit einschließt) künstlerisch wohl bewegen würde. 2021 war mit den offiziellen Debüts zweier dieser Bands und wichtigen Anschlussplatten zweier anderer nun sowas wie das Schicksalsjahr der Bewegung, wobei die Sache für mich am Ende halb so heiß gegessen wurde, wie viele im Internet sie kochten. Von den vier erschienenen Alben gab es lediglich eine (nämlich die von Squid), die mir wirklich imponierte, vom großen Rest war ich ernüchtert bis enttäuscht. Was aber egal ist, denn überall sonst waren ebendiese vieldiskutierte Highlights, die in ein paar Wochen wahrscheinlich in vielen Jahresendlisten auftauchen werden. Spoiler von meiner Seite: bei mir ist keine dabei. Und das ist auch gut so.



▶ POSITIVE ÜBERRASCHUNG DES JAHRES
WILLOW SMITH
Es ist sicherlich kein allzu abwegiges Vorurteil, sich die Kinder von Will Smith als privilegierte und pretenziöse WichtigtuerInnen vorzustellen, die ihren künstlerischen Erfolg mit goldenen Löffeln gefressen haben und deshalb vielleich nicht ganz so verdienen wie andere. Und vor 2021 stimmte dieses Voruteil in vielen Fällen ja auch, vor allem in Bezug auf den Erstgeborenen Jaden, der die Welt schon lange mit seinen selbstmitledig-pseudodeepen Hiphop-Projekten nervt. Seine kleine Schwester Willow war dabei zwar schon immer die stilsichere, wenn auch nicht um vieles. Als im Sommer diesen Jahres mit Lately I Feel Everything tatsächlich doch eine verdammt gute Platte von ihr erschien, die mich dann doch sehr schlagartig umdenken ließ, war ich dementsprechend baff. Sicher, das hier war noch immer in höchstem Maße adoleszent und auch nicht gerade subtil in seiner quängeligen Rich Kid-Attitüde, aber ganz gut hören kann man das Ding trotzdem. Und wenn man es mit dem Mist vergleicht, der gerade sonst so im Bereich des edgy Emo-Revivalismus abgeht, war es sogar noch eine der intelligenteren Platten.



▶ ENTTÄUSCHUNG DES JAHRES
DŸSE - WIDERGEBURT
Es wäre ja das eine gewesen, wäre Widergeburt einfach nur ein mieses Album gewesen, das hätte ich sicher ein ganzes Stück besser verkraftet. Was es aber so schlimm und enttäuschend machte, war auch das Zusammenspiel aus der besonderen Rolle, die ihr letzter Longplayer Das Nation für mich hatte und der langen Wartezeit, die zwischen den beiden Platten vergangen ist. Und die Dÿse von 2021 klingen leider nach einer sehr ideenlosen und stumpfen Variante der herrlich eigenwilligen und inspirierenden Rockband, die sie vor sieben Jahren waren und das finde ich extrem schade. Auch weil es jetzt ein bisschen so wirkt, als hätten die beiden Musiker selbst ihre beste Zeit verpasst.



▶ ZU UNRECHT VERHASSTE PLATTE
KINGS OF LEON - WHEN YOU SEE YOURSELF
Ich sehe es ja ein, dass die Kings of Leon 2021 keine wirklich heiße Nummer mehr sind und dass ich sie nach wie vor so toll finde, ist mir selbst manchmal etwas suspekt. Ich kann in dieser Hinsicht auch alle verstehen, denen sie mittlerweile egal sind und die nichts mehr von ihnen wissen sollen. Der unverhohlene Spott, der ihnen für ihre neue Platte dieses Frühjahr entgegegenschlug, ist mir dann aber tatsächlich unbegreiflich und macht mich ehrlich gesagt auch ein bisschen sauer. Objektiv deswegen, weil die Kings of Leon ja nun wirklich niemandem etwas getan haben und einfach nur ihr Ding machen, subjektiv deswegen, weil When You See Yourself in meinen Augen ihre sicherlich beste Platte in den letzten zehn Jahren geworden ist, die tatsächlich mal wieder dazu motiviert, diese Band interessant zu finden. Was mich zu der vorsichtigen Vermutung bringt, dass viele der Leute, die sich darüber beschwert haben, das Ding gar nicht erst richtig angehört haben. Denn ganz ehrlich, wer interessiert sich denn bitte heute noch für die Kings of Leon?


 
▶ EP DES JAHRES
▶ BENNY THE BUTCHER-PYREX PICASSO
Ich verlinke an dieser Stelle am besten einfach meinen Artikel zu dieser Platte, da ich vieles daraus hier wahrscheinlich nur wiederholen würde. 



▶ TEXTPLATTE DES JAHRES
▶ FOR THOSE I LOVE - FOR THOSE I LOVE
Die besondere Vorliebe, die meine Wenigkeit für Platten mit elaborierten lyrisch-narrativen Verquirlungen hat, traf dieses Jahr zum ersten Mal auf die Musik des jungen Iren David Balfe und dessen selbstbetiteltes Debüt unter dem Moniker For Those I Love, das gleichzeitig auch das Prädikat als tragischstes Album der Saison einheimsen dürfte. Denn primärer Dreh- und Angelpunkt der LP ist der Suizid seines Freundes und Bandkollegen Paul Curran, den Balfe hier mit allen Ecken und Kanten verarbeitet. Die Ausführlichkeit und Grantigkeit seiner prosaischen Texte ist dabei gleichzeitig das beste und das schlimmste an dieser Platte, die stellenweise eben auch wirklich emotional fordernd und halskloßig wird. Wobei gerade das auch der Grund ist, warum sie mir sehr schnell extrem ans Herz gewachsen ist.
 
 
 
▶ KONZEPTALBUM DES JAHRES
▶ FOR THOSE I LOVE - FOR THOSE I LOVE
Siehe oben.



▶ AM BESTEN KLINGENDE PLATTE
▶ BLACK DRESSES - FOREVER IN YOUR HEART
Forever in Your Heart ist nicht die Platte mit dem besten Sound in dieser Saison, weil dieser so filigran austariert und hochauflösend wäre, tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Wenige Alben in diesem Jahr klangen so aufgekratzt und kaputt, so rotzverkrustet und zusammengescherbelt wie dieses hier. Die Ästhetik, die Devi McCallon und Ada Rook hier heraufbeschwören, wird bestimmt von digital übersteuerten Instrumentals, einem furchtbar chaotischen Mixing und Gesangstakes, die klingen wie in grobkörnigen Videocalls aufgenommen. Gerade die Tatsache, dass die beiden sich das hier trauen und damit wirklich Geschmacksgrenzen aufbrechen, macht das Ergebnis aber so faszinierend und schlichtweg visionär, selbst im eh schon ziemlich wüsten Bereich des Industrial Noise und Hyperpop, in dem Black Dresses wesentlich agieren. Wobei das Resultat eine Platte der Sorte ist, von der ich in den nächsten Jahren unbedingt noch mehr hören will und bei der ich mir auch irgendwie vorstellen kann, dass es passieren könnte. Denn wenn eine Band für mich nach Zukunft klingt, dann ist das diese hier und wie bereits etabliert habe ich schon reichlich lange gebraucht, um das zu raffen.



▶ SCHLECHTESTES ALBUM DES JAHRES
▶ PAUL McCARTNEY - McCARTNEY III
Ja ich weiß, eigentlich ist McCartney III noch eine Platte aus den letzten Wochen von 2020 und hat sich hier ein bisschen reingeschummelt, doch möchte ich die schier unfassbare Dilletanz dieses Albums doch noch einmal hervorheben, damit auch ja niemand sich falsche Hoffnungen macht. Nicht nur das McCartneys Songwriting hier völliger Schwachsinn wäre (das an sich ist ja leider nichts neues), auch der isolierte, dünne Sound aus dem Studiolockdown des Ex-Beatles geht mir hart an die Substanz und von Sachen wie lyrischen Inhalten oder übergreifenden Gesamteindrücken will ich gar nicht erst anfangen. McCartney III ist ein Album, das uns halbgare Ideen, die Andere selbst als Demotakes so nicht hätten stehen lassen, als künstlerisches Statement verkauft und dabei ausgerechnet einen legendären Komponisten wie ihn tief ins Klo greifen lässt. Zweiter Grund warum diese Platte hier steht: Die in meinen Augen schlimmste LP, die tatsächlich 2021 herauskam, war Hall of Fame von Polo G und die war eigentlich nur ziemlich langweilig. Was letztendlich ja vor allem bedeutet, dass mir die ganz großen Katastrophen diese Saison erspart geblieben sind. Und das ist ja schon eine eher gute Nachricht.



▶ DEBÜT DES JAHRES
▶ BABY KEEM - THE MELODIC BLUE
Auch ich muss mir den Vorwurf gefallen lassen, in meinem Artikel über the Melodic Blue die ganze Zeit über Kendrick Lamar geredet zu haben, was zum Zeitpunkt des Erscheinens ja auch irgendwie naheliegend war. Umso mehr muss ich jetzt aber nochmal die fantastische Arbeit herausstellen, die der eigentlichen Hauptakteur darauf leistet und wie er hier einen wirklich ernstzunehmenden ersten Schritt ins Rap-Haifischbecken macht. Er ist es hier, der die herrlich trockene und rotzige Ästhetik aufbaut, der mit den fetten Onelinern um die Ecke kommt und der die Themen vorgibt, die diesen Longplayer dominieren. Womit er derjenige ist, der den bombastischen Hiphop-Abenteuerspielplatz aufbaut, auf dem sein Cousin sich anschließend ordentlich austobt und seinserseits eine fantastische Performance hinlegt. Es ist dabei zu hoffen, dass Keem sich strukturell noch mehr von seinem Umfeld emanzipiert, was ich aber auch nur deshalb sage, weil ich wirklich der Meinung bin, dass er selbiges an sich gar nicht braucht. Spätestens jetzt, wo er seinen Namen so unmissverständlich in den Ring geworfen hat.



▶ BESTES LIVEALBUM
▶ MR. BUNGLE - THE NIGHT THEY CAME HOME
Mein Erfahrungshorizont mit Mr. Bungle ist zu diesem Zeitpunkt noch immer kein besonders weitreichender und es ist definitiv nicht so, dass ich the Night They Came Home der vielen Songs wegen gut fände, die ich von früher wiedererkenne. Viel eher hat diese LP im Sommer dafür gesorgt, dass ich mich zum ersten Mal wirklich für diese Band begeistern konnte und sie überhaupt so richtig kennen gelernt habe. Wobei ich den ultratrashigen Gen-X-Humor vieler Tracks hier ebenso schätze wie den für eine Live-LP erstaunlich sauberen Sound, der trotzdem unfassbar tight und präsent klingt. Persönliches Highlight: Die selten dumpfbackige Cover-Verballhornung von Won't You Be My Neighbor? als Opener.



▶ MOGELPACKUNG DES JAHRES
▶ ELTON JOHN - THE LOCKDOWN SESSIONS
Mit der Bezeichnung "Sessions" hatte Elton John ja direkt ein bisschen die Erwartungen gedrosselt, dass es sich hier um ein vollwertiges neues Album von ihm handeln würde, dennoch impliziert auch dieses Prädikat eigentlich ein bisschen mehr als das, was die Platte letztendlich geworden ist: Zu mindestens zwei Dritteln besteht diese nämlich aus recycleten Songs, die John schon auf Projekten anderer untergebracht hatte, sowie aus ein paar Remixes und Coverversionen, die ebenfalls nicht wirklich neu sind. Und obwohl das letztliche Ergebnis dafür eigentlich überraschend okay ist, muss ich dem ganzen strukturell gesehen doch ein bisschen vorwerfen, es sich zu leicht gemacht zu haben und mir alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Was ganz einfach unter dem Niveau eines Sir Elton John sein sollte, der sich hier ja trotzdem ein weiteres Mal als Songwriter zeigt, der nach wie vor mit viel Energie und Passion arbeitet.



▶ BESTES TRIBUTE-ALBUM
▶ U-ROY - SOLID GOLD
Wenn man es genau nimmt, dann ist Solid Gold ja eigentlich gar kein richtiges Tribute-Album, weil es als musikalische Basis noch verbliebene Aufnahmen des 2020 verstorbenen Dub-Pioniers U-Roy nutzt und diese lediglich ein bisschen veredelt. Dass sich für diesen letzten Schritt aber dann Leute wie Ziggy Marley, Santigold, Shaggy und Mick Jones von the Clash die Klinke in die Hand geben und darüber hinaus viele Klassiker aus der Reggae-Folklore wie Man Next Door, Trenchtown Rock oder Small Axe interpretiert werden, gibt der ganzen Aktion am Ende doch sehr die Wirkung einer umfassenden Hommage. Und das nicht nur in Form einer Erinnerung an eine der stilprägenden Figuren der Szene, sondern auch als Tribut an die gesamte Reggae-Bewegung und den Einfluss, den sie auf so viele Kulturtechniken der modernen Popmusik hatte. Mit dem netten Bonus, dass es auch noch ein richtig fetziges Album geworden ist.



▶ GRÖßTE WTF-PLATTE
▶ LIMP BIZKIT - STILL SUCKS
Vom Cover der Platte über Fred Dursts dämlichen neuen Look bishin zu den vielen sehr seltsamen Dingen, die hier letztendlich stattfinden, ist Still Sucks von Limp Bizkit, immerhin das erste Album der Band seit zehn Jahren, für mich noch immer ein kolossales Rätsel, dessen wichtigste Frage letztendlich die ist, was sie den Leuten überhaupt bringt. Sicher, der Überraschungseffekt war beim unangekündigten Halloween-Release der LP schon irgendwie da und kurz fand ich die ganze Nummer ja auch selbst witzig, wirklich lange hielt das aber nicht an. Und weil abgesehen von einem billigen Joke so wenig dahinter zu sein scheint, bleibt Still Sucks langfristig eher ein sehr unnötiges Phänomen, von dem weder die Band noch ihre Fans letztendlich besonders viel haben. Außer vielleicht einen weiteren Grund, um Limp Bizkit abgehangen und peinlich zu finden.



▶ SOMMERPLATTE DES JAHRES
▶ LARRY JUNE & CARDÔ - INTO THE LATE NIGHT
Das Release von Into the Late Night lag mit dem 24. September zwar eigentlich schon lange nicht mehr im Sommer und mit gerade Mal sieben Songs in 21 Minuten ist das hier auch kein besonders reichhaltiges Stück Musik. Besagte 21 Minuten lassen dafür aber keine Zweifel aufkommen, dass Larry June und Cardô vibigen Sonnenbank-Flavour 2021 gewonnen haben und Meister ihres Fachs sind. Der softe G-Funk der beiden fluffigen Obermacker klingt wie direkt aus dem Anfang-Neunziger-Snoop-Dogg-Lehrbuch abgeschrieben und dass musikalisch hier kein Finger zu viel gerührt wird, verstärkt nur noch den arschcoolen und sonnigen Eindruck des ganzen. Schade ist am Ende nur, dass wir davon nicht den ganzen Sommer schon was hatten.



▶ PLATTE AUS DEM LETZTEN JAHR, DIE ICH DIESES JAHR ERST ENTDECKT HABE
▶ MOOR MOTHER & BILLY WOODS - BRASS
Es tut mir ja schon weh, Brass nicht noch 2020 angehört zu haben, aber das verdammte Ding kam einfach Mal Heiligabend raus, wo ich ausnahmsweise dann doch Mal was anderes mache als hier Artikel zu verfassen. Hätte ich es da aber auf dem Schirm gehabt, wäre es mit ziemlicher Sicherheit noch in meiner Top 30 gelandet, höchstwahrscheinlich sogar unter den besten zehn. Aber auch ohne diese formelle Einordnung ist diese LP für mich definitiv eines der stärksten Statements im Bereich des jüngeren experimentellen Hiphop, genauso wie ein unbedingtes Highlight in den Diskografien beider beteiligter KünstlerInnen. Eines, von dem ich hoffe, dass ich es auf diesem Weg vielleicht doch noch ein paar mehr Leuten empfehle.
 


▶ DÄMLICHSTE TRENDERSCHEINUNG
▶ FEATURES VON TOTEN RAPPERN
Wer dieses Jahr - vor allem im amerikanischen Hiphop-Kosmos - etwas auf sich hielt und auch das nötige Kleingeld zur Verfügung hatte, pappte seine neue LP nicht nur mit haufenweise trendigen lebenden Rapper*innen zu, sondern zahlte darüber hinaus auch ein wahrscheinlich recht stattliches Sümmchen an Hinterbliebene, um einen seiner Tracks mit einem posthumen Feature von Lil Peep, Juice WRLD oder Pop Smoke zu veredeln. Und wo das anfangs noch irgendwie einen ganz netten Tribute-Gedanken hatte und die entsprechenden Parts auch wirklich pietätvoll ausgewählt wurden, ging die ganze Nummer am Ende doch ziemlich schnell in ein emotionales Ausschlachten über, das nicht selten etwas von ekelhafter Leichenflädderei hatte. Ganz davon abgesehen, dass die wirklich guten Aufnahmen der jeweiligen Verstorbenen anscheinend schon lange aufgebraucht sind und jetzt nur noch der Ramsch verteilt wird. Ein gutes Vermächtnismanagement geht anders.



▶ FETTESTER RAP-BANGER DES JAHRES
▶ BABY KEEM feat. KENDRICK LAMAR - FAMILY TIES
Hätte ich ja auch nicht gedacht, dass jemand die Nummer mit den zappigen Beatswitches nochmal cooler hinbekommt als Travis Scott seinerzeit auf Sicko Mode, aber hier wären wir. Und Family Ties ist dabei nicht nur fetter und bratziger, sondern in vielen Punkten sogar ein bisschen cleverer. Je nach persönlichem Befinden besteht die Nummer aus bis zu drei sehr unterschiedlichen, ineinander verglitchten Einzelparts, wobei schon die beiden ersten aus der Feder von Baby Keem ein fantastisches Gesamtkunstwerk sind, das als krasser Banger eigentlich gereicht hätte. Weil es das aber nicht tut, fällt in der zweiten Hälfte noch ein lyrisch berserkernder Kendrick Lamar über uns her, der Flows und Stimmen switcht, als wäre er eigentlich zu dritt und der hier definitiv eine der besten Strophen des gesamten Jahres einrappt. Und das ist dann nicht nur ein richtig fetziges Brett, sondern nicht weniger als verdammt nochmal Kunst. Wobei das eigentlich schöne ist, dass es in diesem Fall kein Widerspruch ist.



▶ BESTE COVERVERSION DES JAHRES
▶ KING KRULE - IMAGINE (ORIGINAL VON JOHN LENNON)
Was Archy Marshall mit seiner Interpretation des legendären John Lennon-Klassikers diesen Winter leistete, ist mehr als nur eine grundlegend gute Coverversion, sondern für mich tatsächlich nicht weniger als eine kleine Offenbarung. Denn wenn Imagine in meinen Augen vorher eines war, dann das ewig rote Tuch der furchtbaren Neuaufnahmen, an dem sich selbst großartige Musiker*innen regelmäßig die Zähne ausbissen und von dem ich eigentlich glaubte, es könne nicht gut gehen. Marshall schafft es jedoch nicht nur, eine sehr geschmackvolle und unkitschige Variante der Nummer einzuspielen, er wirkt dabei auch noch beeindruckend nonchalant und cool. Was vielleicht daran liegt, dass er dem Song hier mit angenehm wenig Ehrfurcht begegnet und sich traut, das ganze als typisch King-Krule'schen Slackerpop-Moment zu inszenieren. Wobei sich der alte Schinken für mich tatsächlich das erste Mal einigermaßen erfrischend anhört und sogar ein bisschen Spaß macht.



▶ BESTER BEAT
▶ MIGOS - AVALANCHE (PRODUZIERT VON QUAVO & DJ DUREL)
Es ist wahrscheinlich nicht allzu abwegig zu behaupten, dass ohne diesen Beat von DJ Durel, der ja immerhin die Basis der Leadsingle von Culture III war, das Comeback der Migos ein anderes geworden wäre. Denn obwohl auch das fertige Album an vielen Stellen nochmal sehr ähnlich klingt, findet sich hier doch der optimale Prototyp jenes noblen Edeltrap-Sounds, der dieses so besonders machte. Ausgangspunkt ist dabei das Sample einer hornalten Temptations-Nummer, die eigentlich eher nach softem Boombap klingt, Durel vermählt dieses jedoch unfassbar smooth mit den typisch pointierten Trap-Hihats und Triplet Flows der Migos, die ihrerseits großartig performen. Das Ergebnis ist dabei eine Nummer, in der die drei Rapper erstmals ziemlich classy und erwachsen wirken, dabei aber trotzdem noch sie selbst sind. Genau das Wachstum also, das ich bei dieser Band sehen wollte.
 


▶ SONGZEILE DES JAHRES
"BOYKOTT DEM BINÄREN KOMPLOTT" - DRANGSAL in MÄDCHEN SIND DIE SCHÖNSTEN JUNGS



▶ NERVIGSTER SONG DES JAHRES
▶ DANGER DAN - DAS IST ALLES VON DER KUNSTFREIHEIT GEDECKT
Einen schlechtesten Song des Jahres gibt es diesmal nicht, dafür aber einen nervigsten. Wobei das fast noch viel schlimmer ist, gemessen daran wie omnipräsent und ätzend ebendieser 2021 war. Ich habe dabei ja nicht mal ein Problem mit dem Inhalt des Tracks, genausowenig wie mit Danger Dan an sich (der immerhin auch einen meiner Lieblingssongs dieser Saison geschrieben hat), ich finde ihn nur a) von vornherein nicht besonders gut und habe ihn b) einfach hundert Mal zu oft in diesem Jahr gehört. Wobei letzteres vor allem deshalb so tückisch ist, weil das Stück verdammt catchy ist und man ihn einmal irgendwo gedudelt für Wochen nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Und das freut mich irgendwie für Danger Dan, ich für meinen Teil bedaure ein bisschen, dass besungene Kunstfreiheit auch diesen Faktor des Songs beinhaltet.



▶ BESTER POLITISCHER SONG DES JAHRES
▶ DRANGSAL - MÄDCHEN SIND DIE SCHÖNSTEN JUNGS
Mädchen sind die schönsten Jungs ist sicherlich nicht der erste deutschsprachige Trans-Empowerment-Song und vielleicht nicht mal der erfolgreichste, dennoch war es in meinen Augen eine Zäsur, als er im Sommer als Single veröffentlicht wurde und wesentlich mehr war als nur ein weiterer Promotrack des neuen Drangsal-Albums. Vor allem hat dieser Song nämlich das Glück, von einem Max Gruber geschrieben zu sein, der solche Themen eben auch sprachlich sehr spannend anpackt und eben nicht nur etwas anspricht, sondern es eben auch poetisch zurechtschnitzen kann. Womit Mädchen sind die schönsten Jungs zwar nichts wirklich neu macht, in meinen Augen aber vieles besser. Und damit vielleicht die Hymne ist, die nonbinäre Menschen deutscher Muttersprache bisher noch nicht hatten.





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